Attentate, Entführungen, Prozesse In Belarus regiert die Angst

Von Philipp Dahm

9.8.2021

Das Ergebnis der Wahl in Weissrussland vor einem Jahr: Massenproteste. Der Protest wurde niedergeschlagen, doch Belarus kommt seither nicht zur Ruhe. Das Regime in Minsk reagiert auch heute noch mit brutaler Härte.

Von Philipp Dahm

Schon vor der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 ist etwas faul im Staate Belarus: «Europas letzter Diktator» Alexander Lukaschenko hat die Pandemie unterschätzt, die Wirtschaft liegt am Boden – und der Urnengang gerät zur Farce. Opposition und Medien werden konsequent unterdrückt, friedliche Demonstranten verhaftet und der Internetzugang am Wahltag eingeschränkt.

Als am Abend der Wahlsieg Lukaschenkos verkündet wird, kippt die Stimmung. 100'000 Menschen versammeln sich in Minsk, auch in anderen Städten regt sich Widerstand. Die Polizei geht brutal gegen die Bürger vor: Tausende werden verhaftet, Hunderte ins Spital eingeliefert – und selbst Schusswaffen kommen zum Einsatz. Das Volk reagiert vier Tage nach der Wahl mit einem Generalstreik.

Mittendrin: Alexander Lukaschenko am 29. Dezember auf dem Neujahrsball der Jugend in Minsk.
Mittendrin: Alexander Lukaschenko am 29. Dezember auf dem Neujahrsball der Jugend in Minsk.
AP

Das Schema wiederholt sich in den nächsten Wochen: Lukaschenko lässt das Militär auf die Demonstrierenden los. Während die USA, die EU und auch die Schweiz die Vorgänge scharf kritisieren, gratulieren andere Staatsoberhäupter Lukaschenko zur Wiederwahl – von Chinas Xi Jinping über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bis hin zu den Diktatoren Nicolas Maduro aus Venezuela und Syriens Baschar al-Assad.

Natürlich stellt sich auch Wladimir Putin hinter Lukaschenko: Russland und Belarus haben eine besondere Beziehung. Minsk lässt verlauten, die Nato stecke hinter den Protesten: Zehntausende sind seit der Wahl verhaftet worden. Viele Demonstrierende wurden verletzt, mindestens sechs Personen sind ums Leben gekommen und viele werden noch vermisst.

Der Fall Witali Schischow

Inzwischen ist das Versammlungsrecht in Weissrussland jedoch stark eingeschränkt worden: In den letzten Monaten gab es kaum noch öffentliche Proteste. Ruhe eingekehrt ist in Belarus deshalb noch lange nicht – und auch die jüngsten Aktionen der Regierung sprechen dafür.

Demonstration im Kleinen: Diese Frauen, die am 18. Juli durch Minsk laufen, haben sich in die Farben der weissrussischen Protest-Flagge gekleidet.
Demonstration im Kleinen: Diese Frauen, die am 18. Juli durch Minsk laufen, haben sich in die Farben der weissrussischen Protest-Flagge gekleidet.
EPA

Da wäre zum einen das Verschwinden von Witali Schischow, der am 2. August nicht von einer Jogging-Runde zurückkehrt. Der 26-jährige Oppositionelle hat sich ins ukrainische Kiew geflüchtet, war dort jedoch vor Lukaschenkos langem Arm nicht sicher. Am 3. August wird der junge blonde Mann in einem Park in der Nähe seines Hauses erhängt aufgefunden.

Schischow hat in Kiew eine Organisation für weissrussische Flüchtende geleitet, nachdem er nach der Wahl seine Heimat verlassen hatte. Der Oppositionelle sei von Freunden und Behörden wiederholt gewarnt worden, berichtet BBC: «Sie sagten, wir sollten auf uns aufpassen, weil der weissrussische KGB ein aktives Netzwerk [in Kiew] hat», sagt ein Weggefährte.

