Putin ist 70 Darum wurde aus dem kleinen Spion ein grössenwahnsinniger Kriegsverbrecher

Von Philipp Dahm

7.10.2022

Warum ist Wladimir Putin so geworden, wie er ist? Der Knackpunkt ist eine Nacht in Dresden am 5. Dezember 1989: Vom Agenten arbeitet er sich zum Präsidenten hoch, um eine Wiederholung jener Ereignisse zu verhindern.

Von Philipp Dahm

Der Winter 1989 muss Wladimir Wladimirowitsch Putin besonders düster vorkommen. Glasnost und Perestroika weichen die Sowjetunion, seine Heimat, auf. Als am 9. November in Berlin die Mauer fällt, erlebt Putin den Zusammenbruch des Systems in Dresden mit.

Seit gut vier Jahren arbeitet der damals 37-Jährige schon als KGB-Agent in der DDR. Ein Job, auf den er seit seiner Jugend hingearbeitet hat (siehe obenstehende Bildergalerie). «Er war ein sehr ruhiger Mensch, der sich jedes Wort überlegt hat», wird sich später Schweisser Bernd Naumann  in der «Süddeutschen Zeitung» erinnern.

Zwischen 1985 und 1989 besitzt Wladimir Putin auch einen Dienstausweis des Ministeriums für Staatssicherheit («Stasi») der DDR. Sein Geburtsdatum ist fälschlicherweise mit 9. Oktober 1952 angegeben.
Zwischen 1985 und 1989 besitzt Wladimir Putin auch einen Dienstausweis des Ministeriums für Staatssicherheit («Stasi») der DDR. Sein Geburtsdatum ist fälschlicherweise mit 9. Oktober 1952 angegeben.
Ministerium für Staatssicherheit der DDR/Gemeinfrei

Der Deutsche lernt Putin kennen, als er für die Russen arbeitet. Die beiden gehen nördlich von Dresden angeln, besuchen das russische Kaufhaus oder die Kneipe «Am Thor». Der KGB-Mann ist keiner, der gern die Kontrolle verliert: «Putin war sehr zurückhaltend mit dem Alkohol», weiss Naumann zu berichten.

Auch Dresden, wo Putins zweite Tochter Katerina geboren wird, wird nach Berlin vom Rausch der Revolution erfasst. Zunächst spült diese Welle am 5. Dezember die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit hinweg: Ohne Gewalt verhindert das Volk, dass Stasi-Agent*innen weiter Akten vernichten.

Die prägende Nacht in Dresden

Den KGB-Kollegen um die Ecke geht es nicht anders. In der Angelikastrasse 4 in rund drei Minuten Lauf-Entfernung verbrennen sie Akten. «Um das Leben der Menschen zu retten, deren Akten auf meinem Schreibtisch lagen», sagt Putin.

Die Aussenstelle versucht, die Rote Armee zu Hilfe zu rufen. Die will aber nur in Abstimmung mit Moskau ausrücken – und der Kreml antwortet nicht. «Wir waren ernsthaft bedroht», schreibt der spätere Präsident in seiner Autobiografie. «Aber uns würde niemand schützen.»

Die frühere KGB-Zentrale in der Angelikastrasse 4 in Dresden auf einem Foto vom 24. März 2022.
Die frühere KGB-Zentrale in der Angelikastrasse 4 in Dresden auf einem Foto vom 24. März 2022.
AFP

Als wütende Deutsche vom Stasi-Hauptquartier zum KGB-Gebäude ziehen, stellen sich Putin und ein Soldat der Menge. Dass er zum Geheimdienst gehört, verschweigt der St. Petersburger geflissentlich. «Ich sagte, ich sei der Dolmetscher», erklärt er später.

Es gelingt ihm, den Mob davon abzubringen, das Gelände zu stürmen. Es gibt Berichte, laut denen Putin mit der Waffe in der Hand gedroht hatte, jeden zu erschiessen, der das russische Territorium betrete. Als schliesslich doch sowjetisches Militär eintrifft, löst sich die Menschenmenge auf.

Aufstieg im russischem Niedergang

Im Frühjahr 1990 wird Putin zurück in die Heimat berufen, um im folgenden Jahrzehnt deren politischen und gesellschaftlichen Niedergang mitansehen zum müssen: Die Auflösung der Sowjetunion am 26. Dezember 1991 nennt er eine «humanitäre Tragödie» und «eines der grössten geopolitischen Desaster des 20. Jahrhunderts».

In seiner Geburtsstadt St. Petersburg ist sein früherer Professor Anatoli Sobtschak Bürgermeister – und der macht Putin zum Leiter des städtischen Komitees für Aussenbeziehungen. Eine Funktion, in der der nur 1,70 Meter grosse Mann Gelder zurück nach Russland transferieren soll. Schon 1992 wird er Vizebürgermeister.

