Lagebild Ukraine «Die russische Armee sollte nicht unterschätzt werden»

Von Philipp Dahm

4.4.2023

Flucht aus Bachmut in letzter Minute

Flucht aus Bachmut in letzter Minute

Mit ein paar wenigen Habseligkeiten hat es eine Gruppe von Zivilisten aus der seit Monaten heftig umkämpften Stadt Bachmut geschafft. Wieviele Einwohner dort immer noch ausharren, weiss niemand so genau.

04.04.2023

Vorteil Russland: Weil Schneefall Infanterie-Angriffe zum Erliegen gebracht hat, konnte der Kreml die gesamte Artillerie in der Umgebung auf Bachmut feuern lassen. Dort haben Putins Truppen deshalb Boden gutgemacht.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Russische Truppen sind weiter in den Stadtkern von Bachmut vorgerückt.
  • Weil das Wetter Infanterie-Angriffe verunmöglicht hat, konnte Moskaus Artillerie in der Gegend ihr Feuer ganz auf Bachmut konzentrieren.
  • Auch in Awdijwka halten die schweren Gefechte an: Rund 1800 Zivilisten harren noch in der Stadt aus.
  • «Krieg ist die Hölle»: Amerikaner in Diensten der ukrainischen Armee berichten vom grausamen Alltag an der Front.

Russland hat seine Taktik geändert: Anstatt Bachmut zu umschliessen, versucht Moskaus Armee nun offenbar, direkt in die Stadt vorzustossen. Über die Gründe gibt es verschiedene Spekulationen: Die einen sagen, dass die ukrainischen Streitkräfte die Stadt durch Tunnel versorgen, sodass Angriffe auf die verbliebenen beiden Strassen nach Bachmut sich nicht mehr lohnen.

Andererseits könnte die neue Taktik der Angst vor einer ukrainischen Gegenoffensive geschuldet sein: Wenn die Russen an den Flanken weiter vorrücken würden, könnte ihnen Wolodymyr Selenskyjs Gegenschlag selbst in die Seiten fahren, meint der amerikanische Russland-Experte Michael Kofman.

Tatsächlich hat das Wetter der letzten Tage den Angreifern einen grossen Vorteil bereitet: Nachdem am Wochenende in kurzer Zeit erhebliche Mengen Schnee gefallen sind, sind Infanterie-Attacken zum Erliegen gekommen: Die russische Artillerie in der Umgebung war in der Lage, ihr Feuer ganz auf Bachmut zu konzentrieren, weil anderswo kaum etwas passierte.

Wagner kontrolliert Bachmut? «Ein lustiger Fake»

Artillerie und Mörser haben so eine Schneise in der Stadt geschlagen: Die Zerstörung der hohen Gebäude zwischen den Konfliktparteien hat den Verteidigern die Stellungen genommen, in denen sie die Russen ins Visier nehmen können. So konnten Moskaus Männer in der Stadt vorrücken.

Im Norden von Bachmut geht der Häuserkampf im Industriequartier weiter. Auch von Osten und Süden können die Angreifer weiter vordringen. Die Artilleriebarrage dürfte später für sie jedoch zum Problem werden: Der Schutt erschwert das weitere Vordringen und bietet kaum Deckung.

Jewgeni Prigoschin hat zuletzt ein Foto verbreitet, das die russische Flagge auf dem Rathaus der Stadt zeigt. Das wurde inzwischen zerstört – wie und von wem, ist unklar. Fakt ist, dass die Flagge nun in einem Haufen Schutt steckt: Die Aussage des Wagner-Bosses, Bachmut sei allmählich unter Kontrolle, sei bloss «ein lustiger Fake», so die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maliar.

Aushalten in Awdijwka: «Keine Angst vor dem Tod»

Nicht nur in Bachmut halten die schweren Gefechte an, sondern auch in Awdijwka. Die Stadt ist wie Bachmut zur roten Zone erklärt worden: Helfer und Journalisten dürfen diese nicht betreten. Bevor das passiert ist, konnte die «New York Times» noch ukrainische Polizisten begleiten, die nach Awdijwka gefahren sind.

Viele der Zivilisten, die bis jetzt ausgeharrt haben, weigern sich, zu gehen. «Die, die geblieben sind, haben keine Angst vor dem Tod oder sonst was», sagt Igor. «So ist es.» «Ich weiss nicht mal, was ich gefühlt habe», sagt Iryna über den Tag, an dem sie ein Artilleriegeschoss nur knapp verfehlt hat. «Ich habe bloss realisiert, dass ich kein Zuhause mehr habe.»

