Unglück«Apokalypse» in Beirut – Detonation verschärft Leiden der Libanesen
dpa/tafu
5.8.2020
Seit Monaten leidet der Libanon an einer schweren Wirtschaftskrise. Dann verschärfte die Coronapandemie die Lage. Und jetzt stürzt die schwere Explosion im Hafen von Beirut die Menschen in Verzweiflung.
Die Einwohner Beiruts sind Kummer gewohnt. Doch die Explosion im Hafen der Stadt am Mittelmeer war so mächtig, dass sie alles in den Schatten stellt, was die Menschen bislang erlebt haben.
Die Bilder und Videos von der Detonation erinnern an den Abwurf einer Atombombe. Ein riesiger Pilz aus Staub schiesst am Dienstag in den Himmel. Die Druckwelle ist so gewaltig, dass sie Hochhäuser zerstört, Autos zertrümmert und Menschen zu Boden schleudert. Zurück bleibt ein Bild der Verwüstung. Und eine Stadt unter Schock.
Eine Stadt in Schutt und Asche
Der Hafen, die Lebensader des Landes, liegt zu grossen Teilen in Schutt und Asche. Das ganze Aussmas des Schreckens zeigt eine Luftaufnahme des US-Senders CNN: Die Detonation sprengte einen grossen Teil von Getreidesilos im Hafen. Und sie riss einen riesigen Krater auf, der sich mit Meerwasser füllte.
CNN drone footage shows some of the devastation caused by the massive explosion in Beirut.
Auch die angrenzenden Wohngebiete, darunter Beiruts berühmte, beliebte und oft belebte Ausgehviertel, sind zerstört. Kein Gebäude bleibt ohne Schäden. Hochhäuser sehen aus wie ausgebrannte Skelette. Selbst in Orten rund 20 Kilometer von Beirut entfernt gingen Fensterscheiben zu Bruch.
Die Opferzahl ist verheerend: Mehr als 100 Menschen starben, etwa 4'000 wurden verletzt. Beiruts Gouverneur Marwan Abbud schätzt, dass bis zu 250'000 Einwohner ihre Wohnungen verloren haben. Der Politiker war so verzweifelt, dass es bei einem Besuch am Unglücksort vor laufender Kamera kurz in Tränen ausbrach.
🇱🇧 The Governor of Beirut, Marwan Abboud, did not hold back tears, comparing the explosion to the bombing of Hiroshima and Nagasaki. According to him, the damage from the explosion is estimated at $ 3-5 billion.@serious_war_engpic.twitter.com/ACgV3sx4YS
Ein Geruch von Tod und Blut liegt auch noch am Mittwoch, einen Tag nach der Explosion, über der Stadt. Menschen fegen die Scherben zusammen, die überall auf den Strassen liegen. Manche sprechen von einer «Apokalypse».
«Nichts war wie das hier»
«Wir haben einen Bürgerkrieg erlebt, wir haben schon früher Bomben gehört», sagt der Ingenieur Sam Saidan in der Nähe des Hafens. «Aber nichts war wie das hier.» Auch Mohammed al-Hadsch, Besitzer eines kleinen Ladens, klagt: «Wir erleben ohnehin schlimme Zeiten. Und das kommt jetzt auch noch obendrauf.»
Schon vor der Explosion war die Wut der Menschen auf die libanesische Machtelite gross. Jetzt ist sie noch weiter gewachsen. Eine Frau, die auf ihrem beschädigten Balkon steht, weint und brüllt: «Präsident, Regierung und Parlament sollten sofort zurücktreten.»
In den Kliniken spielten sich Szenen der Verzweiflung ab. Das ohnehin geschwächte Gesundheitssystem des Landes war mit der Versorgung einer so grossen Zahl von Opfern überfordert. Ein älterer Mann sass am Dienstagabend vor dem Krankenhaus der Amerikanischen Universität und wartete auf eine Behandlung, der Körper mit Blut bedeckt. «Ich war in der Küche am Kochen, als ich plötzlich in Richtung des Wohnzimmers geschleudert wurde», erzählt er. «Erst dachte ich an ein Erdbeben. Meine Wand stürzte ein, Glassplitter fielen auf mich herab.»
Offenbar gab es im Hafen zunächst eine erste Explosion, gefolgt von kleineren, wie bei einem Feuerwerk. Auf Videos ist eine Rauchwolke zu sehen, die aufsteigt. Feuer bricht aus. Dann folgt die zweite, verheerende Detonation, die die massiven Schäden anrichtet.
