Interview Thomas Widmer: «Jeder Höhenweg ist neuerdings auch ein Catwalk»

Von Bruno Bötschi

8.5.2019

Thomas Widmer über das Wandern: «Man entkommt sich selber auch in der schönsten Bergwelt nicht. Aber man erträgt sich in ihr vermutlich besser als in der Stadt.» (Archivbild)
Thomas Widmer über das Wandern: «Man entkommt sich selber auch in der schönsten Bergwelt nicht. Aber man erträgt sich in ihr vermutlich besser als in der Stadt.» (Archivbild)
Bild: Getty Images

Die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer geht gern wandern. Autor Thomas Widmer tut es jede Woche, egal ob es regnet oder schneit. Ein Gespräch über das «Grüezi»-Sagen, teure Outdoor-Kleider und gefährliche Situationen in den Bergen.

Herr Widmer, wie wurde das Wandern zu Ihrer Leidenschaft?

Ich war als Kind mit den Eltern wandern. In der Pubertät begann ich es zu hassen, wie das halt so ist. Ich wollte lesen, nicht wandern. Meine Ruhe wollte ich. Während des Studiums in Bern entdeckte ich das Wandern neu, als Ausgleich zum kopflastigen Lernen und Arbeitenschreiben. Ich zog dann meistens ins Emmental oder in den Jura aus. Dort passierten mir, weil ich eher unbedarft wanderte, die lustigsten Dinge. Einmal brach ich bei La Brévine durch das Eis in einen kleinen Bach und stand bis zu den Knien im Wasser. Das bei minus sieben Grad.

Das Wandern hatte lange Zeit das Image, altmodisch und bünzlig zu sein. Seit einiger Zeit aber wollen plötzlich alle wandern. Woran könnte das liegen?

Schwer zu sagen. Jedenfalls zeigt der Trend, wie wandelfähig das Wandern ist. Die rote Kampfsocke mit dem verschwitzten Salami-Sandwich im Tupperware ist ein Auslaufmodell. Heute kommen die Wanderer und Wanderinnen schick daher in teuren Outdoorklamotten, man sieht in den Bergen die schönsten und schicksten Menschenmodelle. Jeder Höhenweg ist neuerdings auch ein Catwalk.

Zum Start der Wandersaison: Welche Tipps sollten Anfängerinnen und Anfänger unbedingt beachten, bevor sie losziehen?

Aufbauen, aufbauen, aufbauen – die Sache langsam angehen. Nicht allein gehen. Die Wetterprognose beachten. Und immer einen Plan haben.

Was gehört in jedem Fall in den Rucksack?

Notfallfood, bei mir sind es Schoggiriegel. Wasser. Ein Regenschutz. Und die persönlichen Extras, ich habe zum Beispiel immer Ersatzschnürsenkel dabei. Und Blasenpflästerli für bedürftige Leute unterwegs. Und mein Sackmesser. Obwohl ich es in den letzten zehn Jahren – glaube ich – erst einmal gebraucht habe.

Thomas Widmer: «Im Zweifelsfall steige ich lieber 1000 Meter ab, als in einer Hütte zu schlafen. Man darf mich ruhig einen Hüttenneurotiker nennen.»
Thomas Widmer: «Im Zweifelsfall steige ich lieber 1000 Meter ab, als in einer Hütte zu schlafen. Man darf mich ruhig einen Hüttenneurotiker nennen.»
Bild: zVg

GPS oder Wanderkarte?

Ich navigiere per Smartphone mit der Schweizmobil-Karte, die ich zuhause runtergeladen habe. Die Navigation im Gelände funktioniert so auch ohne Telefonsignal. Die Karte reist als Backup mit. Wenn ich sie doch einmal brauche, stelle ich fest, dass ich sie noch schlechter lesen kann als zu Zeiten der Smartphonelosigkeit.

Wanderstöcke – ja oder nein?

Ich nehme die Stöcke mit, versuche sie aber nur zu brauchen, wenn es wirklich nötig ist. Sonst verkümmert der natürliche Gleichgewichtssinn. Am brutalsten sind steile Wege abwärts mit viel trockenem Laub und kugellagerartigem Kleingeröll darunter. Da rutschst du wie auf einer Schmierseife-Rampe. Die Stöcke helfen.

Sie unternehmen seit Jahren jede Woche mindestens eine Wanderung, egal, ob die Sonne scheint oder ob es schneit. Bei Hudelwetter unterwegs sein – das stelle ich mir schrecklich vor.

Wenn es hudelt, kürze ich die Wanderung. Und ich kehre ein. Bei miesem Wetter braucht man ein Ziel. Warmes Essen, Rotwein. Gegenseitigen Zuspruch.

Sind Sie allein oder zusammen unterwegs?

Beides im Wechsel. Je älter ich werde, desto weniger mag ich die Egotrips. Die Freiheit dabei ist grossartig. Aber man kann das Glück nicht teilen.

Wandern Frauen und Männer unterschiedlich?

Mit Mut zur Pauschalformulierung gesagt: Frauen reden mehr. Vor allem miteinander. Die verhandeln ihre Beziehungen, ihre Kleiderkaufpläne, ihre Freuden und Leiden im Job und so weiter und so fort. Männer sind hingegen Schweiger.

Welche Route nahmen Sie am vergangenen Wochenende unter die Füsse?

