Verhandlungen im Jahr 2022 Russland präsentiert angebliches Friedens-Papier – aber mehrere Details erstaunen

smi

14.6.2024

Delegationen Russlands und der Ukraine verhandelten im März 2022 in Istanbul mit der Vermittlung der Regierung Erdogan.
Delegationen Russlands und der Ukraine verhandelten im März 2022 in Istanbul mit der Vermittlung der Regierung Erdogan.
Bild: IMAGO/SNA

Einen Monat nach der russischen Invasion in der Ukraine sollen Moskau und Kiew sich über einen Friedensvertrag geeinigt haben. Der Westen habe diesen dann verhindert. Was ist an dieser Geschichte dran?

smi

14.6.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Immer wieder sagen Medien und nicht zuletzt Wladimir Putin, im März 2022 seien Kiew und der Kreml kurz vor einer Friedenseinigung gestanden. 
  • Allen voran Boris Johnson habe Selenskyj bei seinem Besuch untersagt, einen Friedensvertrag zu unterschreiben.
  • Mehrere Details widersprechen der These des vom Westen verhinderten Friedensschlusses.

Es ist heute, nach fast zweieinhalb Jahren Krieg in der Ukraine, kaum noch vorstellbar: Im ersten Monat nach der russischen Invasion verhandelten die beiden Staaten direkt über eine Friedenslösung. Die beiden Seiten sollen den Vertrag sogar bereits vorläufig unterschrieben – in der Sprache der Diplomatie «paraphiert» – haben.

Vermutlich Hunderttausende Ukrainer*innen und Russ*innen wären heute noch am Leben, zu Schutt und Asche bombardierte Städte würden noch stehen, hätten sich die beiden Seiten damals geeinigt. 

Doch dann, am 9. April, sei der damalige britische Premier Boris Johnson nach Kiew gereist und habe der Regierung Selenskyjs untersagt, sich mit Moskau vertraglich auf eine Friedensordnung zu einigen. So weit die Geschichte, wie sie Putin und auch einzelne Politiker und Medien im Westen präsentieren.

Boris Johnson reiste am 9. April 2022 als einer der ersten westlichen Staatschefs nach Kiew. 
Boris Johnson reiste am 9. April 2022 als einer der ersten westlichen Staatschefs nach Kiew. 
Bild: IMAGO/ABACAPRESS

Vertrag oder Vertragsentwurf?

Putin selber hat mehrmals ein Dokument präsentiert, das die Friedenseinigung festhalten soll, zum ersten Mal im Juni 2023 vor afrikanischen Staatschefs, wie die NZZ berichtet. Dieses trägt den 15. April 2022 als Datum. Zu diesem Zeitpunkt war Premier Johnson längst wieder abgereist. Er kann Selenskyj die Unterzeichnung dieses Dokuments also nicht ausgeredet haben. Die Verhandlungen dauerten zudem bis in den Mai 2022 an.

Das Papier ist zudem kein unterschriftsreifer Vertrag, sondern ein Entwurf, in dem die strittigen Punkte rot hervorgehoben sind. Die NZZ weist darauf hin, dass Putin bis heute nie die Unterschriften auf dem Dokument gezeigt hat. Der damalige ukrainische Chefunterhändler Dawid Arachamija habe zudem festgehalten, dass er nicht befugt gewesen wäre, einen Vertrag dieses Inhalts zu unterschreiben.

Es ist aber trotzdem möglich, dass die westlichen Verbündeten Kiew eindringlich abgeraten haben, mit dem Kreml einen Friedensvertrag einzugehen. Das US-Magazin «Foreign Affairs» schreibt dazu, dass die westlichen Staaten zu jenem Zeitpunkt nicht bereit gewesen seien, mit dem Kreml zu verhandeln und einen Vertrag einzugehen. 

Russische und ukrainische Unterhändler reichten sich im März 2022 in Belarus die Hand.
Russische und ukrainische Unterhändler reichten sich im März 2022 in Belarus die Hand.
Bild: Keystone/BelTA/AP/Maxim Guchek

Hätten die westlichen Verbündeten unterschrieben?

Hinzu kommt, dass Anfang April die Greueltaten in Butscha bekannt geworden sind. Diese reduzierte sowohl in Kiew als auch in den westlichen Hauptstädten die Bereitschaft, Putin die Hand zu reichen.

Ein Vertrag zwischen der Ukraine und Russland hätte mit grosser Wahrscheinlichkeit von Garantiemächten mitunterzeichnet werden müssen. Das wären auf der ukrainischen Seite die einflussreichen westlichen Staaten gewesen. Auch wenn Kiew und Moskau unter Vermittlung zuerst von Belarus, später von der Türkei direkt miteinander verhandelten – früher oder später hätten sich Vertreter der USA, europäischer Staaten oder der EU mit an den Tisch setzen müssen. 

Was Putins Dokument auch zeigt: In zentralen Punkten wie der Rückgabe von durch Russland besetzten Gebieten im Donbass und der Krim oder der maximalen Grösse der ukrainischen Armee waren sich die beiden Regierungen uneins. Der Kreml forderte ukrainische Streitkräfte von einer Dimension, mit der diese einem russischen Angriff nichts mehr entgegenzusetzen gehabt hätten.

Schon zu jener Zeit war bekannt, dass die beiden Seiten verhandeln und nach einer Möglichkeit suchen, den Krieg zu beenden. Sie nutzten die Verhandlungen aber auch, um Zeit für Truppenverschiebungen zu gewinnen. 

Selenskyj hat zudem immer wieder öffentlich gemacht, dass er einer militärisch neutralen, aber vom Westen beschützten Ukraine zustimmen würde. Wie Dokumente zeigen, die der NZZ und «Foreign Affairs» vorliegen, war Moskau bereit, einen solchen Status zu akzeptieren. Aber eine Einigung in allen entscheidenden Punkten, geschweige denn einen unterschriebenen Friedensvertrag, hat es nie gegeben.