Festung Mariupol ist gefallen Russland präsentiert Kriegsgefangene

Von Andreas Stein und Ulf Mauder, dpa/amo

22.5.2022 - 14:19

Überleben in Mariupol: «Wir haben keine Zukunft»

Überleben in Mariupol: «Wir haben keine Zukunft»

Überleben in Mariupol: «Wir haben keine Zukunft»

22.05.2022

Russland feiert die Kapitulation der letzten ukrainischen Verteidiger im Asow-Stahlwerk in Mariupol als einen grossen Kriegserfolg. Der ukrainische Präsident Selenskyj versucht, die bisher grösste Niederlage zu verteidigen.

Wie Siegestrophäen führt das russische Verteidigungsministerium in einem Video die gefangenen genommenen letzten ukrainischen Verteidiger von Mariupol vor. Vor der Kulisse des Stahlwerks Asovstal stehen die Männer, teils mit Bärten, in Reih und Glied. Ihre Gesichter sind ausgebleicht nach Wochen ohne Sonne in den Bunkeranlagen der Industriezone.

Das Staatsfernsehen in Moskau schwärmt von einer «beispiellosen Operation» – zur «Befreiung» des Stahlwerks, einer «Festung», und der kompletten Übernahme der strategisch wichtigen Hafenstadt, die fast vollständig zerstört ist.

Das umkämpfte Stahlwerk in Mariupol. Am 20. Mai meldete Moskau, das Werk sei in den Händen der russischen Armee. 
Das umkämpfte Stahlwerk in Mariupol. Am 20. Mai meldete Moskau, das Werk sei in den Händen der russischen Armee. 
KEYSTONE/EPA/ALESSANDRO GUERRA

Freude über Rettung ist grösser als Trauer über Niederlage 

Auch im ukrainischen Internet kursieren die russischen Aufnahmen von den Männern und Frauen. Die Freude über ihre Rettung überwiegt bei der Trauer über die Niederlage. Für die Ukraine ist es der bisher schwerste Verlust überhaupt in dem Krieg, den Kremlchef Wladimir Putin am 24. Februar begonnen hat. Die Stadt mit einst fast 500 000 Einwohnern gilt seit Wochen weltweit als Symbol des ukrainischen Widerstandes gegen Russland. Das ist nun vorbei – auch, weil aus Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj der Westen nicht früher schwere Waffen geliefert hat.

Eltern und Ehepartner haben seit Tagen im In- und Ausland um die Rettung der letzten Verteidiger von Mariupol gebeten. Das Flehen der Ehefrauen und Mütter bei Pressekonferenzen, die Demonstrationen in vielen Ländern sind im Internet allgegenwärtig. Am Freitagabend dann teilt Moskau mit, alle Kämpfer hätten sich ergeben, würden versorgt. Fast 2500 Verteidiger von Mariupol sollen in Gefangenschaft sein, darunter fast 80 Frauen. Ihr Schicksal bleibt ungewiss.

Russische Politiker wollen Gefangene als «Nazi-Verbrecher» vor Gericht ziehen

Putin hat zugesichert, sie blieben am Leben, wenn sie sich ergeben. Selenskyj setzt deshalb nun fest auf einen Gefangenenaustausch, wie es ihn in der Vergangenheit immer wieder einmal gegeben hat. Aber viele russische Politiker sind dagegen, fordern Prozesse zur Verurteilung der «Nazi-Verbrecher».

Kriegsgefangene sind laut humanitärem Völkerrecht vor Gewalt, Einschüchterungen, Beleidigungen und öffentlicher Neugier zu schützen. Sie haben beispielsweise auch Anspruch auf Achtung ihrer Person und Ehre.

Die russischen Medien nutzen den Moment, als die letzten Männer das Werk verlassen, um sie erneut als «Neonazis» zu brandmarken. Sie müssen sich vor Kameras ausziehen, Tätowierungen sind zu sehen. «Das sind keine Comics», sagt der Moskauer Kriegsreporter. Gezeigt werden Totenköpfe, Hakenkreuze sowie immer wieder eine «schwarze Sonne», angeblich das Erkennungssymbol der Nationalisten, aber auch ein Bild von Nazi-Diktator Adolf Hitler.