Bürgermeister Anatoli Sobtschak und Wladimir Putin 1994 in St. Petersburg.
Bürgermeister Anatoli Sobtschak und Wladimir Putin 1994 in St. Petersburg.
Keystone

1996 wechselt Putin nach Moskau und führt die Liegenschaftsverwaltung des Kremls. Er rast durch die Instanzen: 1997 wird er stellvertretender Kanzleileiter des Präsidenten Boris Jelzin, 1998 wird er stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung und Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB. 1999 ist er bereits Premierminister.

Russlands Präsident Boris Jelzin (rechts) ernennt Wladimir Putin am 9. August 1999 zum Premierminister. Am 16. August bestätigt die Duma ihn knapp im Amt. Das Bild zeigt die beiden Politiker am 14. November 1999 in Moskau.
Russlands Präsident Boris Jelzin (rechts) ernennt Wladimir Putin am 9. August 1999 zum Premierminister. Am 16. August bestätigt die Duma ihn knapp im Amt. Das Bild zeigt die beiden Politiker am 14. November 1999 in Moskau.
KEYSTONE

Der in Russland höchst unpopuläre Jelzin wirft am 31. Dezember 1999 den Bettel hin. Putin übernimmt provisorisch das Amt – und entscheidet die Wahlen für die Jelzin-Nachfolge im Jahr 2000 mit 52,9 Prozent für sich. Es ist ein Amt, das er bis heute nur einmal loslassen wird, um seinen Gefolgsmann Dmitri Medwedew dort zu installieren, bis er sich selber wieder zum Präsidenten wählen lässt.

Putin bombt sich in die Herzen der Wähler

Warum gewinnt Putin die Präsidentschaftswahl? Sein Image ist vor allem von zwei Ereignissen geprägt: Nach dem gewonnenen Dagestankrieg marschiert die russische Armee am 1. Oktober 1999 erneut in Tschetschenien ein. Mit hartem Vorgehen will Premier Putin die Schmach aus dem verlorenen Ersten Tschetschenienkrieg zwischen 1994 und 1996 vergessen machen. Das kommt beim Wahlvolk an.

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Möglich gemacht wird die Invasion Tschetscheniens durch eine Serie von Bombenattentaten auf russische Wohnhäuser, die 367 Menschen tötet und über 1000 verletzt. Der Kreml identifiziert tschetschenische Terroristen hinter den Anschlägen und rechtfertigt damit den Bruch des Friedensvertrages mit der Teilrepublik der Russischen Föderation.

Heute wird davon ausgegangen, dass der Inlandgeheimdienst FSB die Attentate inszeniert hat. Boris Jelzin ist im Sommer 1999 mit einer Zustimmung von 2 Prozent niemand, der Putin ein attraktives Empfehlungsschreiben für das Präsidentenamt ausstellen kann. Die Bombenattentate und Putins energische Reaktion wenden jedoch das Blatt – siehe obenstehendes «Business Insider»-Video mit dem US-Historiker David Satter.

Premier Putin am 6. Oktober 1999.
Premier Putin am 6. Oktober 1999.
KEYSTONE

Putin nutzt vor der Präsidentenwahl Taktiken, die wir heute wieder erkennen. Er bedient sich geheimdienstlicher Mittel, um die breite Öffentlichkeit zu täuschen. Gleichzeitig lenkt er die Aufmerksamkeit auf Nebenkriegsschauplätze und macht Minderheiten zum Sündenbock, um zu verhindern, dass sich die Wut über die allgemeine Korruption Bahn bricht.

Putins System: Mal lukrativ, mal knüppelhart

Apropos: Mit den Oligarchen schliesst Putin nach seiner Wahl einen Pakt. Solange diese sich nicht gegen das System stellen, dürfen sie Kasse machen. Diese Bonzen reissen sich funktionierende staatliche Firmen aus der Sowjetzeit unter den Nagel, kaufen günstig Lizenzen für den Rohstoff-Abbau und schliessen lukrative Verträge mit dem Staat ab, die sie den Beamten wiederum unter der Hand entgelten.

Putin besucht als Präsident in spe am 6. April 2000 die russische Nordflotte in der Barentssee.
Putin besucht als Präsident in spe am 6. April 2000 die russische Nordflotte in der Barentssee.
AFP via Getty Images

Putin zementiert derweil seine Macht, indem er den Föderalismus zurückdrängt und den Staat zentraler organisiert. Einen weiteren Zerfall Russlands darf es nicht geben. Der Militärhaushalt wird nach seiner Wahl um 50 Prozent angehoben, wichtige Rüstungsbetriebe werden erneut verstaatlicht. 2001 gründet er seine Haus- und Hof-Partei Einiges Russland.

Als nach zwei Amtszeiten 2008 Schluss mit dem Präsidieren ist, übernimmt Putins alter Freund Dmitri Medwedew – und hält ihm den Platz vier Jahre frei, in denen plötzlich der Premierminister mehr Macht als der Präsident hat. Und der heisst natürlich Putin. Der lässt die Zeit nicht ungenutzt verstreichen, lässt die Verfassung ändern und kann sich deshalb 2012 erneut zum Kreml-Chef krönen lassen – fortan für sechs statt vier Jahre.

