Sicherheitsforscher zu Putins Optionen: «Russland hat die Überlegenheit verloren»
blue News Redaktor Stefan Michel spricht mit dem ETH-Militärexperten Benno Zogg über die Lage in der Ukraine.
04.10.2022
Jeder Eskalationsschritt, den Präsident Putin anordnet, sei eine Folge des Scheiterns der russischen Armee. So erklärt ETH-Sicherheitsforscher Benno Zogg Russlands Vorgehen in der Ukraine.
Erst die Teilmobilmachung, dann die Referenden, gefolgt von den Annexionen – wie interpretieren Sie diese Schritte Präsident Putins beziehungsweise der russischen Armeeführung?
Alle diese Schritte sind durch russische Niederlagen ausgelöst worden. Sie stehen für den verzweifelten Versuch, Gegensteuer zu geben, weil Russland auf dem Schlachtfeld die Initiative völlig verloren hat. Die Teilmobilisierung ist das Bekenntnis, dass die Verluste hoch sind. Die Annexionen kann man nicht einmal so nennen, weil sie nur in einer Parallelrealität stattgefunden haben.
Wie meinen Sie das?
Russland hat Gebiete annektiert, die es nicht kontrolliert. Selbst der Kreml musste zugeben, dass die Grenzen der neuen Gebiete nicht klar seien. Das ist ein typischer Putin'scher Mittelweg, keine klare Aussage. Natürlich droht er damit, dass die russische Armee nun russisches Gebiet verteidige. Dies aber aus einer Position der Schwäche. Da steckt kein klarer Plan dahinter.
Auf dem Schlachtfeld haben diese Schritte bis jetzt keinen Erfolg gebracht. Welchen Verlauf erwarten Sie in den nächsten Wochen?
In den nächsten Wochen und Monaten wird die Ukraine weiter vorrücken. Ihre Verbände halten die russischen Truppen in Bewegung. Das bedeutet, die Russen können keine neue Verteidigungslinie aufbauen. Die Ukraine ist Russland strategisch und taktisch klar überlegen. Die Frage ist nur, wie weit die Ukraine noch kommt, bevor der Winter beginnt.
Welchen Effekt wird die Teilmobilisierung haben, mit der Russland seine Truppenbestände in der Ukraine aufstocken kann?
Die Mobilisierung wird hastig ausgeführt, die Soldaten sind schlecht trainiert und schlecht ausgerüstet. Sie verstärken die Reihen personell, aber die taktischen und strategischen Nachteile machen sie nicht wett.
Wie weit ist Präsident Putin bereit, den Krieg nuklear zu eskalieren?
Es ist leider eine reale Gefahr, dass er diese Option im Zweifelsfall – im Verzweiflungsfall – riskieren könnte. Aber nach wie vor sehen wir keine Zeichen in diese Richtung. Der militärische Nutzen eines Einsatzes wäre sehr zweifelhaft. Die Drohung mit Nuklearwaffen ist die wahre Waffe, fast mehr als der wirkliche Einsatz, und das weiss er.
Was wären die Reaktionen der USA und des Westens und auf der anderen Seite von China und auch von Indien, wenn Russland tatsächlich Nuklearwaffen einsetzen würde?
China, Indien und andere, die Russland noch nicht sehr kritisch gegenüberstehen, würden Russland isolieren wollen, würden nicht mehr zusammenarbeiten können mit einem Land, das unprovoziert Nuklearwaffen einsetzt. Und von amerikanischer Seite ist damit zu rechnen, dass mit konventionellen, nicht nuklearen Waffen, ein massiver Gegenschlag gegen russische Truppen in Russland unternommen würde, um Russland entschieden militärisch zu schwächen. Selbst bei einem russischen Atomwaffeneinsatz würde also wahrscheinlich kein grosser Nuklearkrieg drohen.
Was bedeutet die Rückeroberung der Stadt Lyman in der Ost-Ukraine?
Lyman war für die russischen Truppen strategisch und logistisch wichtig. Dort ist es den ukrainischen Truppen beinahe gelungen, russische Verbände einzukesseln. Das musste sogar der Kreml anerkennen. Bis da hat er Rückzüge immer schöngeredet. In Lyman musste er eine Niederlage einräumen.
Keine der Städte, welche die Ukraine bis jetzt zurückerobert haben, ist für sich allein kriegsentscheidend. Aber jede weitere, die Russland verliert, macht es für dessen Armee schwieriger, Gebiete in der Ukraine zu halten.
Die ukrainische Armee greift immer wieder Nachschubrouten der russischen Verbände an. Wie erfolgreich ist sie damit?
Die russischen Truppen kontrollieren immer noch ein zusammenhängendes Gebiet und sind nirgends komplett von der Versorgung abgeschnitten. Aber die Belieferung der Front wird schwieriger. Dies, weil die US-Artilleriesysteme namens HIMARS eine Reichweite und Präzision haben, welche Russland mit seinen Waffen nicht erreicht. Darum müssen sie ihre Logistikzentren weiter zurückziehen, was die Versorgung massiv erschwert.
Beim Vorstoss auf Cherson und der Sprengung von Brücken über den Dnjepr hiess es, nun seien die kampfstärksten russischen Verbände in Cherson und Mykolajiw eingeschlossen. Wie steht es inzwischen um die Bewegungsfreiheit der russischen Truppen?
