Sicherheitsforscher zu Putins Optionen: «Russland hat die Überlegenheit verloren»
blue News Redaktor Stefan Michel spricht mit dem ETH-Militärexperten Benno Zogg über die Lage in der Ukraine.
04.10.2022
Weltweit versuchen Experten zu ergründen, wie ernst es der russische Präsident mit seinen Atomwaffen-Drohungen meint. Kurzfristig halten sie das Risiko für überschaubar – langfristig aber sind sie nicht sicher.
05.10.2022, 14:04
05.10.2022, 16:41
Von John Leicester, AP/uri
Macht Wladimir Putin im Krieg in der Ukraine seine Atomdrohungen wahr? Für Beobachter gibt es derzeit kaum eine drängendere – und schwierigere – Frage. Aktuell halten sie das Risiko offenbar noch eher für gering und sehen keine Hinweise auf einen unmittelbar bevorstehenden Nuklearwaffen-Einsatz Russlands.
Dennoch werden die Ankündigungen des russischen Präsidenten, sein Land mit «allen verfügbaren Mitteln» zu verteidigen, sehr ernst genommen. Putins Äusserung vom vergangenen Freitag, die USA hätten mit dem Abwurf von Atomwaffen im Zweiten Weltkrieg einen Präzedenzfall geschaffen, erhöhte die Besorgnis weiter. Das Weisse Haus warnte für den Fall eines Nuklearwaffen-Einsatzes vor «katastrophalen Konsequenzen für Russland».
Ob das Putin bremsen kann, weiss niemand. Nervöse Kreml-Beobachter räumen ein, dass unklar ist, was im Präsidenten vorgeht, ob er rational handelt und gut informiert ist. Und schliesslich hat der ehemalige KGB-Agent in der Vergangenheit immer wieder einen Hang zum Risiko an den Tag gelegt. Selbst für westliche Geheimdienste mit Spionagesatelliten ist schwer zu erkennen, ob Putin blufft oder wirklich vorhat, das Atom-Tabu zu brechen.
«Wir müssen die Sache sehr ernst nehmen»
«Wir sehen in der US-Geheimdienst-Community heute keine praktischen Hinweise darauf, dass er sich einem tatsächlichen Einsatz nähert, dass es eine unmittelbare Bedrohung für den Einsatz taktischer Atomwaffen gibt», sagte der Direktor des US-Geheimdienstes CIA, William Burns, dem Sender CBS News. «Was wir tun müssen, ist die Sache sehr ernst zu nehmen und nach Zeichen für tatsächliche Vorbereitungen Ausschau zu halten.»
Was die Experten an einem möglichen Einsatz von Atomwaffen zweifeln lässt, ist unter anderem die Tatsache, dass er Russland kaum helfen dürfte, die militärischen Verluste in der Ukraine wettzumachen. Die Ukraine setzt keine Panzer oder Truppen in hoher Dichte ein, und die Gefechte spielen sich oft in kleinen Ortschaften ab. Was könnte also eine Atombombe aus russischer Sicht bringen?
«Atomwaffen sind kein Zauberstab», sagt der Atomexperte Andrey Baklitskiy vom UN-Institut für Abrüstungsforschung. «Sie sind nichts, das man einfach einsetzt und damit alle Probleme löst.»
Beobachter setzen zudem auf eine abschreckende Wirkung des Nuklearwaffen-Tabus. Die katastrophalen Folgen der US-Atombombenabwürfe über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki im August 1945 waren ein starkes Argument gegen einen wiederholten Einsatz solcher Waffen. Bei den Angriffen wurden 210'000 Menschen getötet.
«Eine der grössten Entscheidungen in der Geschichte»
Seitdem hat kein Land mehr eine Nuklearwaffe eingesetzt. Aus Sicht von Experten dürfte es selbst Putin schwerfallen, als erster Staatschef seit US-Präsident Harry Truman zu einer Atomwaffe zu greifen. «Es ist immer noch ein Tabu in Russland, diese Schwelle zu überschreiten», sagt die Russland-Expertin Dara Massicot von der Denkfabrik Rand Corp. Baklitskiy spricht von «einer der grössten Entscheidungen in der Geschichte der Erde».
Die Reaktionen könnten zu einer Ächtung Putins führen. «Ein Brechen des Atom-Tabus würde mindestens eine vollständige diplomatische und wirtschaftliche Isolation Russlands nach sich ziehen», sagt der Verteidigungs- und Sicherheitsexperte Sidharth Kaushal vom Londoner Royal United Services Institute.
Dabei würden selbst Länder wie China, Indien und andere, die Russland derzeit noch nicht sehr kritisch gegenüberstehen, nicht mehr mit Russland zusammenarbeiten können, sagt ETH-Forscher Zogg. Der Nachteil für sie wäre ausserdem, dass sich nach einem etwaigen Tabubruch jede Menge Staaten auch in ihrer Nachbarschaft mit Atomwaffen eindecken wollen, um derlei Angriffe abzuschrecken. Peking und Neu-Delhi haben daran kein Interesse.
Analysten rechnen mit anderen Eskalationen
Langstrecken-Atomwaffen, die Russland in einem direkten Konflikt mit den USA verwenden könnte, sind indes einsatzbereit. Auf die sogenannten taktischen Waffen mit kürzerer Reichweite – für einen möglichen Einsatz in der Ukraine – trifft das nach Angaben von Beobachtern aber nicht zu, denn diese seien eingelagert.
Waffen offen aus dem Lager zu holen, könnte indes auch eine Taktik Putins sein, um ohne einen tatsächlichen Einsatz den Druck zu erhöhen. Er könnte erwarten, dass US-Satelliten die Aktivität beobachten, und womöglich hoffen, dass das nukleare Säbelrasseln westliche Mächte dazu bringt, ihre Unterstützung für die Ukraine zurückzufahren. Das könnte Russland Zeit für die Ausbildung der 300'000 zusätzlichen Soldaten verschaffen, die aktuell mobilisiert werden.
Zuvor rechnen die Analysten allerdings mit anderen Eskalationen, darunter verstärkten russischen Angriffen in der Ukraine mit nicht-atomaren Waffen. «Ich erwarte keinen Blitz aus heiterem Himmel», sagt Nikolai Sokov vom Vienna Center for Disarmament and Non-Proliferation.
Wenn die Ukraine aber weiter militärische Erfolge verbuchen kann, befürchten die Expertinnen und Experten, dass Putin aus eigener Sicht die nicht-atomaren Optionen ausgehen könnten. Mit der Annexion neuer Gebiete und der Mobilisation reisse der russische Präsident «gerade viele Brücken hinter sich ein», sagt Expertin Massicot. «Das deutet darauf hin, dass er entschlossen ist, nach seinen eigenen Bedingungen zu gewinnen. Ich bin sehr besorgt darüber, wo uns das am Ende hinführen wird – einschliesslich einer Art nuklearer Entscheidung.»