Massive Proteste in Deutschland Über 300'000 Menschen demonstrieren gegen die AfD

dpa/toko

20.1.2024 - 20:23

Frankfurt, Stuttgart, Hannover und viele andere Orte: Hunderttausende Menschen gehen gegen rechts und die AfD auf die Strassen. Ein wesentliches Ziel: «Demokratie verteidigen».

dpa/toko

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • In der zweiten Woche nach den Enthüllungen über ein Geheimtreffen zwischen AfD-Politikern und Neonazis bekommen die Proteste in Deutschland immer mehr Zulauf.
  • Über 100'000 Menschen haben allein am Samstag demonstriert.
  • In Hamburg musste am Freitagabend eine Demonstration wegen des grossen Menschenandrangs abgebrochen werden.
  • Am Samstag gab es weitere Demonstrationen in vielen deutschen Städten.

Dieser Artikel wurde zuletzt um 20.23 umfassend aktualisiert.

In ganz Deutschland sind am Samstag Hunderttausende gegen rechts und für die Demokratie auf die Strasse gegangen. Nach ersten Zählungen der Polizei und der Veranstalter demonstrierten insgesamt mindestens 300'000 Menschen. In einigen Städten lagen noch keine abschliessenden Zahlen beider Seiten vor. Allein in Frankfurt am Main und in Hannover waren es nach Angaben von Polizei und Veranstaltern jeweils 35'000 Menschen - ein Motto war «Demokratie verteidigen». Der Frankfurter Römer war voller Menschen, die Transparente mit Aufschriften wie «Alle zusammen gegen den Faschismus» und «Kein Platz für Nazis» trugen.

Auch in anderen Städten kamen Zehntausende Menschen zusammen, um friedlich zu protestieren — etwa gegen ein Erstarken der AfD. Bis Sonntagabend wurden bundesweit weitere Zehntausende Menschen bei Demonstrationen erwartet.

Protest in Hamburg abgebrochen

Bereits am Freitagabend musste wegen des grossen Menschenandrangs eine Demonstration gegen rechts und die AfD in Hamburg abgebrochen werden. Einer der Organisatoren verwies auf Sicherheitsbedenken. Die Polizei sprach von 50'000 Teilnehmern, die Veranstalter sprachen von 80'000.

In Hannover rief Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil die Menschen bei der Kundgebung dazu auf, im eigenen Umfeld klare Kante gegen rechts zu zeigen und für Menschenrechte und Demokratie einzutreten. «Verteidigen wir unsere Demokratie», appellierte er. Die Demonstranten trugen Plakate mit Aufschriften wie etwa «Wir sind bunt» oder «Faschismus ist keine Alternative». Auch in Braunschweig demonstrierten laut Polizei etwa 15'000 Menschen.

In Dortmund gab die Polizei die Teilnehmerzahl mit 30'000 an. In Wuppertal schätzte die Polizei die Zahl der Teilnehmer auf etwa 10'000, in Recklinghausen auf circa 12'000. Dort stand die Demo unter dem Motto «Gemeinsam und solidarisch! Gegen Ausgrenzung, Hass und Hetze!». In Stuttgart versammelten sich die Menschen unter dem Motto «Alle zusammen gegen die AfD». Ein Sprecher des Veranstalters — das Bündnis Stuttgart gegen rechts — schätzte die Teilnehmerzahl auf 20'000 Menschen — ein Polizeisprecher hielt das für möglich. Ebenfalls 20'000 waren es laut Polizei in Karlsruhe. Etwa 18'000 Menschen kamen nach Angaben der Polizei in Heidelberg zusammen.

Gegen Rechtsextremismus: Zehntausende Menschen bei Demo in Hannover

Gegen Rechtsextremismus: Zehntausende Menschen bei Demo in Hannover

Bundesweit demonstrieren Menschen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie. Allein in Hannover sind am Samstag Zehntausende Menschen auf die Strasse gegangen.

20.01.2024

Deutlich mehr Demonstranten als erwartet

In Kassel sprach die Polizei von 12'000 Teilnehmern - das waren zwölfmal so viele wie erwartet worden waren. Teilnehmer trugen dort Plakate mit Aufschriften wie «Nazis und Antisemiten müssen ausgebürgert werden» und «Zusammen gegen Extremisten für Demokratie». Mehr als 12'000 Demonstranten waren es laut Polizei auch in Giessen.

Tausende Menschen gingen auch in Bayern auf die Strasse, darunter laut Polizei mindestens 15 000 in Nürnberg. Sprechchöre riefen dort: «Ganz Nürnberg hasst die AfD!» In Erfurt waren es laut Polizei 9000 Menschen, die Organisatoren sprachen von 10'000. In Halle/Saale demonstrierten nach offiziellen Angaben rund 16'000 Teilnehmer.

Insbesondere Vertreter von Gewerkschaften, Verbänden, Grünen und SPD hatten dazu aufgerufen, sich an den Protesten zu beteiligen. CDU-Chef Friedrich Merz bezeichnete die bundesweiten Demonstrationen als ermutigend. «Die «schweigende» Mehrheit erhebt ihre Stimme und zeigt, dass sie in einem Land leben möchte, das weltoffen und frei ist», teilte er auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur am Samstagmorgen in Berlin mit. «Wir stehen an der Seite derer, die sich für unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat und unsere offene Gesellschaft einsetzen», sagte Merz. «Lassen wir gemeinsam keine diskriminierenden Sprüche oder rechtsextreme Parolen zu. Wir zeigen gemeinsam ein Stoppschild gegen jede Form von Extremismus und Rassismus: Gegen jede Form von Hass, gegen Hetze und gegen Geschichtsvergessenheit.»

