Russland-Kenner über Putins Weltbild «Amerika ist böse und Europa willenlos und schwach»

Von Philipp Dahm

13.4.2022

Putin zeigt sich siegessicher

Putin zeigt sich siegessicher

Der russische Präsident zeigte sich siegesgewiss und verteidigte erneut seine Entscheidung über den Einmarsch in die Ukraine vor knapp sieben Wochen als alternativlos. Er äusserte sich nach dem Treffen mit dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko.

12.04.2022

Wladimir Putin rückt nicht von seinem Kurs ab. Im Gegenteil: Der russische Präsident zeigt im Krieg in der Ukraine Härte. Wie kommt das beim Volk an? Und welche Alternativen gibt es? Ulrich Schmid kennt die Antworten.

Von Philipp Dahm

Wladimir Putin weiss um Symbolik: Am 12. April 2022, dem 61. Jahrestag von Juri Gagarins sensationellem Flug, besucht der russische Präsident mit seinem weissrussischen Kollegen Alexander Lukaschenko den früheren Weltraumbahnhof Wostotschny: Russland, das suggeriert Putin, braucht keine anderen Staaten, um grosse Sprünge zu machen.

Zum Krieg in der Ukraine sagt der Kreml-Chef, dass er alternativlos sei: «Wir hatten keine andere Wahl», wird er zitiert. Was geht in dem Mann vor? Gibt es eigentlich Konkurrenz für ihn? Was denkt das Volk? Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen ist als Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands der ideale Ansprechpartner.

Wladimir Putin warnt den Westen, Russland könne nicht isoliert werden: Ist das auch eine Botschaft nach innen?

Ja, auf alle Fälle. Viele Leute haben jetzt Angst, dass sie von Westeuropa komplett abgeschnitten werden, und in den letzten 30 Jahren hat sich auch in Russland ein Lebensstil entwickelt, der sich ganz eng an Westeuropa anlehnt. Sie sind dort in die Ferien gefahren, junge Leute haben an Universitäten im Westen studiert. Als Schreckgespenst steht in Russland im Raum, dass Putin Russland in ein neues Nordkorea verwandeln will – und das ist ein Programm, mit dem er keine Mehrheiten kriegen kann.

Täuscht der Eindruck, dass Putins Unterstützung innerhalb Russlands eher zu- als abnimmt?

Die Zustimmung würde ich konstant nennen. Die letzte Umfrage, die ich gesehen habe, ist vom 31. März. Die Frage, ob die «militärischen Aktionen» in der Ukraine unterstützt würden, haben 53 Prozent mit Bestimmtheit bejaht. 28 Prozent sagten «Eher ja». So entsteht das Gesamtresultat, dass 81 Prozent der Russen den Krieg unterstützen, doch das muss man relativieren. Es gibt sicher nicht dieselbe Begeisterung und Euphorie, wie wir sie 2014 bei der Eroberung der Krim gesehen haben. Russische Soziologen erklären das als «organisierten Konsens».

Wladimir Putin am 16. Juni 2021 vor der Genfer Villa La Grange.
Wladimir Putin am 16. Juni 2021 vor der Genfer Villa La Grange.
KEYSTONE

Was versteht man darunter?

Das heisst, dass in Schulen, Medien und der Regierung immer dasselbe erzählt wird: Es gibt eine Bedrohung durch den Westen und eine Nazi-Führung in der Ukraine. Viele Leute haben sich nicht mit den Hintergründen beschäftigt – da ist es die einzige Interpretation, die ihnen angeboten wird. Daneben spielt noch Einschüchterung eine Rolle: Wer diesen Krieg einen Krieg nennt, dem drohen lange Haftstrafen. Wenn man einen fremden Staat unterstützt, kann das als Landesverrat qualifiziert werden. Darauf stehen 20 Jahre Haft.