Ukrainische Kämpfer verlassen das Stahlwerk in Mariupol am 20. Mai, nachdem die Russen dieses unter Kontrolle gebracht haben. 
Ukrainische Kämpfer verlassen das Stahlwerk in Mariupol am 20. Mai, nachdem die Russen dieses unter Kontrolle gebracht haben. 
KEYSTONE/EPA/RUSSIAN DEFENCE MINISTRY PRESS SERVICE

Bei einer Anklage wegen Kriegsverbrechen droht die Todesstrafe

Ein Mann trägt auf seinem Unterarm den deutschen Schriftzug «Jedem das Seine», der in Buchenwald am Eingang des früheren Konzentrationslagers hängt. Bei einer Anklage wegen Kriegsverbrechen droht den Gefangenen in dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Donezker Gebiet, wo Mariupol liegt, die Todesstrafe.

Die Gefangenen zeigen sich mit erhobenem Kopf. Mariupol hat für das von Neonazis und Nationalisten gegründete und bis heute von ihnen dominierte Nationalgarde-Regiment «Asow» eine grosse symbolische Bedeutung. Dem Gründungsmythos der Einheit nach befreite die Anfang Mai 2014 von Freiwilligen gegründete Einheit knapp einen Monat später die damals von Separatisten kontrollierte Hafenstadt.

Die Grossstadt ist aber auch der letzte Punkt an der Küste des Asowschen Meeres, der nun komplett von den russischen Kräften kontrolliert wird. Damit können die von Russland anerkannten Separatisten-Republiken Luhansk und Donzek eigenständig bleiben. Sie haben den Zugang zu den Weltmeeren – und können über den gut ausgebauten grössten Hafen der Region ihre Produktion unabhängig von russischen Landrouten auf dem kostengünstigen Wasserweg exportieren.

Russen wollen Hafen von Mariupol funktionstüchtig machen

Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs hat der «Feind» bereits mit der Räumung von Minen begonnen, um den Hafen wieder funktionstüchtig zu machen. Die Militärführung in Kiew geht davon aus, dass die prorussischen Kräfte mit Hilfe Moskaus nun ihren Vormarsch in den Gebieten Luhansk und Donezk verstärken, um den gesamten Donbass komplett der ukrainischen Kontrolle zu entreissen. Es geht ihnen dort auch um eine feste Landverbindung zu der von Russland 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim.

Der beharrliche Widerstand in Mariupol gegen Moskaus Invasion hat lange dafür gesorgt, dass nach ukrainischen Angaben eine russische Gruppierung von bis zu 20 000 Soldaten mit schwerer Technik gebunden wurde. Diese russischen Soldaten könnten für die stockende Offensive in Richtung Slowjansk oder auch den sich abzeichnenden Kessel bei Sjewjerodonezk nun das entscheidende Übergewicht bringen.

Kiew akzeptiert Niederlage in Mariupol nicht 

In Kiew will indes niemand von einer Niederlage sprechen. «Die ukrainischen Verteidiger von Azovstal, Helden, nicht zu brechen. Danke!», meint etwa Vizeaussenministerin Emine Dschaparowa am Kapitulationstag. Dabei hat sich der Asow-Kommandeur Denys Prokopenko lange gewehrt gegen das Aufgeben. «Macht keine Helden aus Deserteuren und Kämpfern, die sich freiwillig in Gefangenschaft begeben haben», sagt der 30-Jährige kürzlich in einem seiner Videos.

Immer wieder haben die Offiziere öffentlich kritisiert, die ukrainische Führung tue zu wenig, um Mariupol zu befreien. Staatsoberhaupt Selenskyj hingegen beteuert am Samstag in einem Fernsehinterview zum dritten Jahrestag seiner Amtseinführung im Beisein seiner Frau Olena, alles getan zu haben. Er habe mit der Türkei, der Schweiz, Israel, Frankreich gesprochen, die einen Draht zur russischen Führung hätten, «unseren Militärs entsprechende Waffen zu geben, damit wir auf militärischem Wege bis Mariupol gelangen, um diese Leute freizukämpfen». Gebracht hat es wenig.

Das weitere Geschehen hänge nun von Vereinten Nationen, vom Roten Kreuz und von Russland ab, betont Selenskyj. Einen Gefangenaustausch solle es geben. «Wir werden sie nach Hause holen.»

Von Andreas Stein und Ulf Mauder, dpa/amo