Abseits von Ukraine und NahostDas sind die vergessenen Krisen auf der Welt
Dominik Müller
8.6.2024
Von den Ereignissen in Nahost und im Ukraine-Krieg liest man hierzulande täglich. Daneben existieren aber zahlreiche weitere humanitäre Krisen auf der Welt. Ein Überblick über fünf Notlagen.
Dominik Müller
08.06.2024, 09:42
08.06.2024, 10:12
Dominik Müller
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
blue News berichtet täglich von den Ereignissen rund um die Kriege in der Ukraine und in Nahost – genauso wie viele andere Medienhäuser.
Dabei geht mitunter vergessen, dass sich auch andernorts humanitäre Krisen abspielen, etwa in vielen Ländern auf dem afrikanischen Kontinent.
Eine Übersicht über die Notlagen in Angola, Sambia, Burundi, Mauretanien und im Senegal.
273'279. So viele Artikel erschienen im Jahr 2023 weltweit zum Film «Barbie». Von der humanitären Krise in Angola handelten dagegen nur 1049 Berichte – obwohl Dürren, Überschwemmungen sowie Hunger in Angola im vergangenen Jahr dazu führten, dass mehr als sieben Millionen Menschen humanitäre Hilfe benötigten.
Die Zahlen stammen von der internationalen Hilfsorganisation CARE. Die NGO veröffentlicht jährlich den Bericht «Breaking the Silence» über die humanitären Krisen, die am wenigsten mediale Aufmerksamkeit bekommen. Rund fünf Millionen Artikel auf Arabisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch wurden analysiert. Angola führt das Ranking 2023 wie bereits im Jahr zuvor an.
Die Gründe für die spärliche Berichterstattung sind schnell gefunden: Die Kriege in der Ukraine und in Nahost dominieren die Schlagzeilen. Auch blue News begleitet beide militärischen Konflikte mit Tickern und zahlreichen Artikeln. Viele Krisen in Afrika schwelen seit langer Zeit, es gibt wenig Entwicklung oder Veränderung. Das macht es für Medien schwierig, die Aufmerksamkeit für diese Kontexte aufrechtzuerhalten.
SRF: «Drehs in Afrika sind aufwändig, teuer und gefährlich»
So schreibt etwa SRF auf Anfrage von blue News: «Auch wenn die humanitären Katastrophen in Afrika furchtbar sind, erachten wir die Kriege in der Ukraine und Nahost als bedeutender und folgenreicher und sehen hier in der Folge eine grössere Erklärungsbedürftigkeit. Drehs in Afrika sind aufwändig, teuer und gefährlich, weswegen SRF dort weniger Personal und keine fixen Korrespondenten vor Ort hat.»
Die sinkenden personellen sowie finanziellen Ressourcen der Medienhäuser kommen erschwerend hinzu. Zu diesem Schluss kommt auch die deutsche Otto-Brenner-Stiftung in einer Publikation. Auslandberichterstattung vor Ort ist kostspielig, zumal der Arbeitgeber die Kosten für die Reise und Sicherheit der Journalist*innen übernehmen muss.
Trotzdem betont SRF: «Die Auslandthemen haben bei SRF einen hohen Stellenwert. Gleichzeitig ist der Platz für diese Berichterstattung beschränkt, da SRF einen Primat für Inland- und Bundesthemen hat.» Zuletzt berichtete SRF indes ausführlich über die humanitäre Katastrophe im Sudan.
Kein Handeln ohne Wissen
Der medialen Berichterstattung bei Krisen kommt eine wichtige Rolle zu: «Öffentliche Aufmerksamkeit ist extrem wichtig, damit die Menschen, die in Notlagen sind, auch Unterstützung bekommen können. Wenn wir nichts wissen über die Not von Menschen, dann fällt es auch schwer zu handeln», sagte Karl-Otto Zentel, Generalsekretär von CARE Deutschland, Anfang des Jahres in einem Interview.
Sprich: Gespendet wird nur für Krisen, die wahrgenommen werden. Auch protestiert wird nur gegen Notlagen, die durch Medien bekannt gemacht werden.
Und Krisen gibt es auf der Welt so einige – insbesondere auf dem Kontinent Afrika. Nachfolgend eine Übersicht über die fünf humanitären Krisen, über die gemäss der CARE-Auswertung am wenigsten berichtet wird.
Angola
Angola ist eines der grössten Länder Afrikas und stark vom Klimawandel betroffen. Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Sturzfluten, Waldbrände und langanhaltende Dürren werfen Angola immer wieder in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zurück. Die Landwirtschaft als Haupteinkommensquelle ist aufgrund der Klimaextreme stark zurückgegangen.