Weissrussen im Exil protestieren am 3. August vor der belarussischen Botschaft in Kiew gegen den mutmasslichen Mord an Witali Schischow.
Weissrussen im Exil protestieren am 3. August vor der belarussischen Botschaft in Kiew gegen den mutmasslichen Mord an Witali Schischow.
EPA

Der Fall Kristina Timanowskaja

Gleichzeitig macht der Fall von Kristina Timanowskaja am 1. August international Schlagzeilen. Nachdem Alexander Lukaschenko den weissrussischen Olympioniken mit auf den Weg gegeben hatte, sie bräuchten ohne Medaillen gar nicht wiederkommen, kritisiert die Sprinterin in Tokio nationale Sportfunktionäre.

Kristina Timanowskaja gibt am 5. August in Warschau eine Pressekonferenz.
Kristina Timanowskaja gibt am 5. August in Warschau eine Pressekonferenz.
EPA

Als sie dann von Regierungsbeamten deswegen zurück in die Heimat fliegen soll, wendet sich Timanowskaja an die japanischen Behörden. Über Wien ist die Sportlerin inzwischen nach Polen gereist, wo ihr Asyl gewährt wurde. «Ich bin etwas verwundert, dass die Situation so zu einem politischen Skandal ausgeartet ist», sagt die 24-Jährige der Presse in Warschau.

Weil Timanowskaja in den weissrussischen Medien mit Hass überzogen wird, sorgt sich die Athletin jedoch um ihre Familie, die in Belarus zurückgeblieben ist. Kein Wunder: Die junge Frau will in Polen nun in die Opposition gehen. «Ich bin bereit, den Menschen zu helfen, die in eine ähnliche Situation wie ich geraten oder Belarus verlassen wollen», zitiert sie der «Spiegel».

Der Fall Maryja Kalesnikawa

Am 4. August schliesslich beginnt in Minsk der Prozess gegen Maryja Kalesnikawa. Die 39-Jährige ist eine bemerkenswerte Frau: Als der Banker Wiktar Babaryka verhaftet wird, der sich als neuer Präsident zur Wahl stellen wollte, bildet sie ein Bewerber-Trio mit Weranika Zapkala und Swjatlana Zichanouskaja.

Swjatlana Zichanouskaja, Weranika Zapkala und Maryja Kalesnikawa im Juli 2020 während des Wahlkampfs in Minsk.
Swjatlana Zichanouskaja, Weranika Zapkala und Maryja Kalesnikawa im Juli 2020 während des Wahlkampfs in Minsk.
EPA

«Das Auftreten der drei Frauen ist etwas Neues in Belarus», staunte der Deutschlandfunk. «Ihre Sprache, ihr Gestus. Die eine zeigt immer ein Victory-Zeichen, die zweite reckt die linke Faust, die dritte formt ihre Hände zu einem Herzen.» Nach Lukaschenkos Wahlsieg verlassen ihre Mitstreiterinnen das Land, doch die Musikpädagogin bleibt und gründet eine neue Partei.

Am 7. September 2020 verschwindet Kalesnikawa – und einen Tag später wird bekannt, dass sie verhaftet worden ist. Der weissrussische KGB hat versucht, sie in die Ukraine abzuschieben – woraufhin die Bürgerrechtlerin ihren Pass zerrissen hat. Nun wird ihr wegen «Gefährdung der staatlichen Sicherheit» der Prozess gemacht. Die Verhandlung läuft seit dem 5. August – hinter verschlossenen Türen.

Diese drei aktuellen Fälle legen nahe, dass in Minsk die Angst regiert – und zwar jene vor dem eigenen Volk. Lukaschenko schreckt auch nicht davor zurück, internationales Recht zu brechen – wie schon die Umleitung des Flugzeugs des Oppositionellen Roman Protassewitsch im Mai gezeigt hat. Wie lange sich der 66-Jährige noch so verhalten kann, wird sich zeigen.