Historischer Entscheid Oberstes US-Gericht kippt das Recht auf Abtreibung

AFP, gbi/amo

24.6.2022

Oberstes US-Gericht kippt Recht auf Abtreibung

Oberstes US-Gericht kippt Recht auf Abtreibung

Historische Zäsur in den USA: Der Oberste Gerichtshof des Landes hat das seit fünf Jahrzehnten geltende Recht auf Abtreibung gekippt. Die Gerichtsentscheidung wurde auch international scharf kritisiert.

24.06.2022

Es ist ein folgenschwerer Entscheid für Millionen von Amerikanerinnen: Der Oberste Gerichtshof der USA kassiert das Recht auf Abtreibung. An den Reaktionen zeigt sich, wie gespalten die Nation ist. 

AFP, gbi/amo

Das aktuelle Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten ist nach fast einem halben Jahrhundert Geschichte: Der Oberste Gerichtshof der USA hat das liberale Abtreibungsrecht gekippt. Der mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court machte mit seiner Entscheidung am Freitag den Weg für schärfere Abtreibungsgesetze frei.

Die Entscheidung macht Schwangerschaftsabbrüche nicht illegal, von nun an steht es den einzelnen US-Bundesstaaten jedoch frei, Abtreibungen zu erlauben, sie einzuschränken oder gänzlich zu verbieten. «Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung», heisst es in der Urteilsbegründung.

Die Entscheidung ist keine Überraschung: Anfang Mai hatte das Magazin «Politico» einen Entwurf dazu veröffentlicht. Daraus ging bereits hervor, dass das Gericht so entscheiden will. Daraufhin gab es einen Aufschrei von Frauenrechtsorganisationen, Kliniken und Liberalen. Das Urteil ist nun so drastisch wie erwartet. In etwa der Hälfte der Bundesstaaten dürfte es nun zu weitgehenden Einschränkungen kommen.

Biden nennt Abtreibungsurteil «tragischen Fehler»

US-Präsident Joe Biden hat die historische Entscheidung des Obersten Gerichtshofs gegen das liberale Abtreibungsrecht in den Vereinigten Staaten als «tragischen Fehler» bezeichnet. «Es ist meiner Ansicht nach die Verwirklichung einer extremen Ideologie und ein tragischer Fehler des Obersten Gerichtshofs», sagte Biden am Freitag in Washington. «Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um diesen zutiefst unamerikanischen Angriff zu bekämpfen.» Der US-Kongress müsse jetzt handeln, um in der Sache das letzte Wort zu haben. «Es ist nicht vorbei», so Biden.

Trump feiert Urteil als Entscheidung Gottes

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat die Entscheidung des Supreme Court, das landesweite Recht auf Abtreibung zu kippen, als Entscheidung Gottes gefeiert. «Gott hat das entschieden», sagte der 76-Jährige am Freitag dem Sender Fox News. Der Schritt stehe im Einklang mit der Verfassung und hätte schon «vor langer Zeit» geschehen sollen.

Gegner wollen liberale Regeln seit Jahrzehnten kippen 

Es gibt in den USA kein landesweites Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche erlaubt oder verbietet. Abtreibungen sind aber mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt – heute etwa bis zur 24. Woche. Dies stellte bisher ein Urteil des Obersten US-Gerichts von 1973 sicher, das als Roe v. Wade bekannt ist. Ein weiteres Urteil von 1992, Planned Parenthood v. Casey, bestärkte die Rechtsprechung und passte sie etwas an. Der Supreme Court hat diese Entscheidungen nun gekippt.

Das Abtreibungsrecht ist in den USA immer wieder Thema heftiger Auseinandersetzungen. Gegner versuchen die liberalen Regeln seit Jahrzehnten zu kippen. Unter dem vorigen Präsidenten Donald Trump rückte der Supreme Court deutlich nach rechts. Der Republikaner ernannte während seiner Amtszeit die Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Die Richterinnen Sonia Sotomayor und Elena Kagan sowie Richter Stephen Breyer stimmten gegen die Entscheidung. Sie gelten als liberal.

Gesetze in 13 Bundesstaaten sind bereits vorbereitet

Nach Angaben des Guttmacher Institute dürften 26 und damit etwa die Hälfte der 50 Bundesstaaten nun verschärfte Abtreibungsrechte einführen. 13 dieser konservativ geführten Bundesstaaten haben entsprechende Gesetze bereits vorbereitet.

Dagegen wollen die von den Demokraten von Präsident Joe Biden regierten Bundesstaaten am Recht auf Schwangerschaftsabbrüche festhalten. Viele Frauen könnten damit künftig gezwungen sein, in andere Bundesstaaten zu reisen, wenn sie eine Abtreibung vornehmen lassen wollen.

Der wichtigste Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen in den USA, Planned Parenthood, kündigte an, sich weiter für das Recht auf Abtreibung engagieren zu wollen. «Wir werden den Kampf niemals aufgeben», erklärte das Unternehmen. Ex-Präsident Barack Obama nannte die Gerichtsentscheidung einen Angriff auf die «Grundfreiheiten» der US-Bürger.

