Vor Gipfel in Vilnius Erdogan gibt Blockade von Schwedens Nato-Beitritt auf

Von Ansgar Haase, Michael Fischer und Mirjam Schmitt, dpa

11.7.2023 - 05:02

Erdogan knüpft Schwedens Nato-Beitritt an EU-Zusage

Erdogan knüpft Schwedens Nato-Beitritt an EU-Zusage

STORY: Ankunft des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Montagnachmittag im litauischen Vilnius. Dort stand für ihn ein Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson auf dem Programm. Noch vor dem Beginn des Nato-Gipfels am Dienstag soll über die Aufnahme Schwedens in die Nato gesprochen werden. Die Türkei blockiert derzeit den Beitritt Schwedens, weil die Skandinavier nach Auffassung der Regierung in Ankara im Kampf gegen kurdische Extremisten nicht ausreichend kooperieren. Die Türkei setzte darüber hinaus eine neue Hürde für die Zustimmung einer Nato-Aufnahme Schwedens, indem sie eine Annäherung an die EU forderte. In Instanbul sagte Erdogan: «Kommen Sie zuerst und machen Sie den Weg für die Türkei in der Europäischen Union frei, und dann werden wir den Weg für Schweden öffnen, so wie wir es für Finnland getan haben. Das habe ich gestern Abend gegenüber Herrn Biden zum Ausdruck gebracht, und ich muss es auch in Vilnius noch einmal betonen.» Diese Äusserungen sorgten im Kreis der Allianz für Stirnrunzeln. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich dennoch optimistisch. «Es ist immer noch möglich, hier in Vilnius eine positive Entscheidung über die schwedische Mitgliedschaft zu treffen. Wir haben keine Gewissheit. Wir haben keine Garantien. Aber natürlich haben wir jetzt den Schwung des Gipfels mit den Staats- und Regierungschefs hier, und wir werden diesen Schwung nutzen, um so viel Fortschritt wie möglich zu gewährleisten.» Im Zentrum der Beratungen in der litauischen Hauptstadt steht aber die Frage, wie konkret der Ukraine eine Aussicht auf Mitgliedschaft in der transatlantischen Allianz zum jetzigen Zeitpunkt zugesichert werden soll. Unklar ist zudem, wie Sicherheitsgarantien für das Land nach einem Ende des Krieges ausgestaltet werden.

11.07.2023

Vom Nato-Gipfel in Litauen soll ein Signal der Geschlossenheit ausgehen. In letzter Minute kündigt Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montagabend an, dass ein monatelanges Streitthema abgeräumt sei. Ein wichtiges Detail bleibt allerdings unklar.

DPA, Von Ansgar Haase, Michael Fischer und Mirjam Schmitt, dpa

Kurz vor Beginn des Nato-Gipfels in Litauen hat Generalsekretär Jens Stoltenberg ein Ende der Blockade des Bündnisbeitritts von Schweden angekündigt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan habe bei einem Treffen mit dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson zugestimmt, das Beitrittsprotokoll so bald wie möglich dem türkischen Parlament vorzulegen, sagte Stoltenberg am Montagabend auf einer Pressekonferenz in Vilnius. Zuvor hatten sich Erdogan, Kristersson und Stoltenberg in der litauischen Hauptstadt einen Tag vor dem Nato-Gipfel beraten.

Der Frage, wann der Nato-Betritt Schwedens vollzogen sein könnte, wich Stoltenberg allerdings aus. Er wiederholte nur, dass es eine klare Zusicherung gebe, das sogenannte Beitrittsprotokoll dem Parlament zur Ratifizierung zuzuleiten. Eine Ratifizierung dieses Dokumentes durch alle Mitgliedstaaten ist Voraussetzung dafür, dass ein Land Mitglied werden kann.

Die deutsch Aussenministerin Annalena Baerbock zeigte sich trotz der unklaren zeitlichen Perspektive erfreut. «Gute Nachrichten aus Vilnius: Der Weg für die Ratifizierung von Schwedens NATO-Mitgliedschaft durch die Türkei ist endlich frei», schrieb die Grünen-Politikerin auf Twitter. «Unsere gemeinsamen Anstrengungen haben sich gelohnt. Zu 32 sind wir alle zusammen sicherer. Herzlichen Glückwunsch, Schweden!»

