Lagebild vom Russland-Kenner «Das Erdöl lässt sich auch woanders verkaufen»

Von Raphael Kuiper und Philipp Dahm

31.5.2022

Warum liefert Joe Biden keine Langstrecken-Artillerie an Kiew?

Warum liefert Joe Biden keine Langstrecken-Artillerie an Kiew?

Wie wichtig ist Sjewjerodonezk für die russische Armee? Ist sie für Putins Propaganda relevant? Und was ist mit den Spekulationen um Putins Gesundheit? Professor Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen antwortet.

31.05.2022

Der Krieg in der Ukraine ist mit der Schlacht um den Donbass in eine neue Phase getreten: Experte Ulrich Schmid erklärt die Lage dort, an der russischen Heimatfront und schätzt die Wirksamkeit des Öl-Embargos ein.

Von Raphael Kuiper und Philipp Dahm

Angesichts der andauernden Schlacht um den Donbass wie auch der Kämpfe an den diplomatischen Fronten hat blue News Ulrich Schmid um seine Einschätzungen gebeten.

Zur Person 

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten russische Medientheorien und Nationalismus in Osteuropa. Der Zürcher lehrte oder lehrt an den Universitäten Bern, Basel, Bochum und Oslo.

Herr Schmid, ist der Krieg zu Ende, wenn Putin den Donbass vollständig erobert hat?

Es gibt da ganz unterschiedliche Vorhersagen. Zunächst war das Ziel ja ein viel ambitionierteres, aber ich denke, jetzt macht sich auf beiden Seiten Realismus breit. Letzte Woche hat es einen neuen Ukas Putins [ein russisches Dekret, Anm. d. Red.] gegeben, der besagt, dass es nun erleichterte Einbürgerungsmöglichkeiten nicht nur für die Bewohner der Volksrepubliken Donezk und Luhansk gibt, sondern auch für die Bewohner der «ukrainischen Regionen» Saporischschja und Cherson.

Warum ist das besonders?

Ich finde es bemerkenswert, dass diese beiden Regionen explizit als ukrainisch bezeichnet werden. Daraus könnte man schliessen, dass das kurzfristige Kriegsziel nun tatsächlich darin besteht, die beiden ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk in ihren ukrainischen administrativen Grenzen zu erobern und zu halten.

Die Verwaltungsgliederung der Ukraine.
Die Verwaltungsgliederung der Ukraine.
Commons/Lencer

Braucht er nicht Cherson und Saporischschja, um die Brücke zur Krim zu schlagen?

Natürlich, aber Geopolitik ist das eine und das andere ist die Frage, ob Putin diese Gebiete auch halten kann. Die Eroberung ist zwar machbar, aber im Kreml ist man sich im Klaren, dass man sich damit einen langjährigen Partisanenkrieg einhandeln wird und dass man erhebliche Mittel einsetzen muss, um die Lage dort unter Kontrolle zu halten.

Ist es denkbar, dass die ukrainische Armee Teile der besetzten Gebiete zurückerobert?

Das ist schwierig zu sagen. Im Moment sieht es danach aus, dass Russland sich auf bestimmte Kriegsschauplätze konzentriert. Die Kapazitäten der ukrainischen Kräfte sind begrenzt. Die Armee hat in den letzten drei Monaten einen unglaublichen Effort geleistet: Ob noch genug Truppen und Material vorhanden sind, um den südlichen Korridor zurückzuerobern, steht in den Sternen.

Die russische Armee versucht durch allerlei Massnahmen, mehr Soldaten zu rekrutieren: Können Sie einschätzen, wie erfolgreich diese sind?

Zuallererst muss man festhalten, dass alle entsprechenden Initiativen Ausdruck von Verzweiflung sind. Der Kreml will auf keinen Fall eine Mobilmachung oder auch Teilmobilmachung ausrufen, weil er ganz genau weiss, dass das in der russischen Bevölkerung sehr unpopulär wäre. Deswegen setzt man weiterhin auf Zeitsoldaten: Bisher war deren Altersgrenze bei 40 Jahren, doch nun wurde sie auf 65 hochgesetzt. Das ist einerseits eine grosse Änderung, andererseits ist es fraglich, ob sich viele Russen für einen Krieg melden werden, von dem man mittlerweile auch in Russland weiss, dass er nicht einfach eine Erfolgsgeschichte ist und dass die Risiken dabei sehr hoch sind.

