Ostschweizer Seenotretter «Brief von überlebender Person sorgte für Gänsehaut»

Vanessa Büchel

15.12.2024

Im Oktober war Arno Tanner auf einem Seenotrettungsschiff unterwegs. Der Ostschweizer hat blue News erzählt, wie es ihm nach dem Einsatz geht und was es braucht, damit sich die Situation im Mittelmeer verbessert.

Vanessa Büchel

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Arno Tanner setzt sich seit Jahren intensiv für Flüchtlingshilfe ein, unter anderem durch Einsätze mit Organisationen wie Sea-Eye.
  • Mit der Seenotrettungsorganisation war er kürzlich im Mittelmeer unterwegs.
  • Tanner reflektiert seine Einsätze in Pausen, mit Gesprächen und Schreiben und betont die menschlichen Schicksale hinter den Fluchtbewegungen, die auch der bewegende Brief eines Geretteten dokumentiert.
  • blue News erzählt er, was seiner Meinung nach passieren muss, damit sich die Lage im Mittelmeer stabilisiert.

Vor drei Jahren kam Arno Tanner von einem Einsatz als Freiwilliger im Flüchtlingslager auf Lesbos zurück in die Schweiz. Es war mitten in der Weihnachtszeit – für den engagierten St. Galler ein schwieriger Moment.

«Wenn du so kurz vor Weihnachten von einer Insel wie Lesbos retour kommst, hier alle happy sind und alles ein bisschen ein Überfluss ist, dann fühlt sich das irgendwie komisch an», erinnert sich Tanner im Gespräch mit blue News.

Der junge Mann arbeitete früher an einer heilpädagogischen Schule, begann sich 2021 der Flüchtlingshilfe zu widmen und hat 2022 schliesslich seinen Job gekündigt. Nach einem Job bei Ärzte ohne Grenzen hat er sich dem Thema heute ganz verschrieben, sitzt im Vorstand der deutschen Organisation Europe Cares und setzt sich parallel für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising in der Ostschweiz ein, um verschiedene Hilfsprojekte zu unterstützen.

Ende November ist Tanner von einem Einsatz mit Sea-Eye zurückgekehrt. Ein Monat lang war er mit der Seenotrettungsorganisation auf hoher See unterwegs, um Geflüchtete vor dem Ertrinken zu retten. «Nach einem Einsatz brauche ich immer ein bis zwei Wochen Zeit, um runterzufahren und alle Erfahrungen zu reflektieren», erklärt Tanner.

Beim Verarbeiten seiner Einsätze helfen Tanner reflektierte Pausen, Zeit mit seinen Freund*innen, Sport und Zeit in der Natur. «Ich habe einen Weg gefunden, mit dem Erlebten umzugehen. Ich beschäftige mich natürlich schon lange mit der Mittelmeer- und Seenotrettungsthematik, aber mir hilft es, Zeit mit Freund*innen zu verbringen, mit denen ich darüber reden kann, gleichzeitig auch viel Zeit alleine oder teilweise darüber zu schreiben.»

Derzeit macht Tanner eine Pause, ab Januar übernimmt er dann für vier Monate die Projektleitung eines neuen medizinischen Projekts auf Kos, Griechenland, organisiert von Medical Volunteers International. 

«Wurden Augenzeugen, wie 22 Menschen einfach so ins Wasser gezwungen wurden»

Physisch vorbereitet auf seinen Einsatz hat sich Tanner mit viel Fitness und einem zehntägigen Training in Wales, einem sogenannten Search Rescue Training, wo er die Grundlagen erlernt hat, wie so eine Rettung abläuft. Dazu zählen auch die medizinische Notfallversorgung, psychologische Erste Hilfe und diverse Rettungstechniken.

«Aber was schlussendlich passiert, hast du nicht in der Hand, kannst dich lange mit Dokumenten und Berichten von vorherigen Einsätzen vorbereiten, doch am Ende kann alles passieren.»

So kam es bei Tanners Crew zu einem aussergewöhnlichen Fall, den es so bisher nie gegeben hat: «Wir wurden Augenzeugen, wie eine unbekannte Personengruppe 22 Menschen einfach vom Boot ins Wasser zwang und davonfuhr.» Sein Schiff konnte alle Personen retten. 

Emotionaler Brief eines Geretteten

Bis Tanner das erste Mal nach Lesbos reiste, dauerte es eine Weile. Zuerst hinderte ihn Covid-19, dann der Brand im Flüchtlingslager Moria – und schliesslich starb sein Vater nach langer Krankheit.

«Das war auch der Grund, warum ich im Sommer 2021 dann Nägel mit Köpfen machte. Dieser Schicksalsschlag führte mir vor Augen, wie kurz das Leben ist und dass man, wenn man etwas wirklich machen will, es auch in Angriff nehmen sollte», so Tanner. Seither habe er eine Riesenveränderung durchgemacht.

Auf die Frage, was ihn bei seinem letzten Einsatz besonders berührt hat, meint der Ostschweizer: «Wir hatten eine überlebende Person an Bord, die sich eines Abends zurückgezogen und einen von Hand geschriebenen zweiseitigen Brief auf Arabisch verfasst hat. Darin hat er das Erlebte verarbeitet und davon erzählt, wie er sich gefühlt hat.»

Diese berührenden Worte lösen beim Seenotretter Gänsehaut und Tränen aus. Der Brief hängt laut Tanner noch immer im Esssaal des Schiffs.

«Ich habe in dem Moment gedacht, wie stark ein Mensch sein muss, um das alles in Worte fassen und damit umgehen zu können.» Tanner erwähnt die Hoffnungslosigkeit, die Flüchtende dazu antreibt, ihr Land zu verlassen.