Erdogan verknüpft Schwedens Aufnahme mit EU-Beitritt

Noch wenige Stunden zuvor hatte Erdogan die Zustimmung seines Landes zur Aufnahme Schwedens überraschend davon abhängig gemacht, dass der vor Jahren auf Eis gelegte EU-Beitrittsprozess für die Türkei wieder aufgenommen wird. In der am Montagabend veröffentlichten Erklärung heisst es nun, Schweden werde die Wiederbelebung des Beitrittsprozesses aktiv unterstützen. Gleiches gelte auch für die ebenfalls auf Eis liegenden Verhandlungen über eine Modernisierung der Zollunion und eine Liberalisierung der Visavergabe.

Zuvor hatte auch EU-Ratspräsident Charles Michel per Twitter Entgegenkommen signalisiert und angekündigt, es sollten Möglichkeiten ausgelotet werden, wieder enger zu kooperieren und den Beziehungen neue Energie zu geben.

Für die EU wäre dies ein grosser Schritt, da sie der Türkei seit Jahren vorwirft, demokratische und rechtsstaatliche Standards nicht zu erfüllen. Eine Aufnahme der Türkei in die EU gilt deswegen auf Jahre hinweg als absolut illusorisch. Ursprünglich hatte die Türkei im Gegenzug für eine Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens vor allem ein stärkeres Engagement des Landes im Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK gefordert.

Diskussionen um Beitrittsperspektive für die Ukraine

Weitere Diskussionen gab es am Montag über die Nato-Beitrittsperspektive für die Ukraine. Deutschland erteilte dem ukrainischen Wunsch nach einer formellen Einladung in die Nato eine klare Absage. «Für eine Einladung der Ukraine, für konkrete Schritte in Richtung Mitgliedschaft (ist) der Zeitpunkt nicht da. Hierfür gibt es auch unter den Verbündeten keinen Konsens», hiess es aus Regierungskreisen.

Der türkische Präsident Präsident Recep Tayyip Erdogan (l.) schüttelt am Montag in Litauen die Hand von Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson (r.) –  zwischen den beiden steht Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Der türkische Präsident Präsident Recep Tayyip Erdogan (l.) schüttelt am Montag in Litauen die Hand von Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson (r.) – zwischen den beiden steht Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Bild: Keystone/Yves Herman, Pool Photo via AP

Nach Angaben von Diplomaten anderer Nato-Staaten stemmte sich die Bundesregierung in den Verhandlungen über die geplante Gipfelerklärung auch gegen eine Formulierung, dass die Ukraine einen «rechtmässigen Platz» im Bündnis hat. Aus deutschen Regierungskreisen hiess es zu der Ukraine-Passage in der Erklärung lediglich, dies sei eine «von fünf, sechs Fragen, die im Moment noch diskutiert werden».

Stoltenberg räumte am Montag ein, dass noch keine endgültige Entscheidung über die Beitrittsperspektive der Ukraine getroffen wurde, die sich seit 16 Monaten gegen einen Angriffskrieg Russlands verteidigt. Konsultationen über die Bedingungen für den Weg der Ukraine zur Nato-Mitgliedschaft seien weiterhin im Gang, sagte er nach einem Treffen mit Litauens Staatspräsident Gitanas Nauseda.

In den Hintergrund rückte damit zunächst, dass die Nato mit dem an diesem Dienstag beginnenden Gipfeltreffen in Vilnius eigentlich eine klare Botschaft der Geschlossenheit an Russland Präsidenten Wladimir Putin senden will. Dieser soll nach dem Wunsch des Verteidigungsbündnisses einsehen, dass sein Krieg gegen die Ukraine zum Scheitern verurteilt ist und jede Aggression gegen einen Nato-Staat eine entschlossene Reaktion des gesamten Bündnisses zur Folge hätte.

