Deutschland macht ein wenig aufEin Dreierpack Boxershorts zu kaufen, ist ein echtes Abenteuer
Von Sven Hauberg, München
9.3.2021
Shopping nur mit Voranmeldung und den bangen Blick stets auf die Inzidenzwerte gerichtet: Nach drei Monaten erwachen die deutschen Innenstädte aus dem Corona-Schlaf. Beobachtungen aus München.
Von Sven Hauberg, München
09.03.2021, 06:43
09.03.2021, 08:45
Von Sven Hauberg, München
Seit mehr als einhundert Jahren drehen die Schäffler ihre Runden im Glockenturm des Münchner Rathauses. Der Tanz der hölzernen Figuren erinnert an die Pest, die von 1515 an zwei Jahre lang in der damaligen Hauptstadt des Herzogtums Bayern wütete. Der Legende nach waren es die Schäffler, also die Fassmacher, die sich damals als Erste wieder auf die Strassen wagten. Mit ihrem farbenfrohen Tanz wollten sie ihre Mitbürger ermuntern, es ihnen gleichzutun.
Wäre es ein normaler Montagvormittag, dann stünden auf dem Münchner Marienplatz jetzt Hunderte Menschen, die meisten von ihnen Touristen, um diesen mechanischen Tanz zu bewundern. In Corona-Zeiten aber schenkt kaum einer den Schäfflern Beachtung, als sie sich um Punkt 11 Uhr in Bewegung setzen. Dabei ist die Münchner Innenstadt so voll wie seit Monaten nicht mehr: Seit Montag darf in Deutschland der Detailhandel wieder öffnen, rund drei Monate nach Beginn des verschärften Shutdowns Mitte Dezember.
Vor Kurzem erst hatten sich der Bund und die Länder auf einen vorsichtigen Fahrplan geeinigt, um das schockgefrostete Land aus dem Shutdown zu führen. Coiffeure durften landesweit schon vorige Woche wieder Kunden empfangen, nun folgen der Detailhandel, die Museen, die Zoos. Allerdings nur dort, wo die Sieben-Tage-Inzidenz nicht höher als 100 liegt.
Shoppen nur nach Voranmeldung
In München pendelte sich der Inzidenzwert zuletzt auf rund 50 Ansteckungen pro 100'000 Einwohnern innerhalb einer Woche ein. Und so haben die meisten Geschäfte zwar offen, aber mit Einschränkungen: Wer in der bayerischen Landeshauptstadt shoppen gehen will, muss sich bei jedem Geschäft, das er besuchen will, zuvor online anmelden und sich entscheiden, um wie viel Uhr er einkaufen gehen will. «Click and Meet» nennt sich das umständliche Verfahren. Ausnahmen gibt es nur für Buchhandlungen und Gartenmärkte sowie für die Geschäfte des täglichen Bedarfs, die in den vergangenen Monaten uneingeschränkt öffnen durften.
Nur hundert Meter vom Münchner Rathaus entfernt befindet sich das Traditionskaufhaus Ludwig Beck. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird hier Mode verkauft. Um kurz nach elf Uhr hat der Redaktor einen Termin zum Shoppen: Bestätigung auf dem Smartphone vorzeigen, Gesichtsmaske geraderücken, dann kann eingekauft werden. «Wir haben seit dem Wochenende schon mehrere Hundert Termine vereinbart», sagt Christian Greiner, Vorstandsvorsitzender der Ludwig Beck AG, zu «blue News». «Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben der Wiedereröffnung mit Freude entgegengefiebert und sind voll motiviert.» Noch ist es allerdings sehr leer, in manchen Abteilungen begegnen einem mehr Verkäufer als Kunden. Ob sich das rechnet?
Direkt ums Eck, im riesigen Betonbunker von Galeria Kaufhof, bietet sich ein ähnliches Bild. Am Eingang der umsatzstärksten Kaufhof-Filiale des Landes laufen ein Dutzend Mitarbeiter wie aufgescheuchte Hühner hin und her. Wer sich online registriert hat, wird sofort in Richtung Rolltreppen weitergeleitet; wem offenbar überlastete Server einen Strich durch die Rechnung gemacht haben, kann sich direkt vor Ort anmelden und ebenfalls sofort einkaufen gehen. Auch hier aber: gähnende Leere. Normalerweise sei an einem Montagvormittag «mindestens das Doppelte» los, sagte eine Verkäuferin, der man ansieht, dass sie sich freut, nach Monaten der Kurzarbeit endlich wieder Kunden beraten zu dürfen, sei's auch nur beim Kauf eines Dreipacks Boxershorts.
