Ost-Neubritannien mit dem ikonischen Tavurvur Vulkan ist die neue Heimat der knapp 120'000 Tolai. Vor 250 Jahren setzte das melanesische Volk von der Nachbarinsel Neuirland über. Das Hauptmotiv für die Migration war die Entdeckung grosser Bestände von Nassariidae-Schnecken im seichten Küstenwasser, Tabu – die Ur-Währung der Tolai.
Betitelt nach den tropischen Kaurischnecken kam Kaurigeld um 1200 vor Christus zunächst im Indischen Ozean auf und breitete sich von dort in alle Himmelsrichtungen aus. Die Tolai hingegen verwenden die Schalen von Nassariidae-Schnecken.
Betitelt nach den tropischen Kaurischnecken kam Kaurigeld um 1200 v. Chr. zunächst im Indischen Ozean auf und breitete sich von dort in alle Himmelsrichtungen aus. Die Tolai hingegen verwenden die Schalen von Nassariidae-Schnecken. Somit ist das Muschelgeld der Tolai streng genommen gar kein Muschelgeld, sondern Schneckengeld. Shell money (deutsch: Muschelgeld) hat sich aber als Standardbezeichnung für Alternativwährung durchgesetzt.
Über die Jahrhunderte wurden in den seichten Küstengewässern von Ost-Neubritannien praktisch alle Schneckengehäuse abgeerntet.
Heute kommt das von Mittelmännern organisierte Rohmaterial via Frachtschiff von den Salomonen-Inseln und wird dann hier weiterverarbeitet.
Der Wert vom Muschelgeld entsteht durch die filigrane Handarbeit. Die Schneckengehäuse werden nach minutiösen Suchaktionen gewaschen, dann poliert, gelocht und auf Naturfasern aufgefädelt.
In Rabaul und Kokopo gibt es mittlerweile einige privat geführte Wechselstuben wo Tabu gekauft oder verkauft werden kann. Die gebräuchlichste Einheit von Tabu ist eine Param-Kette.
Eine Param-Kette aus ungefähr 250 an einer Pflanzenfaser aufgefädelten Schalen entspricht der Spannweite beider Arme einer erwachsenen Person. Ein Param kostet hier marktübliche 5 Kina (rund 1.30 Fr.), zuzüglich einer Transaktionsgebühr von 1 Kina je Param.
Gouverneur Nakikus Konga vor seiner ersten Muschelbank-Filiale. Der Ex-Minister für Handelsgewerbe und Industrie von Papua-Neuguinea schätzt den Gesamtwert von Tabu auf rund 7 Millionen Kina, umgerechnet zirka 1.8 Millionen Franken. Davon zirkuliert aber nur ein Viertel im Umlauf. Den Rest horten die Tolai zu Hause, es kommt bei wichtigen Anlässen wie Initiation (kulturelle Taufe), Heirat und Beerdigung zum Einsatz.
Die Tolai verteidigten ihr geliebtes Tauschmittel erfolgreich gegen die Kolonialherrschaft von Deutschland, England und Australien, sowie die aufstrebende Ökonomie von Papua-Neuguinea. Die Chefs der Tolai Clans bewahren ihr Kulturerbe, indem sie die gesellschaftlichen Ideale und die Tauschkonzepte an die Nachkommen mittels von Muschelgeld finanzierten Busch-Universitäten weitergeben. Dort werden vorwiegend Jagdstrategien, Gemeinschaftskunde sowie Ahnenkult unterrichtet.
Auch in Ost-Neubritannien steht die Zeit nicht still – die Tolai wappnen sich für die Zukunft und schicken ihren Nachwuchs sofern möglich in die staatlichen Schulen. Die verhältnismässig hohen Schulgebühren. Grundschulen kosten ca. 300 Kina (77 Fr.) pro Jahr, Real- beziehungsweise Hochschule jährlich mindestens 1000 Kina (257 Fr.). Sie werden gerne mit der Veräusserung von aufgespartem Tabu beglichen.
Ein grosses Dilemma sind die sprunghaft angestiegenen Diabetesfälle in der Region aufgrund eines Überkonsums von Reis, importieren Süssgetränken plus ...
