«Squid Game» Für Nordkorea ist der Netflix-Hit aus dem Süden ein gefundenes Fressen

Von Sven Hauberg

14.10.2021

Keine Netflix-Serie war bislang erfolgreicher als «Squid Game».
Keine Netflix-Serie war bislang erfolgreicher als «Squid Game».
Bild: Netflix

Mehr als 111 Millionen Menschen haben den Netflix-Hit «Squid Game» bereits gesehen. Auch in Nordkorea hat man die Serie auf dem Schirm – und nutzt sie für Propaganda gegen den südlichen Nachbarn.

Von Sven Hauberg

Kim Jong-il, der 2011 verstorbene Vater des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un, war ein grosser Freund des Kinos. Die Leidenschaft des Tyrannen ging so weit, dass er nicht nur Ende der 70er-Jahre einen südkoreanischen Regisseur entführen liess, Kim schrieb auch das nordkoreanische Standardwerk zum Thema: «Über die Filmkunst».

In dem 350-Seiten-Werk beschäftigt sich Kim mit Fragen der Kameraführung, mit Kulissen und Filmmusik. Ein Filmemacher, schreibt Kim, müsste stets in dem festen Glauben ans Werk gehen, «dass er mit seiner Kunst der Revolution dient». Insider indes wussten zu berichten, dass Kim mitnichten nur nordkoreanische Propagandafilme schaute; zu seinen Lieblingshelden zählten vielmehr Rambo und James Bond.

Kim Jong-un Anfang September: Das nordkoreanische Regime macht mit einer Netflix-Serie Propaganda gegen den Nachbarn in Süden.
Kim Jong-un Anfang September: Das nordkoreanische Regime macht mit einer Netflix-Serie Propaganda gegen den Nachbarn in Süden.
Bild: Keystone

Wie viel von der Filmleidenschaft seines Vaters der jetzige Machthaber Kim Jong-un geerbt hat, ist nicht bekannt. Welche Filme und Serien im Ausland gerade populär sind, beobachtet man in Pjöngjang dennoch genau. So liess sich eine nordkoreanische Propaganda-Website unlängst zu einem ausführlichen Kommentar über «Squid Game» hinreissen, jene Netflix-Serie aus Südkorea, die derzeit alle Rekorde sprengt.



111 Millionen Zuschauer sahen die beissende Gesellschaftssatire bislang, mehr als jede andere Produktion aus dem Hause Netflix. Das hat man offenbar auch in Nordkorea mitbekommen, und so behauptet man auf besagter Website nun, die Serie sei deshalb so erfolgreich, «weil sie die Realität der kapitalistischen Gesellschaft» zeige, in der ein «extremer Überlebenskampf» herrsche. «Squid Game» porträtiere das moderne Südkorea, wo «die Zahl der Verlierer im harten Wettbewerb um Beschäftigung, Immobilien und Aktien dramatisch ansteigt».

Das Volk hungert

«Squid Game» handelt von einer brutalen Gameshow, in der Hunderte hoch verschuldete Menschen in Spielen aus ihrer Kindheit um einen Millionengewinn kämpfen. Wer verliert, stirbt – und lässt den Jackpot durch seinen Tod noch weiter anwachsen. Wirklich falsch liegen die nordkoreanischen Kritiker mit ihrer Analyse also nicht. Zumal auch Regisseur Hwang Dong-hyuk den Erfolg von «Squid Game» damit erklärt, dass viele Südkoreaner sich mit der extremen Ungleichheit, die in seiner Serie dargestellt wird, identifizieren könnten.

Wie gross die Ungleichheit freilich auch im Norden der koreanischen Halbinsel ist, zeigte sich gerade in diesen Tagen einmal mehr mit voller Wucht. Während sich Kim Jong-un Berichten zufolge mit Entwürfen für Touristenressorts sowie Designs für Weinflaschen beschäftigt und sich, wie aktuelle Bilder zeigen, mit Kampfsportvorführungen seiner Soldaten unterhalten lässt, hungert sein Volk. 

So warnten UNO-Ermittler in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht an die UNO-Vollversammlung vor einer Hungersnot in Nordkorea. Vor Beginn der Corona-Pandemie hätten 40 Prozent der Bevölkerung des abgeschotteten Landes keinen gesicherten Zugang zu Nahrung gehabt; die Krise habe die Situation aber noch deutlich verschärft. Weil Nordkorea seine Grenzen geschlossen habe, sei der Import von Lebensmitteln und Düngemitteln aus China eingebrochen. Hinzu kämen die Auswirkungen internationaler Sanktionen sowie ein Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest.

Machthaber Kim Jong-un hatte Anfang der Woche seine Beamten dazu aufgerufen, die «düstere Lage» und die «beispiellosen Schwierigkeiten», denen sich das Land gegenübersehe, zu überwinden und die Lebensbedingungen der Menschen abzusichern.

«Bösartiges Krebsgeschwür» K-Pop

Trotz oder gerade wegen all der Probleme im eigenen Land wird die nordkoreanische Propaganda nicht müde, den südlichen Nachbarn rhetorisch anzugreifen und als abschreckendes Beispiel eines zügellosen Kapitalismus darzustellen. Schon «Parasite», der Oscar-Gewinner von 2020, musste für Südkorea-Kritik herhalten. Der Film sei ein Meisterwerk, das «die Realität» der Kluft zwischen Arm und Reich in Südkorea «schonungslos aufzeigt», schrieb im vergangenen Jahr ein in Japan erscheinendes nordkoreanisches Propagandablatt.



Auch die südkoreanische Popkultur, die an sich eher unpolitisch ist, geriet immer wieder ins Visier der Propaganda aus dem Norden. So soll Kim Jong-un einem Bericht zufolge gesagt haben, der aus Südkorea stammende K-Pop sei ein «bösartiges Krebsgeschwür», das die «Kleidung, die Frisuren, die Reden und das Verhalten» der jungen Nordkoreaner korrumpiere. Nordkoreanische Medien warnten davor, dass das Land «wie eine feuchte Wand» zerbröckeln würde, wenn K-Pop zu einflussreich werde. 

Tatsächlich gelangen DVDs und andere Medien aus Südkorea immer wieder in den Norden. So berichtete die «New York Times» vor einiger Zeit von einem Überläufer, der ein Netzwerk betreibe, das K-Pop nach Nordkorea schmuggle. Ob auch Raubkopien von «Squid Game» bereits in Pjöngjang angekommen sind, ist hingegen nicht bekannt. Wer den Artikel der eingangs zitierten Propagandaseite liest, bekommt allerdings den Eindruck: Mit eigenen Augen gesehen haben die nordkoreanischen Propaganda-Schreiber den Netflix-Hit nicht.