UnionsstaatAls Lukaschenko davon träumte, Russland zu schlucken
Von Philipp Dahm
29.5.2021
Der vielleicht ehrgeizigste Coup der Geschichte: In den 90ern hat Belarus einen Staatenbund mit Russland geschlossen, weil Alexander Lukaschenko die Chance sah, Boris Jelzin zu beerben. Was gut begann, endete fatal.
Von Philipp Dahm
29.05.2021, 10:00
29.05.2021, 13:47
Philipp Dahm
Wir schreiben das Jahr 1994. Russland ist auf Talfahrt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bricht die Wirtschaft zusammen, während die Inflation immer neue Höhen erklimmt.
Viele sind enttäuscht vom Neustart, der das Reich viele Teilrepubliken und Verbündete gekostet, die sich nun auch noch anschicken, sich unter den Schirm der Nato zu flüchten. Auch in Belarus herrscht nach der Perestroika Katerstimmung. Die schlägt sich im Wahlergebnis von 1994 wieder.
Im ersten Durchgang erhält ein gewisser Alexander Lukaschenko 45,1 Prozent der Stimmen. Der damals 39-Jährige hat in einem fragwürdigen Wahlkampf die Sehnsucht nach alter Grösse bedient. Er sei der einzige Duma-Abgeordnete, der gegen die Auflösung der Sowjetunion gestimmt habe, tönte er. Bei der Stichwahl im Juli setzt er sich mit 80,1 Prozent durch.
Die gute alte Sowjetunion
Kaum an der Macht, tauscht Lukaschenko Staatssymbole aus: Die neuen Wahrzeichen lehnen sich an alte Sowjet-Sujets an. Aussenpolitisch leitet er eine Kurswende ein: weg von Privatisierung, Liberalisierung und Europa. Der neue Fokus gilt dem Staat, auf den die Wirtschaft von Belarus immer noch stark ausgerichtet ist: Mütterchen Russland, dessen Väterchen Boris Jelzin heisst.
Jelzin wurde zwar 1991 in den ersten freien Wahlen der russischen Teilrepublik demokratisch gewählt, ist beim Volk aber höchst unpopulär, als Lukaschenko die politische Bühne betritt. Während einer Verfassungskrise 1993 konnte sich der Russe nur mithilfe des Militärs an der Macht halten. Lukaschenko wittert in der Schwäche des Kreml-Chefs jedoch eine Chance: Minsk verhandelt mit Moskau über eine engere Anbindung der beiden Staaten.
Auch Jelzin kommen die Gespräche entgegen: Er gilt als Schuldiger für die Wirtschaftsmisere und die Instabilität, das Volk flüchtet sich in Nostalgie. Eine tiefere Integration von Belarus würde Russlands Wunsch nach alter Grösse bedienen, so Jelzins Kalkül. Zudem ist Weissrussland wichtig für den Transit von Öl und Gas in den Westen – und würde die Grenze weit nach Westen verschieben.
Staatsehe mit Hintergedanken
Der Polit-Poker mündet am 2. April 1996 in einem Vertrag, der den Unionsstaat begründet: Ein Staatenbund, in dem Russland und Belarus aufgehen sollen und der ursprünglich auch für andere Länder offensteht. Jelzin will sich mit den Verträgen als Retter Russlands geben, aber warum unterschreibt eigentlich Lukaschenko die Dokumente? Er plant, wie es «Caspian Report» ausdrückt, den «vielleicht ehrgeizigsten Coup der Geschichte».
Die Dokumente sehen vor, die Länder auf verschiedenen Ebenen zu verschmelzen: erst militärisch, dann monetär und im Weiteren dann auch bei Aspekten wie Steuern oder der Sozialgesetzgebung. Am Ende soll ein gemeinsames Parlament plus Verfassung stehen. Und auch die Staatsbürgerschaft soll vereinheitlicht werden: Es würde Lukaschenko in die Lage versetzen, sich als Präsident beider Länder zu positionieren.
Und zuerst sieht es sogar erfolgversprechend aus: Die Asien-Krise 1997 bis 1998 lässt die Preise für Öl und Gas purzeln, was den ohnehin schwachen Staatshaushalt Moskaus in die Knie zwingt. Im August 1998 ist Russland zahlungsunfähig, eine Inflation von 84 Prozent vernichtet Erspartes, die Sterblichkeit steigt: Während die Wut auf Jelzin immer grösser wird, tourt Lukaschenko durch Russland, um für sich zu werben.
