Schweizer Expertin zu Fluchtwegen«Die Grenzen sind geschlossen und scharf bewacht»
Von Maximilian Haase
21.8.2021
Tausende versuchen nach der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan zu fliehen. Dabei ist es derzeit fast unmöglich, das Land zu verlassen. Interview mit einer Expertin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.
Von Maximilian Haase
21.08.2021, 13:08
21.08.2021, 21:59
Maximilian Haase
Die Lage in Afghanistan ist verheerend. Tausende befinden sich auf der Flucht vor den Taliban; Bilder verzweifelter Menschen am Flughafen in Kabul gehen um die Welt. Doch ist es derzeit überhaupt möglich, das Land abseits des Luftweges zu verlassen? Ein Gespräch mit Eliane Engeler von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.
Frau Engeler, stehen Sie in Kontakt mit Menschen, die aus Afghanistan fliehen wollen?
Wir erhalten täglich viele Anrufe vor allem von verzweifelten Angehörigen, die Wege suchen, wie ihre Familien und Freunde, die noch in Afghanistan sind, das Land verlassen können. Sie berichten, dass ihre Angehörigen vor Ort grosse Angst haben, viele verlassen ihre Häuser nicht und verstecken sich.
Welche Menschen müssen nach der Machtübernahme der Taliban am meisten um ihr Leben fürchten?
Wir gehen davon aus, dass sich die Gefährdung für gewisse Personengruppen intensiviert. Insbesondere für Frauen, ehemalige afghanische Sicherheitskräfte, Mitarbeitende und Partner westlicher Staaten und Organisationen sowie Personen, denen «westliches Verhalten» vorgeworfen wird. Bereits vor der Machtübernahme der Taliban zählten unter anderem Frauen, Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen zu den besonders gefährdeten Personen.
Wie viele Menschen aus Afghanistan befinden sich seit dem Rückzug der Alliierten auf der Flucht?
Seit Anfang des Jahres sind nun rund 550'000 Afghanen innerhalb des Landes vertrieben worden, zusätzlich zu den 2,9 Millionen Afghanen, die Ende 2020 bereits innerhalb des Landes vertrieben waren. Seit Anfang 2021 sind rund 120'000 Afghanen aus ländlichen Gebieten und Provinzstädten in die Provinz Kabul geflohen – davon rund 20'000 seit Anfang Juli. Etwa 80 Prozent von fast einer Viertelmillion Afghanen, die seit Ende Mai zur Flucht gezwungen wurden, sind Frauen und Kinder, die vom Konflikt und der Machtübernahme der Taliban am meisten betroffen sind. Hinzu kommen rund 2,2 Millionen afghanische Flüchtlinge, die bereits vorher in den Nachbarländern Zuflucht fanden – vorab in Iran und Pakistan.
Zur Person
SFH / Eliane Engeler
Eliane Engeler ist Mediensprecherin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH). Nach dem Studium am Genfer Institut für internationale Beziehungen war sie mehrere Jahre als Journalistin in Genf tätig und arbeitete danach drei Jahre lang in Pakistan, zunächst in der humanitären Hilfe, später als freie Journalistin.
Welche Möglichkeiten gibt es überhaupt, aus Afghanistan zu fliehen?
Im Moment nur über die Evakuierungsflüge, da die Grenzen gemäss unseren Kenntnissen zu sind. Wir gehen davon aus, dass auch die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes eingeschränkt ist.
Sind trotzdem grössere Fluchtbewegungen in Richtung Europa zu erwarten?
Dass kurzfristig viele Geflüchtete aus Afghanistan nach Europa kommen, ist derzeit angesichts der riesigen Entfernungen, der geschlossenen Grenzen sowie der Lage in Afghanistan äusserst unwahrscheinlich. Es gibt auf absehbare Zeit keine Möglichkeit für die betroffenen Menschen, das Land zu verlassen, um Schutz und Sicherheit zu erhalten. Die Grenzen sind geschlossen und scharf bewacht, die Taliban kontrollieren zudem die Städte und die wenigen Hauptverkehrsstrassen, der Luftverkehr ist eingestellt.