Verwirrende Regelungen
Vor der Filiale der schwedischen Bekleidungskette H&M bildet sich hingegen eine Schlange. «Sie haben die Wahl», ruft eine resolut auftretende Einlassdame all jenen zu, die ohne Anmeldung erschienen sind. «Entweder registrieren Sie sich jetzt und gehen dann exakt 15 Minuten lang einkaufen – oder sie warten bis zur nächsten vollen Stunde.» Dann, so erklärt sie, dürfe man länger im Laden bleiben.
Shopping in Corona-Zeiten kann eine ziemlich komplizierte Angelegenheit sein in Deutschland. Die Inzidenzwerte verändern sich fast täglich und mit ihnen die Regeln, die aktuell gelten. Je nach Grösse des Ladens und dem lokalen Infektionsgeschehen dürfen unterschiedlich viele Kunden eingelassen werden; hinzu kommen regionale Ausnahmen. Man benötigt keine 26 Kantone, um Verwirrung zu stiften, 16 Bundesländer reichen völlig.
Neben den Detailhändlern durften am Montag auch die ersten Freizeiteinrichtungen wieder öffnen. Vor dem Deutschen Museum, dem grössten Technik- und Wissenschaftsmuseum der Welt, fand sich schon eine Stunde vor Öffnung der erste Besucher ein, sagt Pressesprecher Gerrit Faust zu «blue News». Von einem Ansturm könne man trotzdem nicht sprechen. «Aber wir sind ganz gut besucht. Am Wochenende rechnen wir mit deutlich mehr Besucherinnen und Besuchern.» Die Mitarbeiter, sagt er, freuen sich nach Monaten der Schliessung, wieder ihrer «‹normalen Arbeit› nachgehen zu können – und Kultur, Wissen und Bildung zu vermitteln».
Ungewisse Zukunft
In zwei Wochen sollen in Deutschland auch Kinos, Theater und Opernhäuser wieder aufmachen dürfen, ebenso die Aussengastronomie. In Regionen, in denen die Sieben-Tage-Inzidenz über dem Wert von 50 liegt, ist zum Besuch allerdings ein tagesaktueller Schnell- oder Selbsttest nötig. Heisst: Wer abends in die Oper will, muss sich kurz vorher ein Wattestäbchen in die Nase stecken und das Ergebnis des Tests am Einlass vorzeigen.
Noch allerdings sind Selbsttests ein rares Gut: Am vergangenen Wochenende hatte der Discounter Aldi ein Fünferpack im Angebot, für knapp 25 Euro. Kurz nach Ladenöffnung aber war alles ausverkauft. Und die kostenlosen Testkits, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jedem Bürger einmal pro Woche in Aussicht gestellt hat, lassen ebenfalls auf sich warten. Am Montag sollte es eigentlich losgehen; wer in Münchner Apotheken danach fragt, erntet allerdings nicht mehr als ein Schulterzucken.
Nein, sagt ein Apotheker in der Münchner Fussgängerzone, Schnelltests habe man derzeit nicht, und man wisse auch nicht, wann die erste Lieferung komme. Unterdessen kündigten zwei Drogeriemarktketten an, ab Dienstag Testsets verkaufen zu wollen. Der Ansturm dürfte programmiert sein, die Enttäuschung ebenso.
Denn noch steht zwar eine Mehrheit der Deutschen hinter den geltenden Beschränkungen, die Corona-Müdigkeit aber wächst. Kein Wunder, nach all den Monaten des Wartens. Aber nicht nur die Ungeduld nimmt zu: Auch die Fallzahlen steigen wieder. Bis wieder Tausende staunend am Münchner Marienplatz stehen und den hölzernen Schäfflern beim Tanzen zusehen, dürfte es also noch eine ganze Weile dauern.