Es gibt in westlichen Medien immer wieder Berichte über Deserteure: Was ist davon zu halten?

Es gibt sicher Deserteure, das ist ein Phänomen gewesen, das vor allem am Anfang des Krieges beim Marsch auf Kiew wichtig war. Es gab russische Soldaten, die gar nicht wussten, dass sie auf eine Kriegsmission in die Ukraine geschickt werden und ihre Einheiten und ihr Kriegsgerät verlassen haben. Auch jetzt gibt es in Russland junge Menschen, die sich der Rekrutierung entziehen. Ich denke, das sind Berichte, die man ernst nehmen muss. Allerdings ist es im Moment so, dass man als Wehrpflichtiger nicht in die Ukraine gehen muss, wenn man nicht will, weil die geltenden Regeln das eigentlich nicht zulassen.

Zur Wirtschaft: Wie empfindlich trifft das EU-Ölembargo Russland wirklich?

Derzeit noch gar nicht: Erdöl kann weiterhin verkauft werden und die Preise sind aktuell so hoch, dass geringere Verkäufe schon durch diese Steigerung ausgeglichen werden können. Wir dürfen unsere westliche Perspektive nicht verallgemeinern: Auf jedes Land, das Russland mit Sanktionen belegt, kommen weltweit drei Länder, die das nicht tun. Das Erdöl lässt sich auch andernorts verkaufen.

Budapest bremst bei vielen EU-Massnahmen: Versucht Putin, über Ungarns Premier Viktor Orban Einfluss zu nehmen?

Ja, das ist etwas, das Putin von vornherein miteinberechnet hat: Er betrachtet die EU nicht als Gesprächspartner, sondern hat schon immer versucht, mit jenen Regierungen Kontakt zu halten, die als russlandfreundlich galten. Neben Ungarn waren das Griechenland, Italien und bis zu einem gewissen Grad auch Österreich. Diese Russlandfreundlichkeit, die Orban jetzt auch weiterhin zuverlässig an den Tag legt, geht ins Kalkül des Kremls ein.

«Kalkül des Kremls»: Viktor Orban (links) und Wladimir Putin im August 2017 bei der Judo-WM in Budapest.
«Kalkül des Kremls»: Viktor Orban (links) und Wladimir Putin im August 2017 bei der Judo-WM in Budapest.
AP

Die Nato sagt, sie fühle sich nicht länger an Abmachungen mit Russland gebunden und will Osteuropa aufrüsten: Spielen solche Aussagen Putin nicht in die Hände?

Bisher hat man immer darauf geachtet, die Nato-Russland-Grundakte von 1997 zu beachten: Bei der Enhanced forward presence der Nato wurde Wert darauf gelegt, dass keine fremden Nato-Truppen permanent in den baltischen Ländern und Polen stationiert werden, sondern nur auf Rotationsbasis. Zu einem gewissen Grad wird eine Änderung dieser Doktrin vom Kreml sicher propagandistisch ausgeschlachtet werden. Man wird sagen, die Nato habe ihr Wort gebrochen. 

Aber?

Auf der anderen Seite kann man den Kurswechsel auch verstehen: Auch Russland hat ganz entscheidende Grundsätze in dieser Grundakte verletzt. Dort steht explizit, dass man nicht nur auf Gewalt, sondern selbst auf die Androhung von Gewalt verzichtet. Das heisst, dass schon der Truppenaufmarsch am Jahreswechsel gegen die Nato-Russland-Grundakte verstossen hat.

Manche argumentieren, man müsse aggressiver auftreten, um Russland die Stirn bieten zu können: Ist da etwas dran?

Die Nato hat zurecht von Anfang an betont, dass sie keine Kriegspartei werden will. Das ist eine vorsichtige Haltung gewesen und ich denke, es ist klug, wenn sich die Nato weiterhin an diesen Grundsatz hält, um eine Eskalation zu vermeiden.