Zur Person
IHK SG

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten russische Medientheorien und Nationalismus in Osteuropa. Der Zürcher lehrte oder lehrt an den Universitäten Bern, Basel,  Bochum und Oslo. 

Was den Kalten Krieg ausgezeichnet hat, war ein Wir-gegen-die-Gefühl. Arbeitet Putin daran, es wieder aufzubauen?

Wahrscheinlich schon. Im Moment ist der Westen der absolute Feind. Es gibt da noch eine Binnendifferenzierung: Amerika ist böse und Europa willenlos und schwach. Das Narrativ ist, dass die Nato die Ukraine mit Waffen vollpumpt und dass das die eigentliche Gefahr ist, die von der Ukraine auf Russland ausgeht. Insofern glaube ich schon, dass es eine Schliessung der russischen Gesellschaft gibt. Das zeigt sich auch in der angesprochenen Zustimmung zum Krieg, die ein klassischer Rally-‘round-the-Flag-Effekt ist, der aber möglicherweise nicht nachhaltig ist.

Hinterfragen sich die Menschen nicht, wenn so viele Staaten gegen den Krieg protestieren?

Es gibt Menschen, die das hinterfragen. Es sind etwa 25 Prozent. Es ist vor allem die jüngere Generation. Viele Russen sind aber auch ausgereist, auch wenn man es noch nicht eine Emigration nennen kann. Sie sind in die Türkei, nach Europa, Georgien oder Armenien gereist und warten ab, wie sich die Situation entwickelt. Wer wissen will, was passiert, kann sich aber auch in Russland informieren. Es herrschen auch jetzt keine chinesischen Verhältnisse in Russland mit einer Great Firewall, die alle Nachrichten abschirmt. Ein gewisses Problem ist die Blockierung von VPN-Kanälen, mit denen man auch gesperrte Seiten wie Facebook oder Instagram wieder aufrufen kann. Sie werden üblicherweise mit Kreditkarten bezahlt, aber die grossen Anbieter haben sich aus Russland zurückgezogen. Das erschwert die Kommunikation mit dem Westen.

«Vor allem die jüngere Generation»: Polizisten haben am 2. März in St. Petersburg Bürger*innen verhaftet, die gegen den Krieg protestiert haben.
«Vor allem die jüngere Generation»: Polizisten haben am 2. März in St. Petersburg Bürger*innen verhaftet, die gegen den Krieg protestiert haben.
EPA

Wie stark ist die Opposition in Russland einzuschätzen?

Die beiden Oppositionsführer, die eigentlich die Kraft hätten, die Menschen in Russland zu mobilisieren, sind von der Bildfläche verschwunden. Der eine, Boris Nemtsow, ist 2015 in Moskau erschossen worden. Der andere ist Alexei Nawalny, der gerade in Haft zusätzlich zu neun Jahren Haft verurteilt worden ist. Seine Stiftung zur Bekämpfung der Korruption ist auch vor wenigen Wochen aufgelöst worden. Es gibt also überhaupt keine funktionsfähige Opposition mehr. Bei den Medien sieht es ähnlich aus: Die oppositionelle Novaya Gazeta hat ihr Erscheinen eingestellt, der Chefredaktor ist mit einem Farbbeutel attackiert worden. Der Opposition fehlt die Infrastruktur.

Gibt es in Regierungsreihen politische Köpfe, die profiliert genug wären, um Putin einst zu beerben?

Es ist ja die grosse Frage aller autoritären Systeme: Wer folgt nach? Bis vor Kurzem hat es so ausgesehen, als ob Premierminister Michail Mischustin nachrücken könnte. Der ist aber nicht sehr sichtbar. Es gab im letzten Herbst Wahlen: Bei den Spitzenkandidaten, die Putins Partei Einiges Russland aufgestellt hat, war er nicht dabei. Das ist seltsam, weil ein Nachfolger in diesem Wahlkampf prominent hätte auftreten müssen. Stattdessen ist die alte Garde wieder nach vorne geschoben worden – also Leute wie Aussenminister Sergej Lawrow oder Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Dass einer dieser beiden Putin beerben könnte, glaube ich nicht. Sie stehen ihm zu nahe. Es müsste schon jemand aus einer jüngeren Generation sein. Manchmal wird auch über den Leiter der Präsidialadministration spekuliert, aber auch Anton Waino ist zu wenig prominent auf der Bildfläche vertreten.