War Fahrlässigkeit die Ursache?
Eine Frage überschattet alles: Wie konnte es zu dieser gewaltigen Explosion kommen? Schnell verbreiteten sich Gerüchte, das verfeindete Nachbarland Israel habe die libanesische Schiitenorganisation Hisbollah bombardiert. Dafür gibt es aber keine Hinweise.
Vieles spricht für ein Unglück in Folge von Fahrlässigkeit. Möglicherweise wurde die Explosion durch eine grosse Menge Ammoniumnitrat ausgelöst, die seit Jahren im Hafen von Beirut gelagert worden sein soll. Genaues soll eine Untersuchung der Detonation ergeben.
Tote und Verletzte nach schwerer Explosion in Beirut
Beirut, ein Jahr nach der Katastrophe: Die Aufräumarbeiten im Hafen kommen nur schleppend voran. Für die Opfer der verheerenden Explosion ist ein Mahnmal errichtet worden.
Bild: EPA/Wael Hamzeh
Eine immense Explosion erschüttert am 4. August 2020 die libanesische Hauptstadt. Mehr als 190 Menschen verlieren ihr Leben.
Bild: Keystone/dpa
Grosse Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat, die im Hafen gelagert waren, hatten sich entzündet.
Bild: Keystone/dpa
Augenzeugen berichten von einer orangefarbenen Wolke über dem Hafen, wie sie nach der Verpuffung von Nitraten häufig auftritt.
Bild: Getty Images
In den Wohnvierteln nahe des Hafens taumeln verletzte Menschen durch die Strassen. Umgeworfene Autos und Trümmer versperren den Weg.
Bild: Keystone/dpa
«Beirut hat noch nie derartige Zerstörung gesehen, nicht einmal im Bürgerkrieg war es jemals so schlimm», sagt ein Einwohner im Gespräch mit «blue News». Er blieb zum Glück unverletzt.
Bild: Keystone/dpa
Auch die Schweizer Botschaft in Beirut wird durch die Wucht der Detonation schwer beschädigt. Die Schweizer Botschafterin erleidet dabei leichte Verletzungen.
Bild: Aussendepartement EDA
Fenster und Türen sind auch in mehreren Kilometern Entfernung herausgerissen.
Bild: Keystone/dpa
Stunden nach der Explosion rasen Krankenwagen aus dem ganzen Land in die Hauptstadt und transportierten Verletzte ab.
Bild: Keystone/dpa
Rund 6000 Personen werden verletzt, die Spitäler stossen an ihre Kapazitätsgrenzen.
Bild: Keystone/dpa
Ärzte bitten die Bevölkerung um Blutspenden und Generatoren für Strom.
Bild: Keystone/dpa
Die Detonation ist sogar im 200 Kilometer entfernten Zypern zu hören und zu spüren.
Bild: Keystone/dpa
Der Gouverneur von Beirut, Marwan Abbud, bricht am Ort des Geschehens in Tränen aus. «Beirut ist eine verwüstete Stadt», sagt er.
Bild: Keystone/dpa
Die politische Aufarbeitung der Tragödie kommt kaum voran. Auch ein Jahr später warten Angehörige der Opfer auf Antworten, etwa zur Frage, wer verantwortlich ist. Im Juli 2021 demonstrieren Hinterbliebene in Beirut gegen die Regierung.
Bild: AP Photo/Bilal Hussein
Der frühere Ministerpräsdient Najib Mikati (Mitte) wird am 26. Juli 2021 mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Zwei Vorgänger sind an dieser Aufgabe gescheitert.
Bild: EPA/Wael Hamzeh
Die Zerstörung des wichtigsten Hafens trifft den Libanon zu einem Zeitpunkt, als das Land ohnehin schon in einer schweren Wirtschaftskreise steckt.
Bild: Keystone/dpa
Tote und Verletzte nach schwerer Explosion in Beirut
Beirut, ein Jahr nach der Katastrophe: Die Aufräumarbeiten im Hafen kommen nur schleppend voran. Für die Opfer der verheerenden Explosion ist ein Mahnmal errichtet worden.
Bild: EPA/Wael Hamzeh
Eine immense Explosion erschüttert am 4. August 2020 die libanesische Hauptstadt. Mehr als 190 Menschen verlieren ihr Leben.