Das führt bei der Bevölkerung zu Hunger und Unterernährung: Rund 7,3 Millionen Menschen – darunter mehr als zwei Millionen Kinder – waren 2023 auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Die prekäre Situation wird durch Armut, unzureichende sanitäre und hygienische Bedingungen und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verstärkt. Auf dem Land haben nur 28 Prozent der Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Hinzu kommt, dass Angola seit dem Bürgerkrieg vor mehr als 20 Jahren eines der am stärksten verminten Länder der Welt ist. Tausende Menschen wurden durch Explosionen verletzt oder getötet.
Sambia
Auch die Republik Sambia im südlichen Afrika hat mit den Auswirkungen des Klimawandels zu kämpfen. Auf Überflutungen und Hochwasser folgen extreme Temperaturen und monatelange Phasen von Dürre. Ausgetrocknete Böden lassen den Anbau von neuen Getreidesaaten und Gemüse nicht zu.
In einem Land, in dem mehr als 60 Prozent der Bevölkerung von weniger als 2 Franken pro Tag leben, hat das schwerwiegende Folgen. Knapp 1,35 Millionen Menschen in Sambia sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Die hohen Preise für Lebensmittel stellen viele Familien vor schwierige Entscheidungen. Sie müssen die wenigen verbliebenen Bäume abholzen, um Holzkohle herstellen zu können oder sie sehen sich gezwungen, ihr Vieh zu verkaufen.
Der Fluss Sambesi, der über die berühmten Victoriafälle an der Grenze zwischen Sambia und Simbabwe in die Tiefe stürzt, führt immer weniger Wasser. Der Kariba-Damm sollte eigentlich Millionen Menschen mit Strom aus Wasserkraft versorgen. Mittlerweile kommt es aber zu langandauernden Stromausfällen, weil zu wenig Wasser durch die Turbinen fliesst.
Burundi
Burundi ist geprägt von politischen Umwälzungen und ethnischen Konflikten. Es hat das niedrigste geschätzte Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der Welt. Zwischen Juni und September 2023 herrschte für etwa 2,3 Millionen Menschen akute Ernährungsunsicherheit. Bei einer Bevölkerung von 13,2 Millionen Menschen sind das über 17 Prozent der Einwohner*innen.
Naturkatastrophen setzen dem sehr dicht besiedelten Land zu, der Lebensraum verkleinert sich zunehmend. Beispielsweise verloren Tausende Menschen ihr Zuhause, weil der Wasserspiegel des Tanganjikasees anstieg. Anfang 2023 befanden sich fast 250'000 Geflüchtete aus Burundi in der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda, Tansania und Uganda.
Nach Angaben des UNO-Welternährungsprogramms leiden in Burundi rund 5,6 Millionen Kinder unter fünf Jahren an chronischer Unterernährung. Die hohe Inflation verschärft die Situation. Mitte 2023 kletterte sie auf mehr als 26 Prozent. Die Preise für Grundnahrungsmittel stiegen sogar um teilweise mehr als 40 Prozent.
Senegal
Rund 1,4 Millionen Frauen, Männer und Kinder im Senegal haben nicht genug zu essen. Das ist ein drastischer Anstieg von mehr als 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Vor allem während der Trockenzeit steigt die Zahl der Menschen stark an, die unter Hunger oder Mangel- und Unterernährung leiden.
Zudem sind die Preise für Lebensmittel stark gestiegen, durchschnittlich um 17 Prozent. Bei Getreide, einem wichtigen Grundnahrungsmittel, war der Preisanstieg noch dramatischer: 60 Prozent mehr als im Vorjahr musste die Bevölkerung dafür im vergangenen Jahr auf den Tisch legen.
Von der Krise sind Frauen und Mädchen überproportional betroffen. Sie haben zumeist einen eingeschränkten Zugang zu finanziellen Mitteln und ein geringeres Mitspracherecht. Das führt dazu, dass es ihnen schwerfällt, sich auf Notsituationen vorzubereiten.
Mauretanien
Mauretanien liegt am westlichen Rand der Sahara. Es gehört zu den ärmsten Ländern der Welt und ist eigentlich geprägt von extrem trockenem Wetter und einem Mangel an Niederschlägen. Doch das hat sich zuletzt geändert: In den Jahren 2022 und 2023 brachten heftige Regenfälle starke Überschwemmungen. Menschen starben, Ernten wurden vernichtet und Vieh ertrank.
2023 waren etwa 1,1 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Rund 500'000 Menschen hatten nicht genug zu essen. Etwa 22 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, das ist knapp jeder vierte Mensch im Land. Zudem müssen rund 12,5 Prozent der Kinder zwischen fünf und 14 Jahren arbeiten. Sie sind in der Landwirtschaft schlimmsten Formen von Kinderarbeit ausgesetzt.
Mädchen müssen die Schule oft früh verlassen. In 39 Prozent der Fälle sind Kinderehen der Grund, in 18 Prozent eine frühe Schwangerschaft. Rund 37 Prozent der Frauen sind vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. Viele Frauen sterben, weil sie zu jung schwanger werden, in kurzem Abstand Kinder bekommen oder wegen unzureichender medizinischer Versorgung.