Lagebild Ukraine Moskau stösst langsam vor – Kiew aber auch

Von Philipp Dahm

18.4.2023

«Die Zeit heilt die Wunde nicht»: Kriegswitwen in der Ukraine

«Die Zeit heilt die Wunde nicht»: Kriegswitwen in der Ukraine

Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine halten sich beide Seiten bedeckt, was die Zahl der getöteten Soldaten betrifft. Doch es sterben täglich mehr Menschen im Kampf an der Frontlinie; zwei ukrainische Witwen sprechen über den Schmerz, den

18.04.2023

Weil Moskau aus seinen Fehlern lernt, wird die Lage in Bachmut für die Verteidiger immer prekärer. Die russischen Angreifer haben den Bahndamm überschritten und rücken weiter Richtung Westen vor.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Russland hat dazugelernt, wendet in Bachmut neue Taktiken an und frisst sich immer weiter in den Westteil der Stadt vor.
  • Der Bahndamm ist als Verteidigungslinie durchbrochen worden. Im Norden von Bachmut ist das Getreidesilo eingenommen worden.
  • Die Schlacht bleibt blutig: Verluste sind offenbar nach wie vor hoch. Das gilt auch für den Kampf um Awdijwka.
  • Russische Versuche, strategisch wichtige Stellungen in Awdijwka zurückzuerobern, sind fehlgeschlagen.

Die ukrainische Grossoffensive beginnt am 30. April, meldet die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass. Sie beruft sich auf das US-Magazin «Newsweek», das dies wiederum durch die Pentagon-Leaks erfahren haben will.

Ein ukrainischer Soldat am 12. April in Bachmut.
Ein ukrainischer Soldat am 12. April in Bachmut.
AP

Kiew hat dafür demnach neun Brigaden zusammengezogen, die derzeit mit westlichem Gerät ausgestattet werden. Angeblich sind 253 Panzer, 381 Schützenpanzer, 147 Artillerie-Systeme und Hunderte Fahrzeuge für die Attacke eingeplant.

Der Termin Ende April scheint nicht unrealistisch zu sein: Derzeit sind die Böden in der Ukraine immer noch schlammig, sodass an schnelle Vorstösse mechanisierter Einheiten nicht zu denken ist. Ob die Newsweek-Angaben stimmen, kann allerdings nicht überprüft werden.

Das US-Magazin berichtet auch, dass es um die Moral der Verteidiger in Bachmut nicht gut bestellt ist. Tass greift das dankbar auf und ergänzt: «Laut US-Geheimdienst wäre der Verlust von Artjomowsk (russischer Name von Bachmut, Anm. d. Red), das Stück für Stück in die Hände russischer Kräfte fällt, ‹ein psychologischer Rückschlag› für die ukrainische Armee.»

Moskau lernt aus seinen Fehlern

Der Kreml tut alles dafür, dass dieses Szenario wahr wird. Die erschöpften und dezimierten Wagner-Truppen sind durch reguläre Luftlande-Einheiten verstärkt oder ersetzt worden. Gemeinsam erhöhen sie den Druck: Statt Gruppen von 5 bis 10 Soldaten werden nun 20 bis 40 Soldaten zur Erstürmung von Positionen entsandt.

Und: Moskau lernt aus seinen Fehlern, wie sich im Norden von Bachmut zeigt. Dort sind bisher alle Angriffe auf das Getreidesilo an der Bahnlinie gescheitert, weil die Verteidiger von Westen mühelos Verstärkung schicken konnten, berichtet Reporting from Ukraine.

Russische Truppen können das Getreidesilo erobern (drei rote Pfeile) – und aus dieser Position zusammen mit den Truppen im Norden die Verteidiger zum Rückzug zwingen.
Russische Truppen können das Getreidesilo erobern (drei rote Pfeile) – und aus dieser Position zusammen mit den Truppen im Norden die Verteidiger zum Rückzug zwingen.
YouTube/Reporting from Ukraine

Doch dank der Verstärkungen macht die russische Armee zuerst ganz im Norden Druck, bindet dort ukrainische Truppen und greift dann erneut das Getreidesilo an. Die Eroberung droht in der Folge, ukrainische Truppen einzuschliessen: Sie müssen sich zurückziehen. Die russische Truppenkonzentration wird im Gegenzug mit Artillerie eingedeckt.