Internationales Auschwitz Komitee dankt Demonstranten

Das Internationale Auschwitz Komitee dankte am Samstagabend den Demonstrantinnen und Demonstranten. «Überlebende des Holocaust sind all denjenigen, die in diesen Tagen gegen den Hass und die Lügenwelt der Rechtsextremen auf die Strasse gehen mehr als dankbar. Sie empfinden diese Demonstrationen als ein machtvolles Zeichen der Bürgerinnen und Bürger und eine Belebung der Demokratie auf die sie lange gehofft und gewartet haben», teilte Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner mit.

Zuvor hatte auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) den Menschen gedankt, die bundesweit gegen rechts demonstrierten. Das zeige, dass es in der Mitte der Gesellschaft «eine breite Allianz» gebe, sagte er am Samstag in Düsseldorf. Wüst forderte erneut eine solche «Allianz der Mitte» auch in der Politik, die sich parteiübergreifend und über alle staatlichen Ebenen hinweg bilden müsse. «Wir brauchen einen Schulterschluss der Demokraten.» Wüst bezeichnete die AfD als «brandgefährliche Nazi-Partei». Auf X, ehemals Twitter, schrieb der CDU-Politiker, die AfD stehe nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. «Die AfD ist keine konservative Partei und erst recht keine wertorientierte Partei.»

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, begrüsste die Kundgebungen. «Ich bin wirklich erfreut, dass die Mitte der Gesellschaft aufsteht», sagte Schuster der «Augsburger Allgemeinen» (Samstag). Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sagte der «Westdeutschen Zeitung» (Samstag): «Es wäre wünschenswert, wenn die schweigende Mehrheit unserer Bevölkerung klar gegen Extremismus und Antisemitismus Position beziehen würde. Und erfreulicherweise demonstrieren aktuell viele Menschen dagegen.»

Mit Neonazis Vertreibungspläne diskutiert

Auslöser der Proteste ist ein Bericht des Medienhauses Correctiv aus der vergangenen Woche über ein bis dahin nicht bekanntes Treffen von Rechtsradikalen in einer Potsdamer Villa vom 25. November. An dem Treffen hatten auch mehrere AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion teilgenommen.

Der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, hatte in Potsdam nach eigenen Angaben über «Remigration» gesprochen. Wenn Rechtsextremisten den Begriff verwenden, meinen sie in der Regel, dass eine grosse Zahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll — auch unter Zwang.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser fühlt sich durch das Treffen in Potsdam an die Wannseekonferenz der Nationalsozialisten erinnert. «Das weckt unwillkürlich Erinnerungen an die furchtbare Wannseekonferenz», sagte sie der Funke Mediengruppe (Samstag). Sie wolle beides nicht miteinander gleichsetzen. «Aber was hinter harmlos klingenden Begriffen wie «Remigration» versteckt wird, ist die Vorstellung, Menschen wegen ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer politischen Haltung massenhaft zu vertreiben und zu deportieren.»

Bei der Wannseekonferenz hatten am 20. Januar 1942 — vor genau 82 Jahren - hohe NS-Funktionäre über die systematische Ermordung von bis zu elf Millionen Juden Europas beraten. Ziel der Besprechung in einer Villa am Berliner Wannsee war es, die Umsetzung des Völkermords zu beschleunigen. Sie gilt als eines der Schlüsseldaten des Holocaust.

Scholz unterstützt Demonstrationen

Kanzler Olaf Scholz verglich die «Remigrations»-Pläne Rechtsradikaler in Deutschland mit der Rassenideologie der Nationalsozialisten. «Wenn etwas in Deutschland nie wieder Platz haben darf, dann ist es die völkische Rassenideologie der Nationalsozialisten. Nichts anderes kommt in den abstossenden Umsiedlungsplänen der Extremisten zum Ausdruck», sagte der SPD-Politiker in der am Freitag veröffentlichten Ausgabe seiner Videoreihen «Kanzler kompakt». «Sie sind ein Angriff auf unsere Demokratie – und damit auf uns alle.»

Alle Menschen in Deutschland seien gefordert, klar und deutlich Stellung zu beziehen: «Für Zusammenhalt, für Toleranz, für unser demokratisches Deutschland.» Scholz unterstützte die Demonstrationen ausdrücklich. «Das, was wir gerade hier in unserem Land erleben, geht uns wirklich alle an – jede und jeden von uns», sagte er. «Ich sage es in aller Deutlichkeit und Härte: Rechtsextremisten greifen unsere Demokratie an. Sie wollen unseren Zusammenhalt zerstören.» Er versicherte allen Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund: «Sie gehören zu uns! Unser Land braucht Sie!»

Auch über das Wochenende hinaus sind Kundgebungen geplant. So ist als Symbol einer Brandmauer gegen rechts am 3. Februar in Berlin eine Menschenkette um das Reichstagsgebäude angesetzt.