Bild: Keystone/dpa
Grosse Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat, die im Hafen gelagert waren, hatten sich entzündet.
Bild: Keystone/dpa
Augenzeugen berichten von einer orangefarbenen Wolke über dem Hafen, wie sie nach der Verpuffung von Nitraten häufig auftritt.
Bild: Getty Images
In den Wohnvierteln nahe des Hafens taumeln verletzte Menschen durch die Strassen. Umgeworfene Autos und Trümmer versperren den Weg.
Bild: Keystone/dpa
«Beirut hat noch nie derartige Zerstörung gesehen, nicht einmal im Bürgerkrieg war es jemals so schlimm», sagt ein Einwohner im Gespräch mit «blue News». Er blieb zum Glück unverletzt.
Bild: Keystone/dpa
Auch die Schweizer Botschaft in Beirut wird durch die Wucht der Detonation schwer beschädigt. Die Schweizer Botschafterin erleidet dabei leichte Verletzungen.
Bild: Aussendepartement EDA
Fenster und Türen sind auch in mehreren Kilometern Entfernung herausgerissen.
Bild: Keystone/dpa
Stunden nach der Explosion rasen Krankenwagen aus dem ganzen Land in die Hauptstadt und transportierten Verletzte ab.
Bild: Keystone/dpa
Rund 6000 Personen werden verletzt, die Spitäler stossen an ihre Kapazitätsgrenzen.
Bild: Keystone/dpa
Ärzte bitten die Bevölkerung um Blutspenden und Generatoren für Strom.
Bild: Keystone/dpa
Die Detonation ist sogar im 200 Kilometer entfernten Zypern zu hören und zu spüren.
Bild: Keystone/dpa
Der Gouverneur von Beirut, Marwan Abbud, bricht am Ort des Geschehens in Tränen aus. «Beirut ist eine verwüstete Stadt», sagt er.
Bild: Keystone/dpa
Die politische Aufarbeitung der Tragödie kommt kaum voran. Auch ein Jahr später warten Angehörige der Opfer auf Antworten, etwa zur Frage, wer verantwortlich ist. Im Juli 2021 demonstrieren Hinterbliebene in Beirut gegen die Regierung.
Bild: AP Photo/Bilal Hussein
Der frühere Ministerpräsdient Najib Mikati (Mitte) wird am 26. Juli 2021 mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Zwei Vorgänger sind an dieser Aufgabe gescheitert.
Bild: EPA/Wael Hamzeh
Die Zerstörung des wichtigsten Hafens trifft den Libanon zu einem Zeitpunkt, als das Land ohnehin schon in einer schweren Wirtschaftskreise steckt.
Bild: Keystone/dpa
Der Libanon ist ohnehin ein geplagtes Land. Erst brach eine Wirtschaftskrise über die Menschen herein, die schlimmste seit dem Ende des 15-jährigen Bürgerkrieges vor rund 30 Jahren. Dann verschärfte die Coronapandemie die Lage noch weiter. Die nationale Währung, das libanesische Pfund, ist abgestürzt.
Grosse Teile der Bevölkerung sind unter die Armutsgrenze gerutscht und wissen nicht mehr, wie sie sich und ihre Familien ernähren sollen. Sie geben dafür einer korrupten Machtelite die Schuld, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, das Land hemmungslos geplündert zu haben.
Sargnagel für die Wirtschaft und das Land
Beobachter warnen nun vor weiteren Versorgungsengpässen. Der Libanon hängt stark von Lieferungen aus dem Ausland ab, die in erheblichem Masse über den jetzt zerstörten Hafen liefen. «Diese Explosion ist der Sargnagel für die Wirtschaft des Libanons und für das Land im Allgemeinen», prophezeit der Analyst Makram Rabah.
Die Menschen könnten ihre Häuser nicht wieder aufbauen, weil ihnen das Geld fehle. In Beiruts Hafen seien unter anderem Getreidesilos zerstört worden. «Wenn wir uns die Zerstörung dieser Silos anschauen, dann bedeutet das, dass wir auf eine Hungerkrise und Engpässen bei Brot zusteuern.»
Einer Frau, die direkt gegenüber dem Hafen lebt, steht der Schock auch am Tag danach noch ins Gesicht geschrieben. «Wir sind obdachlos, wir sind am Ende», schreit sie. «Ich wünschte, ich wäre gestorben.»