Unterstützung für die Ukraine

Stoltenberg äusserte sich am Montag trotz der Diskussionen über die Beitrittsperspektive optimistisch, dass die Verbündeten beim zweitägigen Gipfel eine gute, starke und positive Botschaft haben werden. Seinen Angaben zufolge soll bei dem Spitzentreffen unter anderem ein mehrjähriges Programm vereinbart werden, um künftig eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften der Ukraine und des Bündnisses zu ermöglichen. Zudem ist geplant, das bereits 2008 gegebene Versprechen zu erneuern, dass die Ukraine Mitglied der Nato werden kann – vermutlich ohne zuvor das bislang übliche Heranführungsprogramm MAP (Membership Action Plan) absolviert zu haben. Bis dahin ist geplant, die politischen Beziehungen über die Schaffung eines neuen Nato-Ukraine-Rates zu vertiefen.

Länder wie die USA, Deutschland und Grossbritannien wollen zudem nach Angaben von Diplomaten einen umfassenden Rahmen für neue Sicherheitszusagen schaffen. So sind die USA nach Angaben von Präsident Joe Biden bereit, der Ukraine nach einem Ende des russischen Angriffskriegs ähnlichen Schutz zu bieten wie Israel. Die USA unterstützen Israel jedes Jahr mit rund 3,8 Milliarden US-Dollar – davon geht ein beachtlicher Teil in die Abwehr von Raketen und Militärtechnik. Deutschland will der Ukraine beim Nato-Gipfel weitere Waffenlieferungen in grösserem Umfang zusagen. Es werde dort «sehr substanzielle» Ankündigungen geben, hiess es aus deutschen Regierungskreisen in Berlin.

Gipfel soll Abschreckung und Verteidigung voranbringen

Bereits am Montagabend nahmen die Nato-Staaten in einem schriftlichen Verfahren neue Pläne für die Abwehr von möglichen russischen Angriffen auf das Bündnisgebiet an. Die Entscheidung soll an diesem Dienstag von den Staats- und Regierungschefs noch einmal bestätigt und dann offiziell verkündet werden.

Die insgesamt mehr als 4000 Seiten starken Verteidigungspläne beschreiben nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur detailliert, wie kritische Orte im Bündnisgebiet durch Abschreckung geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollten. Dafür wird auch definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben Land-, Luft-, und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.

Umgesetzt werden sollen die Pläne unter anderem mit Hilfe einer neuen Streitkräftestruktur. So hatte Generalsekretär Jens Stoltenberg bereits beim Nato-Gipfel im vergangenen Jahr angekündigt, dass künftig 300 000 Soldatinnen und Soldaten für mögliche Nato-Einsätze in hoher Bereitschaft gehalten werden sollten. Bislang war bei der Nato für schnelle Kriseneinsätze vor allem die Eingreiftruppe NRF vorgesehen. Für diese stellen die Mitgliedstaaten derzeit circa 40 000 Soldatinnen und Soldaten.

Da der Ausbau der militärischen Fähigkeiten Unmengen an Geld kostet, haben sich die Nato-Staaten bereits im Vorfeld des Gipfels darauf verständigt, das gemeinsame Ziel für die nationalen Verteidigungsausgaben zu verschärfen. Angestrebt wird demnach künftig, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts auszugeben.

Drohungen aus Moskau und Selenskyj als Gast

Mit Spannung wird erwartet, wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf den zu erwartenden Kompromiss zur Aufnahmeperspektive reagieren wird. Er hatte zuletzt immer wieder eine konkrete Beitrittseinladung für sein Land gefordert und sein Kommen zum Gipfel von einer offenen Diskussion darüber abhängig gemacht. Selenskyj wird von der Nato an diesem Mittwoch in Vilnius erwartet. Für diesen Tag ist auch das erste Treffen des neuen Nato-Ukraine-Rates auf Ebene der Staats- und Regierungschefs geplant.

Aus Russland kamen unterdessen Drohungen. Ein Nato-Beitritt der Ukraine werde «sehr negative Folgen für die gesamte und ohnehin schon halbzerstörte Sicherheitsarchitektur Europas haben und eine absolute Gefahr und Bedrohung für unser Land darstellen», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Nachrichtenagenturen zufolge. Ein solcher Schritt würde von russischer Seite eine «ziemlich harte und verständliche Reaktion erfordern», fügte Peskow hinzu.