Rio de JaneiroBolsonaros Brasilien: Strandbilder als wäre die Pandemie vorbei
AP/phi
8.9.2020
Der Präsident pflegt einen lockeren Umgang mit dem Coronavirus und die Brasilianer folgen seinem Beispiel. Ausgerechnet ein Kritiker verteidigt Bolsonaro.
Nach sechs Monaten hielt Suellen de Souza es nicht mehr aus in ihrer Wohnung. Die junge Brasilianerin machte sich auf zum Strand, zum ersten Mal seit Beginn der Corona-Pandemie. Sie war nicht die einzige: Am berühmten Strand Ipanema fand sie kaum noch einen Platz im Sand zwischen all den Familien, die dicht an dicht Abkühlung und Erholung suchten. Masken trugen die wenigsten an diesem Tag. Gesundheitsexperten zeigen sich besorgt angesichts der Sorglosigkeit.
«Diese Woche war es sehr heiss», sagt die 21-jährige Souza zur Begründung ihres Ausflugs. Sie und die anderen Strandbesucher verstiessen damit gegen die Vorschriften, denn eigentlich ist der Strand immer noch geschlossen. Allerdings ignorieren die Menschen das einfach und die Behörden schreiten nur selten ein. Und so strömten Tausende an die Strände, nicht nur in Rio, sondern auch in anderen Küstenstädten und -ortschaften – als wäre die Pandemie schon vorüber.
Ermutigt werden die Brasilianer von ihrem Präsidenten Jair Bolsonaro. Er wehrte sich gegen einen Lockdown und drängte schon zu Beginn der Pandemie zu einer Rückkehr zum normalen Leben. Schliesslich sei Covid-19 nur «eine kleine Grippe», erklärte er damals. Anfang Juli, als er seine Infektion mit dem Virus bekannt gab, sprach er dann von einem Regen, der ihn erreicht habe. Inzwischen gilt der Präsident als genesen.
Gesundheitsexperten rufen dennoch dazu auf, die Vorsichtsmassnahmen einzuhalten, also Abstand zu anderen Menschen zu halten, die Hände zu waschen und Masken zu tragen. Zweifel daran haben selbst Menschen wie Souza, die als Krankenpflegerin in einem Krankenhaus für Corona-Patienten gearbeitet hat. Das Virus sei inzwischen etwas besser unter Kontrolle, «das hat mir die Sicherheit gegeben, hinauszugehen», erklärt sie.
Ein solches Gefühl der Sicherheit herrschte am Wochenende offenbar auch in São Paulo, dem brasilianischen Staat, der mit mehr als 855'000 Infektionen und 31'000 Toten am schwersten in Brasilien von der Pandemie getroffen wurde. Tausende nutzten dort ein langes Wochenende, um an die Küste zu fahren. Auf den Autobahnen war es noch voller als zur Zeit des Karnevals im Februar.
«Wenn man zu lange drinnen bleibt, wird man verrückt»
«Wenn man zu lange drinnen bleibt, wird man verrückt», erklärt Josy Santos, eine 26 Jahre alte Lehrerin, die den Tag in Guarujá verbrachte, etwa eine Stunde von São Paulo entfernt. «Mir ging es genauso. Als ich herausgefunden habe, dass der Strand geöffnet ist, habe ich beschlossen, herzukommen.»
Brasilien verzeichnet bisher mehr als 4,1 Millionen bestätigte Infektionen und 127'000 Todesfälle. In den vergangenen Wochen ging die Zahl der Neuinfektionen nach drei Monaten auf hohem Niveau erstmals leicht zurück. Noch immer sterben jedoch rund 820 Menschen pro Tag an oder mit dem Virus, eine Zahl, die Epidemiologen als hoch bezeichnen.
Die Lungenfachärztin Patricia Canto vom Forschungsinstitut Fiocruz warnt, wenn die Brasilianer weiter nachlässig seien, könnte das Land eine ähnliche Entwicklung nehmen wie Länder in Europa, und dort besonders Spanien. «Spanien hatte die Pandemie unter Kontrolle, aber dann gab es neue Ausbrüche, als viele junge Leute im Sommer sorglos wurden», erklärt sie. Wenn die Menschen weiter ohne Vorsichtsmassnahmen Strände und Bars besuchten, könne es Brasilien ähnlich ergehen.
«Keine ernsthafte Strategie»
Der Politikwissenschaftler Geraldo Tadeu macht eine fehlende Koordination auf allen Regierungsebenen im Kampf gegen Covid-19 für die mangelnde Einsicht der Brasilianer verantwortlich. «Nach sechs Monaten kann niemand mehr drinnen bleiben, wenn es keine klaren Richtlinien für die Bekämpfung des Virus gibt», erklärt Tadeu. «Weil es keine ernsthafte Strategie gibt, ist die Bevölkerung erschöpft.» Die Menschen gingen nach draussen, weil andere sich auch nicht an die Massnahmen hielten.
Tatsächlich erscheinen die Brasilianer inzwischen entspannt im Umgang mit dem Coronavirus. Dazu trägt auch die Haltung von Präsident Bolsonaro bei. Die Krankenpflegerin Souza erklärt, viele hielten die Schutzmassnahmen für unnötig, weil «Bolsonaro nicht an die Krankheit glaubte». «Er war kein Vorbild.»
An dieser Einschätzung zweifelt der Gouverneur von São Paulo, João Dora, der wegen der Schutzmassnahmen gegen Corona mehrfach mit dem Präsidenten aneinandergeriet. Das Problem der vollen Strände gebe es auch in Spanien, den USA und Grossbritannien, erklärt er. «Dort gab es nicht diese Reden gegen das Abstandhalten.»