Machtpoker mit offenem EndeKlar ist nur, dass in Deutschland noch lange nichts klar ist
Von Andreas Fischer, Leipzig
26.9.2021
Armin Laschet als Kanzler? Das ist für viele Deutsche wegen des Wahlsiegs der SPD unvorstellbar. Aber es ist nach der Bundestagswahl möglich. «blue News» hat einen Politiker an einem denkwürdigen Wahltag begleitet.
Von Andreas Fischer, Leipzig
26.09.2021, 23:30
27.09.2021, 08:12
Von Andreas Fischer, Leipzig
Deutschland hat einen neuen Bundestag gewählt. Wer aber die Regierung bildet, ist noch nicht klar. Selten war der Ausgang vor einer Wahl so ungewiss wie in diesem Jahr, in dem Angela Merkel nach 16 Jahren als Kanzlerin nicht mehr antrat. Das politische Spitzenpersonal war dementsprechend den ganzen Tag nervös, besonders Armin Laschet, der sich an der Wahlurne einen Fauxpas leistet und seinen Stimmzettel so faltet, dass jeder sehen kann, wen er gewählt hat.
Abgesehen von der Wahlentscheidung des Kanzlerkandidaten der Union weiss am Morgen niemand, was der Abend bringt. In Berlin ist man angespannt. Dabei beginnt der Wahltag in Deutschland recht gemütlich. Die Wahllokale öffnen pünktlich um 8 Uhr, die ersten Schlangen des Tages bilden sich indes beim Bäcker.
Doch recht schnell ist in den Wahllokalen mehr los. Nachdem die Brötchen offensichtlich ihrer Bestimmung zugeführt wurden, herrscht ab 10 Uhr in einem Wahllokal im Leipziger Südwesten reges Kommen und Gehen. Die Menschen müssen teilweise etwas länger anstehen, ehe sie abstimmen können. «Bei uns haben bis zum Mittag rund zwei Drittel der Wahlberechtigten abgestimmt. Das ist deutlich mehr als bei der vorherigen Bundestagswahl», sagt eine Wahlhelferin zu «blue News».
Die Wahl ist wichtig, wichtiger als sonst. Nicht nur im politischen Berlin.
Trotz Anspannung bleiben die Kandidaten locker
Die letzten Umfragen sagten ein knappes Ergebnis vorher. Das hätten sich bis vor Kurzem wohl nur wenige in Deutschland vorstellen können: Nach 16 Jahren an der Regierung droht den konservativen Christdemokraten der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel der Machtverlust.
Die Anspannung ist überall im Land zu spüren, auch wenn sich die Kandidaten vor Ort betont locker zeigen. In Leipzig gibt der SPD-Spitzenkandidat des Bundeslandes Sachsen um 11 Uhr seine Stimme ab. Holger Mann kandidiert im Wahlkreis 152 Leipzig I. Dort hatte die SPD zuletzt 2005 das Direktmandat geholt und seitdem keine Chance. Obwohl Holger Mann «ausdrücklich keinen Erststimmen-Wahlkampf» gemacht hat, ist in diesem Jahr das Rennen auch hier offen.
«Insofern bin ich auch deswegen heute Abend gespannt wie ein Flitzebogen», sagt Holger Mann nach der Stimmabgabe, die anders als bei CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet korrekt ablief. «Wir werden wahrscheinlich erst um 22 oder gegen 23 Uhr wissen, wie die Tendenz ist.»
Mann ist zuversichtlich, dass er demnächst in der Kanzlerpartei Politik macht. Schon im März habe er gesagt, «dass ich mit der SPD gern dafür kämpfen würde, die Union in die Opposition zu schicken». Dass es klappen könnte, daran wurde in Deutschland lange gezweifelt. Als Olaf Scholz im Sommer 2020 zum Kanzlerkandidaten der SPD gekürt wurde, wurde der Entscheid vor allem belächelt.
SPD hat sich auf ihre Stärken besonnen
Doch in den Wahltag startete die SPD gemäss Umfragen von der Pole Postion. Für Holger Mann keine Überraschung: «Die SPD wusste, dass sie für bis zu 30 Prozent der Wählerstimmen gut ist. Wir haben in den letzten eineinhalb Jahren gezeigt, dass wir geschlossen kämpfen können.»
Klar hätte seine Partei im Wahlkampf davon profitiert, «dass Annalena Baerbock und Armin Laschet alles andere als einen Bilderbuchstart hingelegt haben», gibt Mann zu. Entscheidend seien aber andere Dinge gewesen: «Wir haben uns auf unsere Stärken besonnen und aus den Fehlern der letzten Wahlkampagne gelernt, als wir erst sehr spät den Kanzlerkandidaten bestimmt haben.»
«Keine Abstriche bei Koalitionsverhandlungen»
Susanne L. kommt mit ihrem Kleinkind aus dem Wahllokal. Sie wählt, erzählt sie, seitdem sie 18 Jahre ist und findet das wichtig. Sie wusste schon frühzeitig, wen sie wählen würde: «Ich will, dass Frau Merkel einen würdigen Nachfolger bekommt.» Das sei für sie Armin Laschet: «Ich hoffe, dass er Kanzler wird. Er hat es verdient und würde einen guten Job machen.»
