Und noch ein AktDie endlose Nervenprobe um den Brexit
sda/tafu
15.10.2020
Im Juni 2016 entschieden sich die Briten für den EU-Austritt. Bis heute herrscht Unsicherheit, was danach kommt. An diesem Donnerstag soll wieder einmal ein EU-Gipfel beraten, wie es weitergeht.
Es ist nicht vorbei, bis es vorbei ist. Dieser seltsame Spruch gilt auch für den Brexit. Auch nach viereinhalb Jahren geht die Hängepartie um den britischen EU-Austritt weiter und zerrt an den Nerven Tausender Unternehmer und Zehntausender Arbeitnehmer, die zum Jahresende wirtschaftliches Chaos fürchten.
Noch hält sich der britische Premierminister Boris Johnson offen, den Verhandlungstisch zu verlassen und das anvisierte Handelsabkommen mit der Europäischen Union platzen zu lassen. Das bekräftigte er am Mittwochabend nach einem Telefonat mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratschef Charles Michel. Brüssel erwartet aber, dass die Arbeit an dem Pakt weitergeht. An diesem Donnerstag berät der EU-Gipfel den Stand der Dinge.
Halten beide Seiten eine Einigung noch für möglich?
Die Stimmung schwankt, aber noch gibt es Hoffnung. Während Johnson bislang versprach, dass Grossbritannien auch ohne Einigung eine «fantastische Zukunft» bevorstehe, betont er nun, dass London und Brüssel von einem Handelspakt profitieren könnten.
Staatsminister Michael Gove bezifferte die Erfolgsaussichten für einen Deal auf 66 Prozent. Der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange sieht die Chance nur bei 40 Prozent und bemüht das deutsche Liedgut: «Entweder Katja Ebstein: ‹Wunder gibt es immer wieder› oder Christian Anders: ‹Es fährt ein Zug nach Nirgendwo›.»
Die EU wolle aber weiter verhandeln. Dabei sind in Brüssel viele verärgert, seit Johnson mit seinem Binnenmarktgesetz versucht, Sonderregeln für Nordirland im bereits gültigen Brexit-Abkommen auszuhebeln. London spricht von einem «Sicherheitsnetz», Brüssel jedoch von Vertragsbruch. Misstrauen trübt nun die Verhandlungen über das neue Abkommen.
Worüber wird eigentlich verhandelt?
Ein Handelspakt soll die Beziehungen nach der wirtschaftlichen Trennung neu regeln. Grossbritannien hat die EU zwar schon im Januar verlassen, ist aber bis Jahresende noch im Binnenmarkt und in der Zollunion. Der Vertrag soll Zölle verhindern und den Handel so störungsfrei wie möglich halten.
Etliche weitere Themen werden mit verhandelt, darunter polizeiliche Zusammenarbeit, Datenschutz, Klimaschutz, Sozialversicherungsfragen, Aufenthaltsrechte und vieles mehr. Ein mehrere Hundert Seiten starkes Abkommen soll zum 1. Januar 2021 in Kraft treten – eigentlich. Doch zweieinhalb Monate vor dem Stichtag gibt es keinen beidseits akzeptierten Vertragstext. Man habe zwar Fortschritte in vielen Punkten gemacht, aber eben noch nicht in den entscheidenden, heisst es auf beiden Seiten.
Woran hängt es?
Es gibt drei Knackpunkte: Da ist zum einen der Zugang für EU-Fischer zu britischen Gewässern – für die EU-Küstenstaaten wie Frankreich ist das ein ebenso emotionales Thema wie für Grossbritannien, das endlich alleine über seine reichen Fischgründe bestimmen will.
Zweiter zentraler Punkt ist das sogenannte Level Playing Field: Die EU will im Gegenzug für zollfreien Zugang zum Binnenmarkt gleiche Umwelt-, Sozial- und Beihilfestandards als Schutz vor Dumping. Doch Grossbritannien will sich von der EU nicht mehr reinreden lassen. Das gilt auch für Punkt drei, die sogenannte Governance: Die EU verlangt ein zuverlässiges Schlichtungsinstrument für den Fall, dass eine Seite vom Vertrag abweicht. Damit beisst sie in London auf Granit.
Welche Rolle spielt Premier Boris Johnson bei den Verhandlungen?
Johnson war über weite Strecken kaum präsent, allenfalls in wortgewaltigen Reden von London aus. Kritiker werfen ihm vor, ein Grossmaul und schlechter Krisen-Manager zu sein, der beim Brexit – ebenso wie bei der Bekämpfung der Coronakrise – einen Schlingerkurs fahre. Johnson will nach dem am Freitag zu Ende gehenden EU-Gipfel entscheiden, ob London die Verhandlungen abbricht.
Der EU-Abgeordnete David McAllister rechnet mit einer Entscheidung Johnsons bis Montag. Nach seinem Telefonat mit Michel und von der Leyen liess der Premier erklären, ein Deal sei zwar «wünschenswert», doch sei er enttäuscht über die langsamen Fortschritte. Beim Gipfel dürfte es im Kreis der 27 EU-Staaten darum gehen, welche Spielräume bleiben. Doch sieht die EU vor allem London in der Pflicht. Grossbritannien müsse «die nötigen Schritte tun, um ein Abkommen möglich zu machen», heisst es im Entwurf der Gipfel-Erklärung.
Wer wären die Verlierer bei einem No Deal?
Wohl die meisten. Die Auswirkungen für Grossbritannien dürften Prognosen zufolge erheblich sein: Zölle und weitere Handelshemmnisse würden eingeführt, Tausende Lastwagen könnten sich wegen der Grenzkontrollen im Raum Dover stauen, Regale in Supermärkten und Apotheken leer sein – dies wäre wohl das Letzte, was das von der Pandemie getroffene Vereinigte Königreich gebrauchen könnte.
Auch die EU-Staaten würden gebeutelt. Zehntausende Jobs seien in Gefahr, warnte der Bundesverband der Deutschen Industrie erst am Mittwoch gemeinsam mit Wirtschaftsverbänden in Frankreich und Italien. In Deutschland sorgt sich vor allem die angeschlagene Autobranche. In Grossbritannien drohen zusätzlich innenpolitische Verwerfungen: Schottlands Bestreben nach Unabhängigkeit könnte noch grösser werden und die Oppositionspartei Labour punkten.