Russland-Kenner zum Tag des Sieges«Die Zeit spielt gegen Putin»
Von Philipp Dahm
8.5.2022
Vor dem Tag des Sieges am 9. Mai rätselt die Welt, was Russland als Nächstes tut. Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen wagt einen Ausblick, erklärt das Atom-Gebaren und die Gerüchte über eine Krankheit Putins.
Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten russische Medientheorien und Nationalismus in Osteuropa. Der Zürcher lehrte oder lehrt an den Universitäten Bern, Basel, Bochum und Oslo.
Herr Schmid, es wird gerade viel gedroht: Glauben Sie, es ist realistisch, dass Wladimir Putin eine Atomrakete auf die USA schiesst?
Ich denke, das ist Teil des Informationskriegs: Man ruft dem westlichen Publikum und dem Gegner immer mal wieder in Erinnerung, dass man eine Atommacht ist. Im Prinzip kann Putin jetzt einen Vorteil daraus ziehen, dass viele im Februar darüber gerätselt haben: Marschiert der nun ein, oder nicht? Er ist entgegen einer weitverbreiteten Erwartung tatsächlich einmarschiert, und das erhöht natürlich die Wirksamkeit der Drohung eines Atomwaffeneinsatzes.
Denken Sie, er könnte diese Drohung auch wahrmachen?
Nein, das hätte ja nur einen Sinn, wenn es einen Hiroshima-Effekt geben würde, also wenn er eine taktische Atomwaffe zündet, um die Ukraine zum Aufgeben zu zwingen. Aber dem Kreml wird auch klar sein, dass die russische Bevölkerung einen solchen Schlag nicht akzeptieren würde. Putin käme dann nicht mehr mit der Begründung durch, es handele sich beim russischen Einsatz um eine militärische Spezial-Operation.
Würde Putin eine taktische Atomwaffe einsetzen, wenn die Ukraine Russland auf der Krim zurückdrängt?
Das halte ich für unwahrscheinlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch die ukrainische Armee jetzt eine neue Front eröffnet. Im Prinzip ist der Einsatz von Atomwaffen – und Aussenminister Sergej Lawrow hat das oft wiederholt – durch eine klare Doktrin gedeckt. Diese besagt, dass der Einsatz möglich ist, wenn der russische Staat in seiner Existenz bedroht wäre.
Britische Boulevardblätter berichten von einer Krebs-Operation: Was wissen Sie über den Gesundheitszustand von Herrn Putin?
Das ist etwas, was nicht erst seit gestern auf dem Tapet ist: Es wird seit Jahren darüber spekuliert, wie gesund Putin tatsächlich ist. Es gab eine Untersuchung eines Journalistenkollektivs, das seine Abwesenheiten mit der Verfügbarkeit eines Ärzteteams abgeglichen hat. Man hat gesehen, dass das eigentlich übereinstimmt. Das heisst: Man kann nicht ausschliessen, dass Putin Gesundheitsprobleme hat. Wenn seine Lebenszeit begrenzt sein sollte, wäre das eine Erklärung für den Zeitpunkt des relativ kühnen Angriffs auf die Ukraine. Es wäre ein Grund, sich jetzt für ein militärisches Eingreifen und das Durchsetzen einer historischen Mission zu entscheiden. Am Ende ist das aber reine Spekulation.
Apropos Spekulation: Teilen Sie die Meinung, dass am Tag des Sieges am 9. Mai etwas Grosses verkündet werden wird?
Ich halte es durchaus für wahrscheinlich, dass ein Referendum in Donezk und Luhansk angekündigt wird. Das könnte nach dem Muster der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation erfolgen. Die amerikanischen Geheimdienste erwarten eine solche Abstimmung für Mitte Mai.
Es gibt auch Spekulationen, dass Moskau eine Mobilmachung verkünden könnte. Worin läge dabei die Gefahr für den Kreml?
Im Moment ist es so, dass die russische Armee je zur Hälfte aus Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten besteht. Eigentlich sollten nur die Zeitsoldaten im Ausland zum Einsatz kommen. Wenn es jetzt zu einer allgemeinen Mobilmachung käme, wäre in Russland wahrscheinlich auch der Konsens hinter der angeblichen Spezial-Operation gefährdet. Ich denke, der Kreml wird sich sehr genau überlegen, ob man das durchführen wird.
Sehen Sie irgendwo eine mögliche Exit-Strategie, um den Krieg zu beenden?