2007 erklärt «Time» ihn zur «Person of the Year». Das Bild des britischen Fotografen Platon wird bestes Porträt beim Wettbewerb World Press Photo.
2007 erklärt «Time» ihn zur «Person of the Year». Das Bild des britischen Fotografen Platon wird bestes Porträt beim Wettbewerb World Press Photo.
Gemeinfrei

Wegen mutmasslicher Wahlfälschung kommt es in Russland zu Protesten, bei denen es – wahrscheinlich angeheizt durch Provokateure – zu Ausschreitungen kommt, die brutal niedergeknüppelt werden. Gegner Putins werden in Schauprozessen zu Haft und Lagerarbeit verurteilt. Der Präsident zieht die Zügel an und geht auch im Ausland immer härter gegen Kritiker vor.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Im Westen dämmert es manchem, dass mit dem neuen, alten Kreml-Herrscher nicht gut Kirschen essen ist. Zuletzt hat Putin immer wieder gegen die Nato-Erweiterung gewettert. «Die Politik einer Annäherung an Europa, die in den 90er Jahren in West und Ost – wenn auch halbherzig – noch verfolgt wurde, ist längst vergessen», attestiert die «Zeit» 2013 dem russischen Präsidenten.

Putin zerschneidet das Tischtuch 2014, als er in asymmetrischer Kriegsführung die Krim besetzt und annektiert. Es folgen Sanktionen und die russische Wirtschaft schmiert ab, doch der Kreml-Chef kann die Schuld für die sich verschlechternden Lebensbedingungen bequem auf den äusseren Feind im Westen schieben, während er im Inneren die Organisation weiter auf sich zuschneidet und strafft.

2015 greift Putin in den Syrischen Bürgerkrieg ein und stützt das Regime von Präsident Baschir al-Assad, wo sich seine Truppen vor allem durch Attacken auf Zivilisten und Kriegsverbrechen hervortun. Wer Moskau widerspricht, zahlt dafür den Preis. Im März 2017 wird der kritische Journalist Nikolai Andruschtschenko zu Tode geprügelt.

Am 10. Dezember 2019 begegnen sich Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin in Paris zum ersten Mal persönlich.

Ein Jahr später entkommt der Doppelagent Sergei Skripal in London nur knapp einem Mordanschlag mit einem Nervengift. Ähnlich ergeht es Alexei Nawalny, der im August 2020 dem Tod knapp entkommt. Der Oppositionelle hat sich auch deshalb zu Putins Erzfeind gemacht, weil er dessen massive Korruption sichtbar macht.

Dass Putin am 24. Februar 2022 auch noch in die Ukraine einfällt, war – im Nachhinein – vorauszusehen. Wirklich büssen musste Russland für die Annexion der Krim nicht, Putins autokratischer Führungsstil bleibt weitgehend folgenlos. Europa hat seine Abhängigkeit von russischer Energie im Anschluss nicht gesenkt, sondern erhöht.

Plötzlich in Zugzwang

Der Kampfsport-Fan hat offenbar nicht damit gerechnet, dass sein Krieg den Widerstand in den USA und in Europa stärkt und eint, statt einen Keil in die Gemeinschaft zu treiben. Zum ersten Mal in über 20 Jahren scheint seine Regentschaft so etwas wie gefährdet zu sein, nachdem die Offensive in der Ukraine mehr und mehr zum Rohrkrepierer wird.

Ein Bericht über die russischen Silowiki von «Kaspian Report».

In den letzten drei Jahrzehnten hat Wladimir Putin mit seinem Konzept Erfolg gehabt. Ein System aus Oligarchen und Silowiki, wie sein innerster Kreis heisst, bilden eine politische Kaste, die sich bereichert und gegenseitig schützt.

Der Zerfall der Sowjetunion und die Prägung durch den KGB haben Putin zu dem gemacht, was er heute ist. An der Macht hält sich der frühere Geheimagent mit einem zentralisierten Staat und dem dazugehörigen Sicherheitsapparat. Seine Politik ist bestimmt von einem religiösen Nationalismus und der Idee des sowjetischen Kolonialismus.

Siegesparade: Der frisch gebackene Präsident Wladimir Putin und sein Verteidigungsminister Igor Sergejew am 9. Mai 2000 in Moskau.
Siegesparade: Der frisch gebackene Präsident Wladimir Putin und sein Verteidigungsminister Igor Sergejew am 9. Mai 2000 in Moskau.
KEYSTONE

Am 7. Oktober 2022, seinem 70. Geburtstag, sieht Wladimir Wladimirowitsch Putin sein von ihm erschaffenes System vor die Hunde gehen. Seine politische Situation war wohl noch nie so bedrängt wie heute. Dass er deswegen mit einem Atomschlag riskiert, sein eigenes Vermögen, seine Familie und seine Kamarilla auszulöschen, muss bezweifelt werden.

Sein unbedingter Wille zur Macht und seine Grausamkeit, die sich in den Taten seiner Truppen widerspiegeln, sind gleichzeitig unbestritten.

Gratulieren kann man an diesem 7. Oktober 2022 nicht.

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