Er erinnert sich an ein Zitat der somalisch-britischen Autorin Warsan Shir, das es für ihn ganz gut zusammenfasst: «Niemand riskiert sein Leben und das von seinen Kindern auf dem Wasser, ausser das Wasser ist sicherer als das, was auf dem Land ist.»

Logischerweise sei sein Berufsalltag meist mit vielen negativen Themen eingedeckt, aber ab und zu würden eben auch schöne Dinge passieren. «Und die können so positiv und emotional sein, dass sie vor Augen führen, wieso du das Ganze machst.»

Bewusste politische Entscheidungen

Viele Politiker*innen in Europa und auch die Sicherheitskräfte in einigen Ländern setzen die Arbeit von Organisationen wie Sea-Eye mit den kriminellen Machenschaften von Schleppern gleich. Tanner sieht das Problem jedoch darin, dass in den letzten Jahren bewusste politische Entscheidungen getroffen wurden, die diese Arbeit erst notwendig gemacht haben. 

«Es war nicht so, dass zivile Seenotrettungsorganisationen einfach so entschieden haben, dass sie Lust auf diese Thematik haben, sondern zivile Seenotrettung kam auf, weil sich Staaten aus der Verantwortung gezogen haben.» Heute gebe es so gut wie keine legalen Fluchtwege mehr für Menschen, die nach Europa kommen wollen.

In vielen Situationen stehe für die Menschen nur noch die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer als einziger Ausweg zur Verfügung. «Durch politische Entscheidungen wurden sie quasi dazu gezwungen», befindet Tanner.

Dass Seenotrettung ein sogenannter Pull-Faktor sein soll, der die Menschen dazu animiert, zu flüchten, sei in den letzten Jahren mit mehreren Studien widerlegt worden. «Pull-Faktoren haben mit den Situationen vor Ort zu tun, das ist der Grund, warum die Leute flüchten, und nicht, weil die Leute das Gefühl haben, sie haben auf dem Wasser jemanden, der ihnen hilft.»

Die internationale Gesetzgebung stehe im Vordergrund, sie besagt, dass Menschen in Seenot geholfen werden muss. «Wenn man gleichzeitig aber Länder hat, die diese aktive Hilfe kriminalisieren, ist das eigentlich ein politischer Entscheid, den Riegel vorzuschieben», führt Tanner weiter aus. Seenotrettungsorganisationen würden seit Längerem ein staatlich koordiniertes Seenotrettungsprogramm von der EU fordern.

Globale Situation für Flüchtlingssituation ausschlaggebend

Seit 2014 sind gemäss der International Organization for Migration über 30'000 Menschen im Mittelmeer verschwunden oder ertrunken. Die Dunkelziffer sei aber deutlich höher. Tanner betont, dass zu oft von Zahlen und nie von Menschenleben gesprochen werde.

Sea-Eye selber hat im Jahr 2023 504 und im Jahr 2024 860 Menschen gerettet. Insgesamt waren es seit 2015 über 18'000 Menschenleben, die durch die Organisation im Mittelmeer gerettet werden konnten.

Laut dem UNHCR flüchten aktuell nach wie vor viele Menschen aus Syrien und Afghanistan. In Syrien könnte laut dem Ostschweizer, je nachdem wie sich die politische Lage nun verändert, eine erneute Welle ausgelöst werden. «Wenn das ganze Land noch mehr ins Chaos stürzt, brechen dort womöglich wieder neue Migrationsströme aus.» Ändere sich die globale Situation, ändere sich auch die Flüchtlingssituation.

Ein kleiner Glücksbringer

Weil es das erste Mal war, dass Tanner einen solchen Einsatz geleistet hat, ging er nicht mit konkreten Hoffnungen und Erwartungen an den Start, wie er gesteht. «Die Grundorientierung besteht einfach darin, Menschen zu helfen, die Hilfe benötigen.»

Ein bedeutungsvolles Silberarmband aus Jordanien begleitete Tanner auf seinen Einsatz. Sein Glücksbringer ging jedoch während einer Rettung kaputt. Der Seenotretter erinnert sich: «Ich dachte, wenn ich einen Handschuh darüber trage, hält das schon. Aber meine Aufgabe war es, zusammen mit unserem Teamlead die Leute aus dem Wasser zu ziehen, und dabei ging es leider verloren.» Sein Glücksbringer liege jetzt wohl irgendwo auf dem Grund des Mittelmeers.

Tanner senkt den Blick auf seine Hände. Er wird nachdenklich und kehrt in sich. Was es braucht, damit sich die Situation im Mittelmeer verbessert? «Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass es nichts bringt, wenn man einen Grenzturm aufstellt oder Fluchtrouten zumacht – die Leute würden immer wieder einen anderen Weg finden. Weil die Verzweiflung und die lebensbedrohliche Situation, in der sich die Leute befinden, einfach stärker ist.»

Auf der einen Seite müsse man natürlich probieren, mehr Stabilität in die Herkunftsstaaten zu bringen. «Auf der anderen Seite glaube ich, dass sichtbare Fluchtrouten einen Wandel und nachhaltige Besserung bringen könnten.»

Vor allem wünsche sich Tanner aber, dass wieder mehr in Richtung Menschlichkeit und weniger in Zahlen gedacht wird. «Ich hoffe auf mehr zwischenmenschliche Solidarität und, dass Menschen andere Menschen unterstützen. Jedes Menschenleben verdient es, geschützt zu werden und in Frieden und Freiheit zu leben.»


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