Ukraine darf neu Ziele in Russland angreifen Der Westen gibt «Feuer frei» – was passiert als Nächstes?

Philipp Dahm

31.5.2024

Bundesregierung erlaubt Ukraine Waffeneinsatz in Russland

Bundesregierung erlaubt Ukraine Waffeneinsatz in Russland

Es ist ein historischer Wendepunkt: Erstmals darf die Ukraine deutsche Waffen gegen militärische Zeiel in Russland einsetzen. Die Bundesregierung erklärte, Russland habe aus Grenzgebieten Angriffe auf Charkiw vorbereitet und koordiniert. Daher habe die Ukraine nun das Recht, sich mit den gelieferten Waffen zu verteidigen.

31.05.2024

Nach Deutschland haben auch die USA Kiew erlaubt, russisches Territorium mit aus dem Westen gelieferten Waffen anzugreifen. Welche kommen dafür infrage – und wo könnten diese zuschlagen?

Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Ausser Italien haben fast alle westlichen Staaten der Ukraine erlaubt, ihre Waffen gegen militärische Ziele in Russland einzusetzen, die Charkiw bedrohen.
  • Für derlei Attacken kommen nur wenige westliche Waffensysteme infrage.
  • Welche Ziele könnte Kiew angreifen? Das sind die Truppenkonzentrationen gleich hinter der Grenze.
  • Das sind militärische Ziele in Russland, östlich von Charkiw.
  • Das sind militärische Ziele bei Sumy – und diese Einheit aus Kursk dürfte sehr wahrscheinlich auf Kiews Abschussliste stehen.

Noch zum Wochenbeginn sieht es nicht rosig aus für die ukrainischen Streitkräfte: Sie sind einigermassen machtlos, wenn am Montag, dem 27. Mai, Charkiw mehrfach von russischen Raketen getroffen wird.

Doch nur vier Tage später sieht die Welt ganz anders aus: Zunächst gibt Kanzler Olaf Scholz seinen Widerstand auf und erlaubt Kiew, deutsche Waffen auch auf russischem Territorium einzusetzen. Kurz danach fällt auch der Dominostein in Washington: Nun erlegt bloss noch Italien der Ukraine Restriktionen auf, was das Thema angeht.

Genau genommen haben aber auch die USA nicht Deutschland «Feuer frei» gegeben: Die ukrainische Armee darf zwar Waffen aus diesen Ländern einsetzen, aber das nur zum Schutz von Charkiw und im Rahmen des Völkerrechts. Letztere Einschränkung ist jedoch überflüssig: Im Gegensatz zu Moskau greift Kiew bisher nämlich keine zivilen Ziele an.

Was Kiew gegen russisches Gebiet einsetzen könnte

Was bringen die Neuerungen Wolodymyr Selenskyj? Der Präsident und seine Militärs werden aus der misslichen Lage befreit, sich im Osten des Landes nicht wehren zu können. Die russische Armee sammelt ihre Truppen ganz bewusst hinter der Grenzen, weil sie weiss, dass sie mit Blick auf westliche Waffen dort bisher unantastbar war.

Kiew könnte zwar Drohnen aus eigener Produktion einsetzen, doch diese sind gegen Truppenkonzentrationen kaum effektiv. Doch nun ergeben sich neue Optionen: Weil Paris und London keine Einschränkungen mehr machen, können Scalp- und Storm-Shadow-Raketen gegen Kommandozentralen und andere wichtige Ziele eingesetzt werden. 

Das grüne Licht aus Deutschland macht kaum einen Unterschied: Allenfalls der Raketenwerfer M270 Mars 2 könnte gegen Russland eingesetzt werden. Die fünf von Berlin gelieferten Raupenfahrzeuge können wie auch amerikanische HIMARS-Einheiten ATACMS-Munition verschiessen, die noch das effektivste Kampfmittel sind, wenn es um Attacken auf Russland geht.

Wo könnte Kiew hinter der Grenze zuschlagen?