Lukaschenko – Kurs auf den Kreml
Lukaschenko ist das Gegenstück des demokratisch legitimierten Russen: einer vom alten Sowjet-Schlag. Das kommt gut an. Als der Unionsstaat 1999 wirksam wird, wähnt sich der Weissrusse schon auf der Zielgeraden. Weil der Vertrag nur geändert werden kann, wenn beide Seiten zustimmen, muss er sich keine Sorgen vor einem Rückzieher Jelzins machen.
Zu seinem Leidwesen hat Lukaschenko jedoch die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Als die Amtszeit des russischen Präsidenten endet, schlägt für den Weissrussen die Stunde der Entscheidung – doch Jelzin überrascht ihn und die Welt, indem er überraschend einen früheren Agenten zu seinem Nachfolger macht: Wladimir Putins Amtsübernahme im Jahr 2000 bedeutet das Aus für Lukaschenkos Grossmacht-Träume.
Putin lässt sch von Minsk nichts vormachen: Zuerst erhöht Russland die Preise für Öl und Gas, das Belarus bisher zum «Einkaufspreis» bekommen, weiterverarbeitet und so Milliarden gescheffelt hat. Und 2002 macht Moskau Lukaschenko klar, dass es einen Unionsstaat nur dann gibt, wenn Weissrussland sich Russland anschliesst – so wie die DDR in der BRD aufgegangen ist.
Putin dreht den Spiess um
Der Kreml erhöht 2004 den Druck: 2004 schlägt Putin eine Volksabstimmung zum Anschluss von Belarus mit gemeinsamer Wahl eines Staatsoberhaupts vor – die Lukaschenko nicht mehr hätte gewinnen können. Nun ist es plötzlich seine Macht, die durch die Union bedroht ist. Kein Wunder, dass er sein Veto einlegt und den Integrationsprozess zum Erliegen bringt.
Formal besteht der Staatenbund auch heute noch, denn Änderungen sind nur einstimmig möglich, doch die beiden Länder sind nicht weitergekommen, als die Währung zu teilen und die Aussengrenze gemeinsam zu sichern. Die Kooperation ist wichtig für Moskau: Russland unterhält in Belarus Stützpunkte und Frühwarn-Radaranlagen.
Es ist folgerichtig, dass Putin Lukaschenko unterstützt hat, als die Bürger drohten, nach den Wahlen 2020 die Regierung zu stürzen. Jahr für Jahr vergibt Moskau Kredite an Minsk, die die Abhängigkeit weiter erhöhen. Sie können eigentlich nicht ohneeinander, die osteuropäischen Präsidenten: Lukaschenko braucht Putin, um sich als letzter Diktator Europas an der Macht zu halten.
Auf Gedeih und Verderb
Und Putin? Der braucht Lukaschenko, um einen Paradigmenwechsel zu verhindern: Auf jene, die sich in den 90ern in Sowjet-Nostalgie ergingen, ist in Belarus eine Generation gefolgt, die heute westlich orientiert ist. Wenn die an die Macht kommt, steht für Russland viel auf dem Spiel: Geld, Einfluss, Energie-Infrastruktur und ein militärisch bedeutender Vorposten.
Hinzu käme die innenpolitische Schmach, die das für den Kreml wohl bedeuten würde – deshalb darf ein Lukaschenko für Moskau keinesfalls stürzen. Oder gar sterben. Es passt, dass der Präsident dabei ist, seinen Thronfolger zu installieren. Es passt, dass es sich dabei um dessen ältesten Sohn handelt.
Solange das Volk nicht dazwischenfunkt, sind die Nachfolge und der Status quo zwischen Russland und Belarus gesichert. Und wenn das Regime in Minsk doch mal schwächeln sollte, könnte Moskau sicherlich den merkwürdigen Vertrag über den Unionsstaat aus der Schublade ziehen, um zu verhindern, dass sich der Bruderstaat loslöst und scheidet.
Für Lukaschenko gilt in diesem Sinne wohl: Der Zauberlehrling hat in Putin seinen Meister gefunden oder: Die Geister, die ich rief ...