Das ist auf beiden Seiten schwierig. Auf der ukrainischen Seite werden gerade Durchhalte- und Siegesparolen ausgegeben, und Russland hat sich ohnehin in eine Situation begeben, in der es eigentlich nur noch das syrische Exit-Szenario gibt, indem man einen Sieg verkündet. Ein sehr optimistisches Szenario wäre, dass man in Donezk und Luhansk Unabhängigkeitsreferenden durchführt, um die beiden dann in den Staatsverbund der Russischen Föderation aufzunehmen und das als Sieg zu deklarieren und sich zurückzuziehen. Doch das ist eher unwahrscheinlich: Wir sehen ja noch Militäroperationen an der Schwarzmeerküste, dabei soll eine Landbrücke zwischen Donezk, Luhansk und der Krim hergestellt werden. Ich könnte mir vorstellen, dass Russland an diesem nicht deklarierten Kriegsziel festhält.
Ist das Ziel realistisch, die Ukraine von der Schwarzmeerküste abzuschneiden und einen Korridor nach Transnistrien herzustellen?
Wahrscheinlich könnte die russische Armee eine solche Landbrücke unter Aufbietung zusätzlicher Kräfte herstellen. Allerdings ist es völlig unklar, was sich Russland mittel- und langfristig mit einer solchen Expansion einhandeln würde. In diesem besetzten Gebiet könnte es Partisanenkämpfe geben: Moskau könnte mit einem Afghanistan oder Vietnam vor der Haustür konfrontiert sein.
Wie verkauft der Kreml dem Volk die Tatsache, dass sie «Spezial-Operation» immer länger und länger dauert?
Wenn man die russischen Kanäle anschaut, werden im Moment die Hilfsaktionen akzentuiert, die russische Kräfte angeblich durchführen. Bei Mariupol war das sehr deutlich: Es wurde gesagt, es stünden Busse für Evakuierungen bereit oder eine Reihe von Ambulanzen seien verfügbar. Es ist eine ähnlich rhetorische Falle, in der sich auch die späte Sowjetunion befunden hat.
Die wäre?
Auf der einen Seite musste der Feind als gefährlich dargestellt werden, auf der anderen Seite musste auch die eigene Stärke betont werden. Deshalb sehen wir in den Staatsmedien derzeit auch eine Art Schlingerkurs. Doch auch das Aufkommen der Atomwaffen-Thematik zeigt, dass man verzweifelt ist und diese Keule hervorholt, wenn die Fiktion einer militärischen Spezial-Operation scheitert.
Halten Sie es für denkbar, dass die Anschläge innerhalb Russlands neben ukrainischen Spezialkräften auch auf das Konto Oppositioneller geht?
Es gab kleinere Sabotageakte von Einzeltätern bei Rekrutierungsbüros. Ich halte Anschläge im grösseren Massstab für eher unwahrscheinlich. Gruppen mit hoher Schlagkraft sind bisher im Land noch nicht in Erscheinung getreten. Es gibt zwei andere mögliche Erklärungen: Die eine ist, dass es Provokationen sind, die die russische Seite selbst durchführt. Ich denke, das ist die weniger wahrscheinliche Variante.
Another fire in Russia. This time in Perm at a gunpowder factory, where charges are made for Grad and Smerch multiple launch rocket systems, air defense systems and other means of combat. 2 have diedpic.twitter.com/R6iu7h6Vn0
Die andere Erklärung, dass es von ukrainischer Seite geplante und durchgeführte Sabotageakte sind, kann ich mir gut vorstellen. Das würde zur Ankündigung Kiews passen, dass man auch Ziele innerhalb Russlands angreifen werde. Das würde auf eine Zermürbungsstrategie in der russischen Öffentlichkeit hindeuten: Ihr habt den Krieg in unser Land getragen – wir können den Krieg auch in euer Land tragen.
Steigt die Chance einer Absetzung Putins, je länger der Krieg dauert?
Ich glaube, die Zeit spielt gegen Putin. Er hat den Eliten- wie auch den Gesellschaftsvertrag verletzt. Er hat sich in seiner engsten Entourage keine Freunde gemacht, als er den Auslandsgeheimdienstchef abgekanzelt und nun auch den Generalstabschef mitten ins Kriegsgebiet geschickt hat. Es könnte durchaus sein, dass die Loyalität zu Putin bröckelt. Gegenbeispiele wären allerdings Leute wie Lawrow oder Ex-Präsident Dmitrij Medwedew, die sehr laute Unterstützer von Putins Kriegskurs geworden sind.
Was kann man daraus schliessen?
Möglicherweise schrumpft auch der Kreis seiner Unterstützer im Kreml auf diesen engen Zirkel. Sicher ist aber, dass viele einflussreiche Leute aus dem engsten Machtzirkel über die Entscheidungen, die Putin getroffen hat, sehr unglücklich sind. Ob das für einen Sturz ausreicht, ist schwierig zu sagen. Wenn Putin abgelöst würde, dann nicht durch einen, der ideologisch einen anderen Kurs fährt, sondern wahrscheinlich durch jemanden, der eine ähnlich patriotische Linie verfolgt.