Die ATACMS-Raketen gibt es in verschiedenen Ausführen: Sie kann entweder 165 oder 300 Kilometer weit geschossen werden und kann mit Hochexplosiv-Geschossen, Streumunition oder Penetrations- und Splittergefechtsköpfen ausgestattet werden. Die Kurzstreckenraketen sind deshalb das geeignetste Mittel, um Truppenkonzentrationen oder Militärbasen in Russland anzugreifen.

Auch die ukrainische Rohrartillerie könnte gegen russisches Gebiet eingesetzt werden, was angesichts von Reichweiten von 30 bis 90 Kilometer im Fall der Panzerhaubitze 2000 aber mit einem Risiko behaftet ist. Das gilt auch für die britische Panzerhaubitze AS-90, das schwedische Archer- oder das französische Caesar-System.

Oben links: Ustinka. Oben rechts: Nowaja Tavolschanka.
Oben links: Ustinka. Oben rechts: Nowaja Tavolschanka.
DeepStateMap

Wo sind etwaige Ziele in Russland? Zum einen sind wie angetönt Truppenkonzentrationen nahe der Grenze gefährdet. Diese sind mal an strategisch wichtigen Punkten stationiert, wie etwa das russische 380. motorisierte Schützenregiment, das in Ustinka eine Brücke bewacht. 

Kaserne in Nowaja Tavolschanka.
Kaserne in Nowaja Tavolschanka.
Google Earth

In Nowaja Tavolschanka ist ein Panzerregiment in einer Kaserne nur vier Kilometer hinter der Grenze stationiert.

Militärische Einrichtungen östlich von Charkiw

Östlich dieses Frontabschnitts gibt es in Soloti und Waluiki weiterhin zwei Stützpunkte der 20. Gardearmee, die rund 25 Kilometer von der Grenze entfernt sind.

In Soloti gibt es einen grossen Übungsplatz der russischen Armee (unten links).
In Soloti gibt es einen grossen Übungsplatz der russischen Armee (unten links).
Google Earth
In der Kaserne in Waluiki ist das 237. Garde Panzerregiment sowie ein Aufklärungs- und ein Fernmeldebataillon beheimatet.
In der Kaserne in Waluiki ist das 237. Garde Panzerregiment sowie ein Aufklärungs- und ein Fernmeldebataillon beheimatet.
Google Earth

Weitere Einheiten der 20. Gardearmee sind in Bogutschar wie die 1. Selbständige Panzerbrigade untergebracht. Hier ist zudem das Hauptquartier der 3. Motorisierten Schützendivision.

Bogutschar mit seiner Kaserne (unten links).
Bogutschar mit seiner Kaserne (unten links).
Google Earth

Hier noch eine andere Karte zur Orientierung.

Russische Stützpunkte östlich von Charkiw in Soloti und Waluiki (Mitte) und Bogutschar (rechts).
Russische Stützpunkte östlich von Charkiw in Soloti und Waluiki (Mitte) und Bogutschar (rechts).
Karte: Georgian Foundation for Strategic and International Studies

Potenzielle Ziele bei Sumy

Bereits vor einigen Tagen meldete das Institute for the Study of War mit Verweis auf ukrainische Quellen, dass die russische Armee Truppen im Gebiet von Kursk zusammenzieht, um Druck auf die Verteidiger in Sumy auszuüben. Die Stadt liegt rund 130 Kilometer nordwestlich von Charkiw. Bis zur russischen Grenze sind es rund 30 Kilometer.

Markiert: Lage von Sumy. Kursk liegt 125 Kilometer nordöstlich von Sumy.
Markiert: Lage von Sumy. Kursk liegt 125 Kilometer nordöstlich von Sumy.
Google Earth

Russische Truppenkonzentrationen hinter der Grenze könnten ebenso zu einem Ziel der ukrainischen Streitkräfte wie Kursk selbst werden, wo es einen russischen Militärflugplatz gibt. Kursk selbst liegt rund 90 Kilometer hinter der Grenze nach Russland.

Militärisches Ziel: der Militärflugplatz von Kursk.
Militärisches Ziel: der Militärflugplatz von Kursk.
Google Earth

Kursk ist aber vor allem auch die Heimat der 448. Raketenbrigade, die mit ihren Iskander- und Totschka-Flugkörpern massgeblich für das Bombardement von Charkiw verantwortlich sein dürfte.