Prognose von Moderna-Chef Ist die Corona-Pandemie wirklich in einem Jahr vorbei? 

Von Julian Weinberger

23.9.2021

In Dänemark jubelten Fussball-Fans bereits bei der Fussball-EM ohne Maske und Abstand. Mittlerweile ist das Land in der Normalität angekommen.
In Dänemark jubelten Fussball-Fans bereits bei der Fussball-EM ohne Maske und Abstand. Mittlerweile ist das Land in der Normalität angekommen.
Bild: EPA/Mads Claus Rasmussen

Der Moderna-Chef Stéphane Bancel prognostiziert ein Ende der Corona-Pandemie in einem Jahr. Wie realistisch ist diese Vorhersage? Was aktuell für und was gegen eine vollkommene Rückkehr zur Normalität spricht.

Von Julian Weinberger

«Die Corona-Pandemie ist vorbei»: Diesen Satz sehnen Menschen auf der ganzen Welt herbei. Laut Moderna-Chef Stéphane Bancel wird eine vollkommene Rückkehr zur Normalität in einem Jahr möglich sein. Stand heute gehe er davon aus, dass in der zweiten Jahreshälfte 2022 die Pandemie überwunden sei, sagte Bancel in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung».

Zur Begründung führte der CEO des Impfstoff-Herstellers unter anderem die erhöhte Produktionskapazität von Vakzinen der vergangenen Monate an. Sie brächten ihn zu dem Ergebnis: «Bis Mitte des nächsten Jahres sollten genügend Dosen vorhanden sein, damit alle auf dieser Erde geimpft werden können.» Impfungen bei Kindern seien zudem bald möglich, dazu käme laut Bancel die natürliche Immunisierung nach Ansteckung mit dem Coronavirus.  



Doch wie realistisch ist ein tatsächliches Ende der Pandemie im kommenden Sommer? Immerhin ist Bancel nicht der erste Experte, der derlei Prognosen aufstellt. Albert Bourla, Chef des Moderna-Konkurrenten Pfizer, hatte etwa im April 2021 vorhergesagt, dass ein «normales Leben» schon diesen Spätherbst wieder möglich sei.

Trotz des aktuellen Corona-Lageberichts des Bundesamts für Gesundheit (BAG), der bei allen relevanten Kennzahlen zur Pandemie einen Abwärtstrend bescheinigt, scheint Bourlas Voraussage nur schwer zu erfüllen zu sein.

Eine Impfquote von 80 Prozent ist das Ziel

Die Prognose von Stéphane Bancel deckt sich schon eher mit der Meinung anderer Experten. Der deutsche Virologe Klaus Stöhr rechnete Ende August im Interview mit dem «Münchner Merkur» mit einer «dramatischen Entspannung der Situation» im Frühjahr. Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn schloss sich dem kürzlich an: Die Herdenimmunität durch Impfungen und Ansteckungen werde im Frühjahr die Pandemie endgültig in die Knie zwingen.

Moderna-CEO Stéphane Bancel rechnet mit einem Ende der Corona-Pandemie in der zweiten Jahreshälfte 2022.
Moderna-CEO Stéphane Bancel rechnet mit einem Ende der Corona-Pandemie in der zweiten Jahreshälfte 2022.
Bild: Nancy Lane/MediaNews Group/Boston Herald

Blickt man auf die derzeitige Impfquote in der Schweiz, sind laut BAG knapp 54 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft. Bis zur Herdenimmunität, für die laut Experten eine Impfquote von 80 Prozent und mehr nötig ist, fehlt also noch ein gutes Stück.

Berechnungen der «Neuen Zürcher Zeitung» zufolge könnte die Schweiz diese Schwelle im Januar 2022 nehmen – vorausgesetzt, das aktuelle Impftempo wird beibehalten. Damit wäre man etwas schneller als im Nachbarland Deutschland, wo die 80-Prozent-Hürde im Februar angepeilt wird.

Dänemark zurück in der Normalität

Gespannt dürften zudem die Blicke in Länder wie Dänemark, Grossbritannien und die Niederlande gehen, wo die Pandemie bereits jetzt für beendet erklärt wurde. Seit Anfang September ist in Dänemark die Maskenpflicht aufgehoben, es finden wieder grosse Konzerte statt, selbst ein Covid-Zertifikat ist nicht mehr nötig.

Und von der dänischen Regierung hiess es, Covid-19 sei keine gesellschaftskritische Krankheit mehr. Die Zahlen untermauern einen Abwärtstrend, der auch durch hohe Impfquoten erreicht wurde: Seit Anfang September sank die Sieben-Tage-Inzidenz beständig.



Die Niederlande gehen einen ähnlichen Weg und schaffen ab 25. September den Sicherheitsabstand von 1,5 Metern ab. Dazu wird die Maskenpflicht gelockert, und öffentliche Veranstaltungen wie Fussballspiele und Konzerte dürfen unter Vollast ausgetragen werden.

Trotzdem mahnte Ministerpräsident Mark Rutte bei der Bekanntgabe der neuen Beschlüsse vor einer Woche zur Vorsicht: «Das ist nicht der Tag, an dem alles wieder so sein wird wie vor Corona, dafür gibt es noch zu viele Infektionen und es werden noch zu viele Menschen in Krankenhäuser eingeliefert.»