Kämpfe in Bachmut «jeden Tag in jeder Ecke der Stadt»

Heftige Kämpfe toben auch nach wie vor um den Bahnhof der Stadt, der mehrfach den Besitzer beziehungsweise Besatzer wechselt. Derzeit ist er in ukrainischer Hand, dafür haben russische Truppen angeblich weiter südlich den aufgeschütteten Bahndamm überquert und sich dort festgesetzt.

Eine Karte von Bachmut vom 17. April. Die schraffierte Fläche ist ein Kasernenareal, das jedoch schon lange eingeäschert worden ist.
Eine Karte von Bachmut vom 17. April. Die schraffierte Fläche ist ein Kasernenareal, das jedoch schon lange eingeäschert worden ist.
Karte: Militaryland

Beunruhigend für die Verteidiger ist, dass das Dorf Iwaniwske an der Autobahn H-32 südwestlich vor Bachmut sowie der Vorort Khromove im Norden an der Verbindungsstrasse nach Tschassiw Jar immer mehr in Schlagweite der russischen Angreifer kommen. Doch der Sprecher der ukrainischen Armee gibt sich standhaft.

«Mitten im urbanen Stadtgebiet tobt eine blutige Schlacht, wie es sie in den letzten Dekaden nicht gegeben hat», wird Serhiy Cherevatiy zitiert. «Unsere Soldaten tun alles, um in blutigen und heftigen Kämpfen die Kampfkraft [des Gegners] zu mindern und seine Moral zu brechen. Jeden Tag, in jeder Ecke der Stadt, machen sie das erfolgreich.»

Panzer-Duell bei Awdijwka

Auch 50 Kilometer weiter südlich versucht der Kreml, mit frischen regulären Soldaten eine Schlacht entscheidend zu beeinflussen: jene um Awdijwka. Dort haben ukrainische Truppen zuletzt in Gegenoffensiven strategisch wichtige Punkte eingenommen.

Strategisch wichtige Punkte (blau) in Awdijwka, die die Ukraine erobert hatte und halten konnte.
Strategisch wichtige Punkte (blau) in Awdijwka, die die Ukraine erobert hatte und halten konnte.
YouTube/Reporting from Ukraine

Diese versuchen sich die Russen nun zurückzuholen, berichtet Reporting from Ukraine: Sie greifen die erhöhten Stellungen von den südlich gelegenen Dörfern Vodyane und Optyne aus an, werden jedoch von Panzern und Artillerie-Granaten gestört. Auch der Nachschubweg zu den Dörfern ist in Schussdistanz ukrainischer Einheiten.

Ein ukrainischer Panzer (blau) duelliert sich mit russischen Panzern in etwa 1,5 Kilometer Entfernung im Süden von Awdijwka.
Ein ukrainischer Panzer (blau) duelliert sich mit russischen Panzern in etwa 1,5 Kilometer Entfernung im Süden von Awdijwka.
YouTube/Reporting from Ukraine

Unter Verweis auf russische Militärs heisst es, dass die Verlustrate der Angreifer in Awdijwka noch höher sei als in Bachmut. Das könnte aber auch der Tatsache geschuldet sein, dass hier viele Truppen aus den von Russland annektierten Donbass-Republiken kämpfen, die weniger gut ausgebildet und ausgerüstet sind.

Waffen-Update

Wie ein Bild auf Telegram zeigt, sind die amerikanischen Schützenpanzer vom Typ Bradley bei der ukrainischen Armee angekommen. Die Slowakei hat ausserdem sämtliche 13 Mig-29-Jets überführt, die Kiew versprochen worden sind. Aus Kanada soll demnächst zusätzlich eine konfiszierte russische An-124 einschweben.

Das ist alles Werkzeug, das – mal abgesehen vom Transportriesen – in der kommenden Offensive eingesetzt werden soll, über die schon lange gesprochen wird. Und zwar so lange, dass Russland sich in Ruhe darauf einstellen konnte: 800 Kilometer Schützengräben hat Moskau ausheben lassen, berichtet die spanische Zeitung «El Pais» in einem grafisch grossartig aufgemachten Artikel auf Englisch.

Für Verteidiger wie auch für Angreifer sind elektronische Kampfmittel wichtig: Sie erfassen den Gegner und stören seine Signale. Angeblich hat die ukrainische Seite allein 13,5 Prozent der entsprechenden russischen Bestände erobert und übernommen. Insgesamt soll sie in diesem Bereich Russland Schäden in Höhe von über 1 Milliarde Dollar zugefügt haben.