Ist eine Situation wie infolge des Krieges in Syrien 2015 denkbar?
Es ist aktuell nicht mit grösseren Fluchtbewegungen Richtung Europa zu rechnen. Zudem haben Flüchtlinge aus Afghanistan bisher vor allem in den Nachbarländern Schutz gesucht, insbesondere in Iran und Pakistan.
Womit müssen jene rechnen, denen die Flucht nicht gelingt?
Wie sich die Taliban gegenüber der Zivilgesellschaft verhalten, ist noch nicht klar. Aber es gibt erste Berichte über Gewalt gegen Zivilpersonen und ehemalige Angehörige der afghanischen Streitkräfte. Seit der Nachricht über den Abzug der US-Truppen ist die Gewalt in ganz Afghanistan wieder aufgeflammt. Landesweit gab es einen Anstieg gezielter Tötungen von Journalist*innen, Politiker*innen und führenden Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft.
Was kann und sollte die Schweiz Ihrer Ansicht nach tun?
Die Situation in Afghanistan ist dramatisch. Die Schweiz muss jetzt nicht nur humanitäre Soforthilfe leisten, sondern auch mit anderen Ländern zusammenarbeiten, um weitere an Leib und Leben bedrohte Menschen aus Afghanistan zu evakuieren. Die Schweiz muss zudem rasch und unbürokratisch Geflüchtete aufnehmen.
Ist die Entscheidung des Bundesrats, kaum Geflüchtete aufzunehmen, «realistisch» und «vernünftig», wie es an einer Medienkonferenz des Bundesrats hiess?
Der Bundesrat möchte ausschliesslich die lokalen Angestellten des Bundes evakuieren. Er hat keine weitere Hilfe angeboten. Dieser Entscheid ist absolut ungenügend und der humanitären Tradition der Schweiz unwürdig. Aus Sicht der SFH fehlt es allein an politischem Willen. Die Grundlagen zum Handeln wären nämlich vorhanden.
Inwiefern?
Der Bundesrat kann die Visaverfahren vereinfachen und mit anderen Ländern kooperieren, um weitere an Leib und Leben bedrohte Menschen aus Afghanistan zu evakuieren. Wir erhalten täglich viele Hilferufe aus Afghanistan und von Angehörigen in der Schweiz. Ihnen muss unsere erste Hilfe gelten. Die Schweiz kann zudem zusätzliche Resettlement-Plätze schaffen. Resettlement-Flüchtlinge werden in der Regel aus Drittstaaten nach Europa geholt. Das heisst, nicht aus Afghanistan direkt, sondern aus den umliegenden Staaten.
Um wie viele Menschen handelt es sich dabei?
Schon heute sind Millionen von afghanischen Flüchtlingen insbesondere in Pakistan und Iran. Der Resettlement-Bedarf dort ist bekannt. Allein im Iran warten rund 80'000 besonders verletzliche Flüchtlinge auf einen Platz. Es ist durchaus möglich, im Zeichen der Solidarität und zur Entlastung dieser Erstaufnahmeländer ein zusätzliches Kontingent an afghanischen Flüchtlingen aufzunehmen.
Wie nehmen Sie die Stimmung in der Schweiz mit Blick auf die afghanischen Geflüchteten wahr?
Es gibt viel Solidarität in der Schweiz. Mehrere Kantone, Gemeinden und Städte haben sich in jüngster Vergangenheit bereit gezeigt, mehr Geflüchtete aufzunehmen. Aber natürlich steht nicht nur die Schweiz in der Pflicht, sich für den gesicherten Zugang zu Schutz und Sicherheit für die afghanischen Flüchtlinge sowie eine solidarische internationale Verantwortungsteilung einzusetzen, sondern die internationale Staatengemeinschaft insgesamt.