Proteste statt Party 70 Jahre Volksrepublik – darum will in Hongkong niemand feiern

tsha

30.9.2019

Morgen Dienstag, am 1. Oktober, feiert ganz China Geburtstag. Ganz China? Nein! Eine von unbeugsamen Demokraten bevölkerte Stadt hört nicht auf, Widerstand zu leisten. Und das aus gutem Grund.

Worauf blickt ein Land, wenn es sich feiert? Auf seine Staatsführer? Auf sein Volk? Oder zurück auf seine Geschichte, mit all ihren Höhen und Tiefen? Wenn die Volksrepublik China am 1. Oktober den 70. Jahrestag ihrer Gründung begeht, dann wird das vor allem die Feier eines gigantischen Aufstiegs sein.

Am 1. Oktober 1949, als Mao Zedong den neuen, kommunistischen Staat am Platz des Himmlischen Friedens in Peking ausrief, war China ein durch Krieg und Bürgerkrieg ausgeblutetes Land, ein riesiges Armenhaus. Heute ist China wieder Weltmacht, so wie es das über Jahrhunderte schon war. Grund zum Feiern also? Nicht in Hongkong. Denn in der einstigen britischen Kolonie wissen die Menschen, die seit Monaten auf die Strasse gehen, ganz genau: Erkauft wurde dieser Erfolg zu einem hohen Preis.

Die ersten Jahrzehnte der neueren chinesischen Geschichte waren eine Abfolge von Katastrophen. 1949 hatten die Kommunisten über die Nationalisten gesiegt, die daraufhin in Taiwan einen eigenen Staat ausriefen. Der Krieg gegen Japan, das seinen Nachbarn China über Jahre brutal massakriert hatte, lag gerade einmal vier Jahre zurück. Mao Zedong war ein Hoffnungsträger. Er versprach, das geschundene Land wiederaufzubauen und ihm neues Selbstvertrauen zu schenken. Doch der Bauernsohn aus Zentralchina hinterliess einen Leichenberg, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte.

45 Millionen Tote

Allein während des «Grossen Sprungs nach Vorn», jener völlig aus dem Ruder gelaufenen Wirtschaftskampagne der späten 50er-Jahre, starben bis zu 45 Millionen Menschen. Es folgte eine Kampagne nach der anderen, bis Maos Wahnsinn schliesslich in der «Kulturrevolution» (1966-1976) gipfelte, als Kinder ihre Eltern töteten und wahnsinnig gewordene Rotgardisten Jahrhunderte alte Kulturschätze kurz und klein schlugen.

Sieht so eine Erfolgsgeschichte aus? Mao sei zu 70 Prozent gut gewesen, zu 30 Prozent schlecht, lautet die offizielle Sprachregelung heute. In Hongkong sieht man das Verhältnis freilich umgekehrt. Mindestens.

Und nach Mao? Erst unter Deng Xiaoping, der Mao kurz nach dessen Tod 1976 ablöste, kehrte Ruhe ein in China. Und erst unter Deng wuchs die chinesische Wirtschaft, wurden Millionen von Menschen aus der Armut befreit. Mit seinen Reformen stiess Deng (1904-1997) ein Wirtschaftswunder an, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Er öffnete das Land, für neue Ideen und für den Handel mit dem Ausland. Ein Grund zum Feiern? Nicht in Hongkong.

Wirtschaftswunder und Massaker

Denn Deng, der Mann aus Westchina, war es auch, der Hongkong zurück ins Mutterland holte, mit dem – inzwischen längst gebrochenen – Versprechen von «einem Land, zwei Systemen». Und er war es, der 1989 die Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens rollen liess. In China wird man an das Massaker an den Studenten, die im Sommer vor 30 Jahren von Demokratie träumten, nicht erinnert. In Hongkong sehr wohl. Dort ist die Erinnerung so wach wie lange nicht mehr: Es sind vor allem die Studenten, die heute dort auf die Strasse gehen.

Was also feiern in Hongkong, wenn die Geschichte nicht taugt? Die Gegenwart? Seit 2012 ist Xi Jinping der neue starke Mann in China. Unter Xi wuchs die Wirtschaft zuletzt um fast sieben Prozent im Jahr; heute ist die Volksrepublik – nach den USA – die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt. Grund zum Feiern also? Nicht in Hongkong.

Ein neuer Diktator

Denn hier beobachtet man ganz genau, wie Xi sein Land nicht nur wirtschaftlich voranbringt, sondern gleichzeitig auch zur modernsten und effizientesten Diktatur ausbaut, die die Welt je gesehen hat. Der Mann, der auf offiziellen Aufnahmen stets so gütig lächelt, hat sich eine Machtfülle gesichert, wie sie seit Mao kein chinesischer Staatsführer mehr innehatte. Seine Gedanken haben Verfassungsrang – eine Ehre, die nur Mao und Deng zuteil wurde. Xi, um den seit Jahren ein Personenkult gemacht wird, der anderen die Schamesröte ins Gesicht treiben würde, setzte vor anderthalb Jahren eine Verfassungsänderung durch, die es ihm ermöglicht, bis zu seinem Tod Staatspräsident zu bleiben – ein Diktator auf Lebenszeit.

Nebenbei baut er China zu einem Überwachungsstaat von Orwell'schen Ausmassen um und unterdrückt die ethnischen Minderheiten im Land mit eiserner Hand. In der muslimisch geprägten Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas sollen eine Million Menschen in Umerziehungslagern sitzen. Es ist diese Politik, gegen die die Menschen in Hongkong seit Juni zu Hunderttausenden auf die Strasse gehen. Ging es anfangs noch um das umstrittene Auslieferungsgesetz, das längst zurückgezogen wurde, geht es den Demonstranten heute um eine viel fundamentalere Frage: um die Angst, dass auch in Hongkong dereinst chinesische Verhältnisse herrschen könnten. 

Was also feiern in Hongkong, wenn auch die Gegenwart nicht taugt?

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