Covid-Mutationen machen Sorgen

Diese Zurückhaltung kommt nicht von ungefähr. Noch verhindern einige Unwägbarkeiten ein vorzeitiges Ende von Covid-19. Allen voran bedrohen neue Mutationen des Coronavirus die Erfolge im Kampf gegen die Pandemie. Wie radikal eine Virusvariante Prognosen zunichtemachen kann, bewies die hochinfektiöse Delta-Variante.

Inmitten der weitläufigen Lockerungen des Sommers wütete die Mutante in Europa und wurde binnen weniger Wochen zur dominanten Ansteckungsquelle – auch in der Schweiz. Bis zu 60 Prozent mehr Ansteckungsrisiko als die Ursprungsvariante weist die Mutante auf, dazu kamen Zweifel auf, ob die Impfstoffe ausreichend vor Delta schützen.



Immerhin letztere Befürchtung konnte ausgeräumt werden. Die Vakzine gegen das Coronavirus senken das Risiko einer schweren Erkrankung auch dann, wenn eine Infektion mit der Delta-Variante vorliegt. Gleichwohl muss man festhalten, dass Impfstoffe nie zu 100 Prozent schützen, wie Impfdurchbrüche zeigen.

Ist die Mu-Variante resistenter gegen die Impfstoffe?

Noch unklar ist dagegen, welche Charakteristik die Mu-Variante aufweist. Anfang September erreichte die Mutante mit Ursprung in Kolumbien die Schweiz. In Südamerika wurde die Variante, die bisweilen auch mit My bezeichnet wird, erstmals im Januar 2021 festgestellt. Seither ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Anteil «beständig gestiegen».

Grund genug, Mu ernst zu nehmen. Die WHO erklärte die Mutation Anfang September zur «Variante von Interesse». Noch wichtiger war die Einschätzung der WHO, Mu könne möglicherweise besonders resistent gegen Impfstoffe sein. Eine endgültige Aussage darüber könne man aber erst nach weiteren Studien treffen.

«Die Gefährlichkeit lässt sich im Moment nicht abschliessend beurteilen», urteilte der Basler Kantonsarzt Thomas Steffen im Gespräch mit «20 Minuten». «Derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, dass Mu Delta verdrängt», fügte zudem Gregoire Gogniat, Mediensprecher beim BAG, an. Gleichwohl versicherte er, Experten würde die Lage im Auge behalten.

Kaum Impfschutz in afrikanischen Ländern

Die Verbreitung der Mu-Variante verdeutlicht aber ein Problem, das die internationale Gemeinschaft schon länger beschäftigt: die globale Ungleichheit bei der Versorgung mit den Impfstoffen. Während in den reichen Industrieländern des Westens die Impfquoten bei deutlich über 50 Prozent liegen, sieht die Situation anderswo auf der Welt weit weniger gut aus.

In Kolumbien, dem Ursprungsland der Mu-Variante etwa, sind laut der Impfdatenbank «OurWorldInData» lediglich etwas mehr als 31 Prozent vollständig gegen das Coronavirus geschützt. Noch gravierender ist die Lage in vielen afrikanischen Ländern, wo wegen fehlender Impfstoffdosen und mangelnder medizinischer Infrastruktur die Impfquoten teils gen Null gehen. In Ländern wie Äthiopien, Nigeria und Tansania ist nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft.

Impfungen gegen das Coronavirus, wie hier in Nigeria, sind auf dem afrikanischen Kontinent weiter Mangelware.
Impfungen gegen das Coronavirus, wie hier in Nigeria, sind auf dem afrikanischen Kontinent weiter Mangelware.
Bild: Gbemiga Olamikan/AP/dpa

«Atemberaubende Ungleichheit» bei Impfstoffverteilung

Zwar erfahren arme Länder auf der ganzen Welt seit einigen Monaten Unterstützung von der internationalen Hilfsinitiative Covax, doch das System krankt an bürokratischen Hürden und schleppend funktionierenden Lieferketten. «Es ist ein moralisches Verbrechen. Es ist ein Verbrechen an der öffentlichen Gesundheit», prangerte die Menschenrechtsanwältin Fatima Hassan nun in einem Interview mit dem «Spiegel» an.



Während in Afrika der Impfstoff nach wie vor ein rares Gut ist, werden in reichen Ländern des Westens bereits Auffrischimpfungen verabreicht. Doch beendet erklärt kann die Corona-Pandemie erst werden, wenn auf der ganzen Welt eine ausreichende Impfquote erreicht wird. Bis dahin mag zwar in Europa ein weitgehend normales Leben bereits möglich sein. Dennoch drohen durch das stetige Risiko neuer Mutationen Rückschläge.

Bei einer Fortsetzung der «atemberaubenden Ungleichheit» bei der Impfstoffverteilung könne Afrika zu einer «Brutstätte impfstoffresistenter Covid-Varianten» werden, warnte Mathsidiso Moeti, Afrika-Direktorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), kürzlich: «Die Welt droht auf den Ausgangspunkt des Kampfes gegen das Virus zurückgeworfen zu werden.»