Satellitenbilder und Seefunk-Daten Russland schmuggelt ukrainisches Getreide für Putins Kriegskasse

Von Michael Biesecker, Sara el Deeb und Beatrice Dupuy, AP

4.10.2022 - 06:35

Schiffe, die angeblich Ladung aus Russland exportieren, lassen sich stattdessen zu Häfen in der Krim zurückverfolgen. Dort laden sie offenbar in grossen Mengen aus der Ukraine gestohlenes Getreide auf, wie die Recherche von AP und dem Sender PBS zeigt.

Als das Schiff «Laodicea» im Sommer mit rund 10'000 Tonnen Weizenmehl und Gerste im Libanon anlegte, riefen ukrainische Diplomaten zur Beschlagnahmung auf. Der Frachter habe ukrainisches Getreide an Bord, das Russland dem Nachbarn gestohlen habe, hiess es. Russland wies die Vorwürfe zurück, und auch die libanesische Generalstaatsanwaltschaft erklärte, es gebe keine Hinweise auf gestohlene Güter.

Doch Recherchen der Nachrichtenagentur AP und der Dokumentation «Frontline» des US-Senders PBS zeigen: Die «Laodicea», die in syrischem Besitz ist, gehört zu einem ausgeklügelten Schmuggelsystem unter russischer Ägide. Mit im Spiel sind gefälschte Ladungsverzeichnisse und trickreiche Manöver auf dem Seeweg, um ukrainisches Getreide abzugreifen. Bislang beläuft sich der Wert des Diebesguts auf mindestens 530 Millionen Dollar – Geld, das die Kriegsmaschinerie des russischen Präsidenten Wladimir Putin mitfinanzieren hilft.

Mithilfe von Satellitenbildern und Seefunk-Daten verfolgte die AP drei Dutzend Schiffe, die mehr als 50 Mal Getreide aus von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine zu Häfen in der Türkei, Syrien, im Libanon und in weiteren Ländern transportierten. Akteure in dem Diebstahlgeschäft, das nach Einschätzung von Rechtsexperten ein potenzielles Kriegsverbrechen ist, sind reiche Geschäftsleute und staatliche Unternehmen in Russland und Syrien.

Erntevernichtung treibt Preise in Höhe

Derweil greifen die russischen Streitkräfte Bauernhöfe, Getreidesilos und Umschlagplätze, die noch unter ukrainischer Kontrolle sind, mit Artilleriegeschossen und aus der Luft an. Damit vernichten sie Ware und treiben die Preise in die Höhe.

Die «Laodicea» am 29. Juli 2022 im Hafen von Tripoli im Libanon.
Die «Laodicea» am 29. Juli 2022 im Hafen von Tripoli im Libanon.
Bild: Keystone/AP Photo

Das Getreide und Mehl an Bord der 138 Meter langen «Laodicea» begann seine Reise wahrscheinlich in der südukrainischen Stadt Melitopol, die Russland in den ersten Tagen des Krieges erobert hatte. Videoaufnahmen, die am 9. Juli in sozialen Medien auftauchten, zeigen einen Zug, der vor einem riesigen Getreidespeicher in Melitopol vorfährt. Zu sehen sind grüne Waggons mit der Aufschrift des russischen Unternehmens Agro-Fregat LLC und einem Logo in Form einer Weizenähre.

Die Besatzer holten grosse Mengen an Getreide aus der Region und brachten sie mit Zügen und Lastwagen zu Häfen in Russland und der besetzten Halbinsel Krim, sagte der Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fedorow, AP-Reportern. Ein Satellitenbild vom 11. Juli zeigt die «Laodicea» im Krim-Hafen Feodosia.

Schiff mit zu viel Tiefgang

Als das Schiff zwei Wochen später in der libanesischen Stadt Tripoli einlief, gab die Besatzung an, Getreide aus einem kleinen russischen Hafen auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres an Bord zu haben. Auch in den Ladepapieren, von denen der AP eine Kopie vorliegt, hiess es, der Starthafen sei Kawkas in Russland gewesen. Als Spediteur wird Agro-Fregat genannt, das Unternehmen, dessen Name auch auf den Waggons von Melitopol prangte. Als Käufer war der Lebensmittelgrosshändler Loyal Agro Co. Ltd. Mit Sitz in der Türkei gelistet.