In der Position, in der man sich ernsthafte Gedanken über Koalitionsoptionen machen kann, ist aber vor allem die SPD. Holger Mann ist durchaus selbstbewusst: «Klar ist: Wir machen in Koalitionsverhandlungen erstmal überhaupt keine Abstriche.» Er persönlich habe nie einen Hehl daraus gemacht, «dass ich mich freuen würde, wenn es für Rot-Grün reicht», sagt der SPDler am Mittag des Wahltags.
Wahrscheinlicher als Manns rot-grünes Wunschbündnis ist freilich eine Dreier-Koaltion: «Aus ostdeutscher Perspektive kann ich mir auch ein Bündnis mit den Linken vorstellen», weicht Mann von der offiziellen Parteilinie ab. Die Ampel aus SPD, Grünen und FDP sei eine weitere Option, «auch wenn ich fürchte, dass wir mit der FDP bei vielen Themen wie der sozialen Gerechtigkeit oder einem ambitionierterem Klimaschutz viel mehr Probleme bekämen. Aber: wenn Herr Lindner (FDP-Vorsitzender, d.Red.) meint, er könne zu allem ‹Nein, nein, nein.› sagen, dann wird das nicht funktionieren».
Auch die FDP hat ein paar Fans
Die FDP würde zwar den Kanzler nicht stellen, «aber der Herr Lindner macht seinen Job ganz ordentlich», sagen hingegen Werner A. und Bärbel G., beide um die 60. Das Ehepaar hat zwar einige politische Differenzen, ist sich in der Sache aber einig.
Werner A. hat sich kurzfristig entschieden, wen er wählt: «und zwar nach dem letzten TV-Triell. Es hat sich niemand richtig beharkt. Da wurde mir klar, dass eigentlich alle Kanzlerkandidaten das Gleiche wollen». Gewählt habe er deswegen die FDP und wünscht sich eine Koalition mit der SPD und den Grünen. «Herr Laschet ist für mich, das muss ich Ihnen ehrlich sagen, kein Mann mit Kanzlerformat.» Olaf Scholz hingegen habe sich in der Ära Merkel «gut geschlagen und einen ordentlichen Job als Finanzminister gemacht».
Seine Frau Bärbel G. ist «genau gegenteiliger Meinung» und findet, dass Scholz zu viele Pannen passiert sind. Nicht zuletzt der Wirecard-Skandal habe deswegen ihre Wahlentscheidung beeinflusst: «Da war er bei mir durch.» Sie habe niemanden von den drei Kanzlerkandidaten gewählt, sondern ihre Stimme ebenfalls der FDP gegeben.
In Deutschland steht mehr auf dem Spiel als sonst
Wer nun mit wem regiert – darüber zu spekulieren sei müssig, bevor die Ergebnisse feststehen, sagt Holger Mann: «Das Wort haben erstmal die Wählerinnen und Wähler: Wir müssen als Demokraten dann schauen, was wir aus dem Ergebnis heute Abend machen.» Die Zeit bis dahin will Holger Mann mit seiner Familie verbringen, «die mich in den letzten Wochen wenig gesehen hat. Ich hoffe, dass wir ein ruhiges Mittagessen miteinander haben und einen sonnigen Nachmittag geniessen können».
Während Holger Mann mit seinem in Parteifarben lackiertem Lastenfahrrad nach Hause fährt, strömen die Menschen weiter ins Wahllokal. Bei dieser Bundestagswahl scheint in Deutschland mehr auf dem Spiel zu stehen, als sonst. Eine junge Frau erklärt, warum. Es sei an der Zeit, dass sich die Politik auf das Grosse und Ganze konzentriert – und nicht nur kurzfristig denkt «was ist gut für mich», sagt Tina Pineda De Castro.
Sie hat ihre Stimme in einem schwarz-gelben Outfit abgegeben. Das sei aber keine Koalitionsaussage, erklärt sie lachend. «Ich wähle seit eh und je die Grünen, weil das am besten zu meinen Überzeugungen passt.»
Auch wenn die Chancen der Spitzenkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, auf das Kanzleramt äusserst gering sind: Sehr wahrscheinlich werden die Grünen Teil der nächsten Bundesregierung werden.
Aber mit wem als Kanzler? Olaf Scholz oder Armin Laschet? «Sie meinen das kleinere Übel?», fragt Tina Pineda De Castro zurück. «Dann auf jeden Fall nicht die CDU.» Allerdings habe auch Olaf Scholz ihrer Meinung nach «nichts mit einem SPD-Kandidaten zu tun». Trotzdem würde sie die Sozialdemokraten bevorzugen, «aber nur wegen der Partei».