Tritt zu wenig prominent in Erscheinung: Premierminister Michail Mischustin, hier am 29. März 2022 in Moskau in der Duma.
Tritt zu wenig prominent in Erscheinung: Premierminister Michail Mischustin, hier am 29. März 2022 in Moskau in der Duma.
AP

Einerseits sind die Ukrainer ein Brudervolk, andererseits wird massiv gegen sie vorgegangen: Wie löst die russische Öffentlichkeit diesen Widerspruch auf?

Im Wesentlichen verläuft das über das Narrativ, dass man sagt, dass nicht das ukrainische Volk angegriffen wird, das laut Putin ja dasselbe Volk wie das russische ist. Es geht vielmehr darum, dass ukrainische Brudervolk vor der Nazi-Führung zu befreien, auch wenn dieser Vorwurf komplett absurd ist. Ich denke auch nicht, dass das ein Element ist, dass in Russland tatsächlich geglaubt wird.

Woran glauben die Russen?

Was dort mehrheitsfähig ist und was die Russen schon seit Jahrzehnten aufgetischt wird, ist das Narrativ der Nato. Dass sie ein Feind des Landes sei, glauben drei von vier Russen – das wissen wir aus Umfragen. So entstehen «Umgehungsnarrative»: Russland muss die Ukraine aus dem Würgegriff der Nato befreit werden und die Aufrüstung durch die Nato ist eine direkte Bedrohung für Russland. Und das wird tatsächlich geglaubt.

Prorussische Demonstranten verbrennen am 2. März in Belgrad eine Nato-Flagge.
Prorussische Demonstranten verbrennen am 2. März in Belgrad eine Nato-Flagge.
EPA

Was denkt Putin über Länder wie Moldawien oder die baltischen Staaten, wenn er der Ukraine das Recht auf Unabhängigkeit abspricht?

Ich denke, dort ist es ideologisch etwas anders. Moldawien war bis zum Ersten Weltkrieg Teil des Zarenreichs und in diesem Sinne wäre es auch Teil des historischen Russlands. Aber dort kann Putin nicht so einfach mit der Einheit der Völker argumentieren: Die Moldawier sprechen ja Rumänisch. Es könnte durchaus sein, dass es im Kreml ein Szenario für Moldawien gibt – vor allem, nachdem die europafreundliche Maia Sandu Präsidentin geworden ist. Mit dem vorherigen, russlandfreundlichen Präsidenten wäre das Problem für Moskau nicht so drängend gewesen. Ich sehe aber unmittelbar keine Bedrohung, weil Vladimir Putin gut beraten ist, nicht noch eine zweite Front aufzutun. Das gilt auch für Estland, Lettland und Litauen, dir seit 2004 Nato-Mitglieder sind.

Putin rechtfertig den Krieg auch damit, dass er Russischsprachige in der Ukraine schützen müsse. Wird er das in Transnistrien oder dem Baltikum wiederholen?

Wenn er den Schutz russischsprachiger Bürger im Ausland als Invasionsgrund anführt, gibt es ein anderes Problem: Kasachstan. Das Land hat etwa 16 Millionen Einwohner. Vier Millionen davon sind russischsprachige kasachische Bürger. Kasachstan ist in die Eurasische Wirtschaftsunion eingebunden und Putin möchte diese in eine politische Union ausweiten. Wenn Putin das Schutz-Narrativ bedient, läuten in Kasachstan die Alarmglocken.