Mehrere US-Bundesstaaten verbieten direkt nach Supreme-Court-Urteil Abtreibungen

Missouri hat als erster US-Bundesstaat nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs in den USA Abtreibungen verboten. «Missouri ist seit gerade eben der Erste im Land, der Abtreibungen wirksam ein Ende setzt», erklärte der Justizminister des Staates im Mittleren Westen, Eric Schmitt, am Freitag auf Twitter. In Missouris Gesetz sind keine Ausnahmen vorgesehen, auch nicht bei Inzest oder Vergewaltigungen.

In South Dakota trat nach Angaben der konservativen Gouverneurin Kristi Noem ein bereits vorbereitetes Gesetz in Kraft. Der Gouverneur von Indiana, Eric Holcomb, berief für den 6. Juli das Parlament des Bundesstaats ein, um ein Abtreibungsverbot zu beschliessen.

In anderen Staaten wie Arkansas oder Mississippi muss der Justizminister erst noch offiziell bestätigen, dass das Oberste Gericht die rechtlichen Rahmenbedingungen für Abtreibungen geändert hat. In Texas und Tennessee sollen die verschärften Abtreibungsgesetze 30 Tagen nach der Veröffentlichung des Urteils in Kraft treten.

Empörung und Euphorie auf Twitter

Erste Reaktionen auf Twitter folgten kurz nach dem Entscheid. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama schreibt, der Oberste Gerichtshof habe nicht nur fast 50 Jahre Präzedenzfälle rückgängig gemacht, sondern auch die persönlichste Entscheidung, die jemand treffen kann, den Launen von Politikern und Ideologen überlassen. Und weiter: «Er greift die grundlegenden Freiheiten von Millionen von Amerikanern an.»

Obama teilte zudem einen Bild mit einem Text: «Schliesst Euch den Aktivisten an, die seit Jahren Alarm schlagen beim Zugang zu Abtreibungen, und handelt. Steht mit ihnen bei einem örtlichen Protest.»

Der Sohn von Ex-Präsident Donald Trump hat die Supreme-Court-Entscheidung gegen das liberale Abtreibungsrecht in den USA als Sieg seines Vaters gefeiert. «Stolz auf meinen Vater für das, was er heute erreicht hat», schrieb Donald Trump Junior am Freitag bei Twitter. Sein Vater habe für «unsere Bewegung» drei Richter am Obersten Gerichtshof eingesetzt, die gegen liberale Abtreibungsregeln seien. Auch der konservative texanische Gouverneur Greg Abbott begrüsste das Urteil: Texas sei ein Staat, der ungeborenes Leben schütze.

Amnesty International schreibt, die Vereinigten Staaten würden Rückschritte machen, wenn es um das Recht auf Abtreibung gehe.

Währenddessen freuen sich Abtreibungsgegner*innen vor dem Obersten Gerichtshof über den Entscheid. 

Repräsentantin Anna Eskamani ruft ein virtuelles Notfalltreffen ein. «Dies ist ein verheerender Schlag für unsere kollektive Freiheit als Frauen und Amerikaner, und wir werden weiter kämpfen.»

Jens Clasen, stellvertretender Chefredaktor der Frauenzeitschrift «Women's Health», vergleicht die heutigen Entscheide aus Deutschland und den USA. Der deutsche Bundestag hat heute die Aufhebung des umstrittenen Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche beschlossen.

Kanadas Premier reagiert entsetzt

Kanadas liberaler Premier Justin Trudeau hat sich entsetzt über die Entscheidung des Obersten US-Gerichtshofes gegen das liberale Abtreibungsrecht geäussert. «Keine Regierung, kein Politiker oder Mann sollte einer Frau sagen, was sie mit ihrem Körper machen kann und was nicht», schrieb Trudeau am Freitag auf Twitter und versicherte kanadischen Frauen, für ihr Recht auf Abtreibungen einzustehen. Die Nachrichten aus dem Nachbarland USA seien «erschreckend».

Vereinte Nationen kritisieren US-Abtreibungsurteil scharf

Die Beauftragte für Menschenrechte der Vereinten Nationen hat as Urteil des Obersten Gerichtshofs scharf kritisiert. Dies sei «ein schrecklicher Schlag gegen die Menschenrechte der Frauen», erklärte UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet am Freitag. «Der Zugang zu sicheren, legalen und wirksamen Abtreibungen ist fest im internationalen Menschenrecht verankert.»

Johnson nennt US-Abtreibungsurteil «grossen Rückschritt»

Der britische Premierminister Boris Johnson hat die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in den USA zum Abtreibungsrecht als «grossen Rückschritt» bezeichnet. Er sei immer schon der Ansicht, dass die Entscheidung bei den Frauen liegen müsse, sagte Johnson am Freitag bei einem Besuch in Ruanda.