Die russischen Einheiten im Gebiet Cherson sind nicht eingeschlossen. Aber sie können nicht mehr einfach über den Dnjepr setzen, weil dies nur noch über schwer beschädigte Brücken oder mit Schiffen möglich ist. Die Versorgung ist viel schwierig geworden. In Cherson könnte der nächste erzwungene Rückzug der russischen Armee erfolgen.
Die Luftwaffe der Ukraine ist im Vergleich zur russischen winzig. Wie konnte sie damit die Luftüberlegenheit gewinnen?
Die ukrainische Luftabwehr hat verhindert, dass Russland seine Überlegenheit in der Luft ausspielen konnte. Grosse Systeme wie die S-300 und kleine, tragbare Luftabwehr sind für tieffliegende Flugzeuge an der Front tödlich. Auf einer Luftwaffenbasis auf der Krim haben die Ukrainer eine grosse Zahl Flugzeuge gar am Boden zerstört. Russland traut sich kaum noch, seine Kampfjets einzusetzen. Stattdessen setzt sie seit Langem auf ihre unpräzise Artillerie und lässt Flugzeuge aus grosser Entfernung Raketen auf die Ukraine abschiessen.
Mit Lyman hat die Ukraine eine Stadt erobert, die nach Lesart des Kreml zu Russland gehört. Die befürchtete massive Reaktion ist aber ausgeblieben. Was schliessen Sie daraus?
Alle Kampfhandlungen finden in Gebieten statt, welche Russland annektiert haben will. Das zeigt, dass die Annexionen reine Theorie waren. Natürlich steht die nukleare Drohung im Raum. Nun zeigt sich, dass das kein Automatismus ist. Mit Belgorod wurde ja vor Monaten sogar eine Stadt in Russland selbst angegriffen. Trotzdem hat Putin keine Atomwaffen eingesetzt.
Russland kann noch sehr lange weitere Männer an die Front schicken. Das Problem ist deren Ausrüstung. Was können Sie darüber sagen?
Im besten Fall hätte Russland trainiertes Personal, welches mehr Rotation der Kräfte an der Front ermöglicht. Aber die Zwangsmobilisierten werden nicht mit grosser Kampfmoral im Einsatz stehen, im Gegenteil, die können diese sogar schwächen. Und die Teilmobilisierung verstärkt in Russland die Spannungen. Wir haben gesehen, dass es Proteste und Anschläge auf Rekrutierungszentren gegeben hat.
Vielleicht gelingt es Putin bis im Frühling, gewisse neue kampfstarke Einheiten aufzustellen. Vielleicht ist eine russische Offensive bis dann aber gar nicht mehr möglich.
Bedeutet das, dass bis im nächsten Frühling nichts mehr von der russischen Armee zu erwarten ist?
Gegen Herbst und Winter wird das Vorankommen schwieriger, auch für die Ukraine. Die Truppen Kiews versuchen vor dem Winter noch möglichst viel Gebiet zurückzuerobern.
Und Russland kann nicht dagegenhalten?
Russland hat weder die Truppen noch die Strategie noch den Zusammenhalt, um den ukrainischen Angriffen standzuhalten. Auch in der Armeeführung werden Gräben offensichtlich, wenn der Tschetschenenführer Kadyrow und der Chef der Wagner-Söldnertruppe die Strategie der russischen Armee kritisieren.
Der Erfolg der ukrainischen Armee hängt auch von westlichen Waffenlieferungen ab. Könnte es so weit kommen, dass der Westen nicht mehr liefern kann, weil seine eigenen Bestände zur Neige gehen?
Wie lange der Westen die Ukraine mit Waffen beliefert, ist eine vornehmlich politische Entscheidung. Die Bestände und die Produktion im Westen sind gross genug. Es ist im besten Interesse der NATO, die Ukraine zu stärken, damit sie vorrücken kann, selbst wenn vorübergehend die eigenen Arsenale von NATO-Armeen nicht optimal gefüllt wären. Das Potenzial der Waffenlieferungen dürfte noch lange nicht ausgeschöpft sein. Für die Ukraine ist der Nachschub aus dem Westen entscheidend, um sich zu verteidigen.
Gibt es irgendeine Chance auf eine Verhandlungslösung?
Derzeit nicht. Putin hat den Einsatz erhöht und zeigt sich noch martialischer. Die Ukraine hat kein Interesse, jetzt ihre Hoffnungen in irgendeine Übereinkunft mit ihm zu setzen, während man ja weiter Gebiete befreit. Ich kann mir aber vorstellen, dass Moskau noch dieses Jahr lokale Waffenstillstände anbieten könnte, mit dem Ziel, Zeit zu gewinnen, die Koalition hinter der Ukraine zu spalten. Aber da steckt kein Wille zu einer echten Verhandlungslösung dahinter.
Die letzten Wochen haben erneut gezeigt, wie kompromisslos Russland kämpft und wie Putin sich sieht. Es bräuchte einen freiwilligen Rückzug Russlands aus der Ukraine, keinen erzwungenen, damit sich daran etwas ändert. Ich kann mir keinen Kompromiss vorstellen, solange Putin an der Macht ist.