Das erwartete knappe Rennen
Für Holger Mann geht der Wahlabend um 17 Uhr weiter. Spitzenkandidaten bekommen dann bereits erste Prognosen, die auf Exit Polls (deutsch: Nachwahlbefragungen) basieren. Um 18 Uhr ist er zur offiziellen Wahlparty im Leipziger Neuen Rathaus eingeladen und weiss schon, dass er Grund zur Freude hat, wenn die ersten Ergebnisse über den Bildschirm flimmern.
Holger Mann ist gelöst, und verfolgt mit den anderen Kandidaten, was in Berlin passiert. Dass SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil kurz nach 18 Uhr die SPD zum Wahlsieger ausruft, kommt gut an. Die SPD liegt in einem knappen Rennen vor der CDU, für Klingbeil «ein klarer Regierungsauftrag». Die SPD jubelt, die FDP ist ebenfalls zufrieden.
Bei den anderen Parteien macht sich analog zu den Parteizentralen Katerstimmung breit. Die AfD verliert bundesweit. Die Grünen legen zwar zu, bleiben aber hinter ihren eigenen Erwartungen zurück. Vor allem aber: Die Union aus CDU und CSU verliert deutlich.
Trotzdem beansprucht Armin Laschet, das Kanzleramt für die Union, wie er in einem ersten Auftritt nach Schliessung der Wahllokale kämpferisch sagte. Dies, obwohl er gemäss Hochrechnungen hinter Olaf Scholz und der SPD liegt.
«Die Union ist abgewählt»
Hauptsache regieren, scheint das Motto in Deutschland zu sein. Die Kanzlerfrage können nur FDP und Grüne klären. Die grün-gelbe Mitte hat den Schlüssel ins Kanzleramt – an ihr liegt es, wer die nächste Regierung anführen kann. Annalena Baerbock und Christian Lindner wissen das und machen sich in der Gesprächsrunde der Spitzenkandidaten gegenseitig Avancen.
Der SPD von Holger Mann ist das erstmal egal. Bei der Wahlparty ist die Stimmung ausgelassen. Es ist einerseits die Erleichterung zu spüren, dass der Wahlkampf vorbei ist. Andererseits feiert man das Ergebnis. «Wir haben eine Aufholjagd hingelegt, die uns mit grosser Wahrscheinlichkeit zur stärksten Kraft macht. Die Union hat massiv verloren, es ist eine krachende Wahlniederlage. Ich würde sogar sagen: Sie ist abgewählt.»
Ganz zufrieden ist Holger Mann aber nicht. Vor allem das schlechte Abschneiden der Linken wurmt ihn. Die Option Rot-Rot-Grün ist damit vom Tisch, dabei wäre sie «zumindest für eine Sondierung eine interessante Option gewesen. Nun heissen die Alternativen: Jamaika, Ampel oder Grosse Koalition andersrum».
Der Co-Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, bekräftigte in Berlin schon mal: «Wir wollen regieren.» Trotz programmatischer Nähe zur SPD schliesst er auch die Zusammenarbeit mit der CDU nicht aus. Für Holger Mann wenig überraschend: «Robert Habeck schien schon immer ein grosser Freund von Schwarz-Grün zu sein. Aber wenn die Grünen ein Gros ihrer Forderungen umsetzen wollen, dann führt kein Weg an der SPD vorbei.»
Armin Laschet als Kanzler? Unvorstellbar.
Wenn sich die Grünen doch für die Konservative Koalition mit CDU und FDP entscheiden würden, dann könne die SPD mit erhobenen Haupt in die Opposition gehen. «Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass der Deutsche Bundestag einen Armin Laschet zum Kanzler wählt, der eine historische Wahlniederlage einstecken musste und noch nicht einmal bei den eigenen Anhängern mehrheitlich Unterstützung findet.»
Aber das sei alles noch ein bisschen früh, Klarheit gibt es erst mit dem amtlichen Endergebnis und der endgültigen Sitzverteilung. Das kann in Deutschland wegen des komplizierten Wahlrechts mit Überhang- und Ausgleichsmandaten etwas länger dauern. Deswegen ist zum Beispiel nicht einmal sicher, ob Armin Laschet überhaupt in den Bundestag einzieht. Gewinnt die CDU in Laschets Bundesland Nordrhein-Westfalen ausreichend Direktmandate, dürfte niemand von der Landesliste der Partei nachrücken.
Klar ist an diesem Wahlabend kurz vor Mitternacht nur eins: Es ist noch längst nicht alles klar. Aus der Ungewissheit vor der Wahl ist eine Ungewissheit nach der Wahl geworden.
Auch ob Holger Mann seinen eigenen Wahlkreis gewinnt, steht erst spät fest. Das Rennen ist so knapp, wie es der SPD-Politiker vorausgesagt hat. Sein CDU-Kontrahent führt zunächst mit mehr als tausend Stimmen. Im Laufe des Abends holt Holger Mann mit jedem ausgezählten Wahlbezirk auf. Am Ende fehlen ihm ein paar hundert Stimmen. In den Bundestag zieht Holger Mann als SPD-Spitzenkandidat in Sachsen trotzdem ein.