Von Goldach SG via Schloss Sulzberg auf den Rossbüchel. Dort assen wir grossartig, ich hatte ein Backhendl mit lauwarmem Kartoffensalat. Wein gab's auch. Zu Füssen hatten wir den Bodensee. Danach überquerten wir die neue Hängebrücke von Grub SG nach Grub AR und gingen über Wartensee hinab nach Staad am Bodensee. In der zweiten Hälfte regnete es. So what?

Übernachten Sie hin und wieder unterwegs?

Ja, klar. Aber nie, nie, nie in einer Berghütte. Das wirklich nur im Notfall. Ich bin für diese Art Übernachtung nicht gebaut, mich nerven Schnarcher, und ausserdem misstraue ich auch dem Duvet, das neuerdings serviert wird. Ich denke dann nur: Wanzen! Im Zweifelsfall steige ich lieber 1'000 Meter ab, als in einer Hütte zu schlafen. Man darf mich ruhig einen Hüttenneurotiker nennen.

Wirklich wahr, dass es dort am schönsten ist, wo man keinen Handyempfang hat?

Es ist dort schön, wo es schön ist. Wer ein Handyproblem hat, kann es ja abschalten. Oder in einen malerischen Bergsee schmeissen. Au, halt, nein, sorry: Das ist illegale Abfallentsorgung und geht nicht.

Ende April eröffnet: Die neue Hängebrücke über den Mattenbach von Grub SG nach Grub AR.
Ende April eröffnet: Die neue Hängebrücke über den Mattenbach von Grub SG nach Grub AR.
Bild: Thomas  Widmer

Wer so oft wandert wie Sie, hat sicher schon gefährliche Situationen in den Bergen erlebt.

Selten einmal kommt das vor. Ich ging einmal im Nebel allein aufs Mittaggüpfi, einen Berg im Luzernischen. In einer gruselig steilen Grashalde kam ich vom Weg ab. Ich musste mich zwingen, nicht ins Hasten zu kommen, sondern mich zu setzen und zu überlegen. Das Handy half mir zurück auf den rechten Weg. Das war eine wirklich gefährliche halbe Stunde.

Haben Sie sich schon einmal verlaufen?

Siehe letzte Frage. So einmal im Jahr kommt das vor. Hingegen geschieht es etwa fünf Mal pro Wandertag, dass ich kurz mal ins Rotieren komme und hart überlegen muss, wo und wie es weitergeht. Aber das sind kurzfristige Dinge.

Wird unterwegs gegrüsst?

Ich fände es unnatürlich, in den Bergen nicht zu grüssen. Ich sage je nach dem Alter des Gegenüber «Grüezi» oder, wenn es junge Leute sind, «Hoi» oder «Hoi mitenand».

Darf man während einer Wanderung singen?

Ich neige im Zustand des Entzückens eher zum halblauten Gemurmel, es entfliehen mir banale Wörtli wie: «Wahnsinn!» Oder: «Heieiei!» Oder: «Wahnsinn, heieiei!» Auch glücklich seufzen tue ich dann ausgiebig. Als Jungstudi war ich einmal mit anderen Jungstudis bei Lauenen unterwegs. Der eine von uns hatte einen riesigen Ghettoblaster dabei, aus dem Aggressivsound von den Einstürzenden Neubauten kam. Andere Wanderer wollten uns schlagen.

Wie lange muss ich wandern, bis ich einkehren darf?

Kehren Sie einfach an jedem Ort ein, der offen hat. Konsumieren Sie! Die Leute, die solche Beizli betreiben, sind auf Besucher angewiesen. Nun gut, auf der Schwägalp vor dem Säntis wird es der Wirt nicht merken, ob sich zu den gefühlten 802 Gästen noch ein Gast 803, also Sie, gesellt.

Der höchste Wandergipfel Europas ist das Barrhorn im Wallis. Es ist 3'610 Meter hoch. Waren sie dort oben schon?

Leider nein. Das Barrhorn steht schon seit 20 Jahren auf der Liste. Aber wenn ich mich recht entsinne, muss man in einer Hütte übernachten, weil es sonst zu weit ist. Daher …

Welches ist der höchste Gipfel, den Sie je zu Fuss erreicht haben?

Das Flüela-Schwarzhorn, 3'146 Meter.

Ist das Ziel des Wanderns, sich selbst zu finden?

Das Ziel nicht. Man lernt sich aber notgedrungen kennen. Ich zum Beispiel bin ein Nervösling, der manchmal – Gott sei Dank nicht immer –, am allerschönsten Ort denkt: Schaffe ich es auf das 15-Uhr-02-Posti oder nicht? Und wenn es 17 Uhr 02 wird, wann bin ich dann wieder zuhause in Zollikerberg? Man entkommt sich selber auch in der schönsten Bergwelt nicht. Aber man erträgt sich in ihr vermutlich besser als in der Stadt.

Zur Person: Thomas Widmer

Thomas Widmer ist studierter Islamwissenschaftler und Arabist. Nach einem Intermezzo als IKRK-Kriegsdolmetscher wurde er Journalist. Viele Jahre war er Redaktor beim «Tages-Anzeiger», seit 2017 ist er für die «Schweizer Familie» als Reporter unterwegs. Für den Echtzeit Verlag hat er mehrere Bücher über das Wandern verfasst. Sein neuestes Werk «Hundertundein Stein» erschien vor wenigen Wochen. Dank seiner beliebten Wanderkolumne gilt Widmer als «Schweizer Wanderpapst» («Der Spiegel»). Auf Widmer wandert weiter bloggt er täglich übers Wandern.

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