Getreide aus der Ukraine auf einem Schiff im Hafen von Djibouti am Horn von Afrika, wo Millionen Menschen hungern. (30. August 2022)
Getreide aus der Ukraine auf einem Schiff im Hafen von Djibouti am Horn von Afrika, wo Millionen Menschen hungern. (30. August 2022)
Bild: Keystone/WFP via AP/Hugh Rutherford

Agro-Fregat reagierte nicht auf Fragen per E-Mail, die auf der Website genannte Telefonnummer war in der vergangenen Woche nicht geschaltet. Ein Sprecher von Loyal Agro erklärte, die Ladung komme aus Russland.

Doch die «Laodicea» kann ihre Ladung nicht in Kawkas aufgenommen haben. Der Rumpf des Schiffes mit acht Meter Tiefgang wäre in dem flachen russischen Hafen aufgelaufen. Dort beträgt die maximale Tiefe 5,3 Meter. Der Hafen von Feodosia hingegen ist mehr als doppelt so tief.

Unternehmen von Putin-Vertrauten

Ein weiterer Name, der im Zusammenhang mit dem Getreideschmuggel auftaucht, ist der des staatlichen russischen Schiffbauers United Shipbuilding Corp. (USC). Über seine Tochter Crane Marine Contractor kaufte das Unternehmen, das wegen seines Beitrags zur Rüstungsindustrie von den USA mit Sanktionen belegt ist, nur Wochen vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine drei Frachtschiffe. Das fällt auf, denn es steht im Kontrast zum eigentlichen Kerngeschäft, nämlich Plattformen in der Gas- und Ölindustrie.

Diese drei Schiffe haben seitdem mindestens 17 Fahrten zwischen der Krim und Häfen in der Türkei und Syrien zurückgelegt. Bei einem Anruf in dem Tochterunternehmen meldete sich der Empfang mit dem Namen der Firma. Der Mann, zu dem die Rezeptionistin durchstellte, erklärte der AP jedoch, sie habe die falsche Nummer gewählt. Er weigerte sich, seinen Namen zu nennen.

Eines der drei Schiffe, die «Michail Nenaschew», war etwa Mitte Juni auf Satellitenaufnahmen zu sehen, wie sie Ladung im Krim-Hafen Sewastopol aufnahm. Der Frachter lief am 25. Juni in Dörtyol in der Türkei ein und legte an einem Pier des Stahlproduzenten MMK Metalurji an. Dieser wiederum wird von dem russischen Milliardär Viktor Raschnikow kontrolliert, einem Putin-Vertrauten. Raschnikow und sein Unternehmen stehen auf den Sanktionslisten in den USA, der EU und Grossbritanniens.

Schmuggel geht weiter

In einer E-Mail an die AP erklärte MMK, das Getreide komme aus Russland: «Der Ort, an dem die genannte Fracht verladen wird, ist Port Kawkas.» Wie die «Laodicea» hat aber auch die «Michail Nenaschew» einen zu grossen Tiefgang für den flachen russischen Hafen.

Die türkischen Behörden haben zugesichert, illegalen Schmuggel zu unterbinden. Noch im Juni erklärte aber Aussenminister Mevlüt Cavusoglu auf einer Pressekonferenz, sein Land habe keine Hinweise auf Diebstahl gefunden.

Ungeachtet dessen, was die Dokumente behaupten, der Schmuggel geht weiter: Die «Matros Koschka» von Crane Marine Contractor fuhr vergangene Woche im Schwarzen Meer den Norden mit dem angegebenen Ziel Kawkas – bevor sie ihren Transponder abschaltete. Satellitenbilder vom Donnerstag zeigten das 161 Meter lange Schiff dann am Getreideterminal im besetzten ukrainischen Hafen von Sewastopol.

Von Michael Biesecker, Sara el Deeb und Beatrice Dupuy, AP