Rund 1800 Zivilisten sollen noch vor Ort sein. «Wir wurden hier geboren», erklärt Oskana. «Unsere Leben sind hier. Wo sollen wir hingehen? Wer braucht uns irgendwo? Wer wird uns helfen?» Wenn man jetzt etwas sage, könnte es die neuen Herrscher verärgern. Man könne aber auch die bisherigen vor den Kopf stossen. «Wer braucht sowas?»

Amerikaner in der Ukraine: «Krieg ist die Hölle»

Das Video ist so beklemmend wie die Aussagen von Ausländern, die auf Seiten der Ukraine kämpfen. «Krieg ist die Hölle», sagt ein Amerikaner gegenüber «Medium». «So, wie es die Filme nicht zeigen. Die einzige Art, es wirklich zu verstehen, ist, wenn du siehst, wie dein bester Freund vor dir an der Front in die Luft gejagt wird und nach seiner Mutter und seiner Frau schreit. Oder wenn er dir sagt: ‹Sag meinem [Sohn], dass ich ihn liebe.› Das ist die beste Art, es zu erklären.»

Der US-Veteran führt aus, die Realität sei kein Spiel wie «fucking ‹Call of Duty›»: «Du bist tot. Es gibt kein morgen. Das ist die beste Art, es zu akzeptieren, besonders wenn du in den Osten gehst.» Er habe versucht, wie eine Maschine zu funktionieren, sagt der Anonymus. «Ich denke nicht an ein Leben. Ich denke nicht an meine Freunde. Ich denke daran, wie viele Patronen noch in meinem Magazin sind.»

Ein anderer 27-jähriger US-Veteran erläutert gegenüber «Medium»: «Wenn Leute denken, es ist falsch zu kämpfen, würde ich ihnen sagen, sie sollen etwas machen. Mach was im Februar in Butscha. Mach jetzt etwas in Bachmut. Mach im April etwas in Mariupol, und du wirst sehr schnell lernen, warum es richtig ist, zurückzuschiessen.»

«Die russische Armee sollte nicht unterschätzt werden»

Während der Krieg im Donbass am wildesten tobt, geht es an der nördlichen Front gemächlicher zu. «Zuletzt war es relativ ruhig», berichtet der Soldat Wolodymyr Hapun der «Kyiv Post», «aber es gab heute Morgen schwere Artillerieangriffe. Wir sind zurzeit in der Defensive und versuchen unser Bestes, um zu verhindern, dass der Feind die Stellungen zurückerobert, die wir im Oktober genommen haben.»

Hapun und seine Einheit liegen vor Kreminna: Die russische Armee setzt auf maximale Zerstörung durch Artillerie. «Wenn unser Militär sich nirgendwo mehr verstecken und die Linie nicht halten kann, müssen wir uns zurückziehen. Dann graben sich dort die Russen ein – auch wenn sie dabei vielleicht eine signifikante Zahl ihres Personals verlieren.»

Die aktuelle Lage bei Kreminna.
Die aktuelle Lage bei Kreminna.
Karte: Militaryland

Der Gegner wird besser, muss Hapun konstatieren: «Die russische Armee ist gut ausgerüstet, und sie sollte nicht unterschätzt werden. Sie lernen dazu.» Im Gegensatz zu früher setzten Moskaus Männer inzwischen kleine Drohnen ein. «Ihnen geht die Munition nicht aus und wir können nicht mithalten.»

Waffen-Update

Die neue tschechische Verteidigungsministerin verspricht Kiew weitere Militärhilfen. «Wir haben immer noch Sachen im Lager, die unsere Armee definitiv niemals nutzen wird», erklärt Jana Černochová. Nun soll eine entsprechende Liste erarbeitet werden: «Wir werden Präsident Selenskyj über unser Inventar informieren.»

Die ukrainische Armee soll ausserdem neue schwere Mörser erhalten, die 120-Millimeter-Granaten verschiessen. Dafür waren via Spenden 333 Millionen Hrywnja gesammelt worden, was 8,24 Millionen Franken entspricht. Dazu passt, dass in Grossbritannien eine zweite Gruppe Ukrainer die Ausbildung auf den AS90-Panzerhaubitzen gemeistert hat.