... konservierter Nahrungsmittel. Die Behandlungskosten werden immer häufiger indirekt mit Muschelgeld getilgt.
Trotz des wachsenden Einflusses westlicher Denkhaltung und bürokratischer Bemühungen «besitzen» die Männer bis dato ihre Ehefrauen in Papua-Neuguinea. Um heiraten zu können, muss ein Mann die Geliebte aus ihrer Familie auskaufen, indem er einen Brautpreis zahlt, dann gehört sie ihm. Bei den Tolai wird ein Teil vom Brautpreis in Muschelgeld bezahlt.
Im Dorf Tinga Ngalip findet eine Warkukul statt – also eine Brautpreis-Zeremonie. Heute wird das Ehegelübde von Charles Zale Junior und Radi Wopapaio rituell besiegelt. Damit alles akribisch genau nachgezählt werden kann, fächert die Familie des Bräutigams die marktübliche Aussteuer auf einer Plane aus: 2000 Kina (515 Fr.) in Muschelgeld plus zusätzlich 1000 Kina (257 Fr.) in bar.
Oliver Akuila starb vor zwei Monaten im Alter von 52 Jahren. Sein Bruder Lua Akuila, Oberhaupt des Taraui Clans, organisiert für ihn nun die Aminamai-Zeremonie. Dabei wird Olivers gesamter Reichtum an Muschelgeld an den Clan und alle anderen Anwesenden vererbt. Im Gegensatz zu modernen Erbteilungen, wo es immer wieder Ärger gibt, profitiert bei den Tolai die ganze Gemeinschaft.
Meistens wird das Aminamai-Ritual parallel zur Beerdigung zelebriert, zuweilen jedoch erst Monate später, falls die Verwandtschaft des Verstorbenen weiteres Muschelgeld akkumulieren muss, um es wiederum unter den beiwohnenden Trauergästen, Musikanten und Tubuan (Ahnengeister – symbolisiert durch Masken und ein Blätter-Kostüm) verteilen zu können. Je nachdem, wie viel Tabu während des Rituals verteilt wird, verbessert oder verschlechtert sich das Prestige des Verstorbenen.
Mittlerweile sind alle Trauergäste inklusive fünf Tubuan anwesend, somit können die vom Taraui Clan ausgehängten Tabu zusammen mit Olivers gesamtem Muschelgeld-Vermögen aufgebrochen und verteilt werden. Auch Lua Akila wird ein grosses Agogo (zu einem Rad gebundenes Tabu) à 2500 Kina (644 Fr.) beisteuern. Seine anderen drei Agogo reserviert Lua für die anstehende Brautpreis-Zeremonie seines Sohnes.
Während des Zweiten Weltkriegs besetzte Japan einen grossen Teil von Ost-Neubritannien. Heute ist eine Delegation von japanischen Bischöfen und Politikern zu Besuch, um sich offiziell für die Missetaten der Vergangenheit zu entschuldigen. Die Japaner stiften als Wiedergutmachung ein Samurai-Schwert sowie Muschelgeld im Wert von ungefähr 3000 Kina (772 Fr.).
Muschel gegen Güter: Die harte Währung der Tolai
Ost-Neubritannien mit dem ikonischen Tavurvur Vulkan ist die neue Heimat der knapp 120'000 Tolai. Vor 250 Jahren setzte das melanesische Volk von der Nachbarinsel Neuirland über. Das Hauptmotiv für die Migration war die Entdeckung grosser Bestände von Nassariidae-Schnecken im seichten Küstenwasser, Tabu – die Ur-Währung der Tolai.
Betitelt nach den tropischen Kaurischnecken kam Kaurigeld um 1200 vor Christus zunächst im Indischen Ozean auf und breitete sich von dort in alle Himmelsrichtungen aus. Die Tolai hingegen verwenden die Schalen von Nassariidae-Schnecken.
Betitelt nach den tropischen Kaurischnecken kam Kaurigeld um 1200 v. Chr. zunächst im Indischen Ozean auf und breitete sich von dort in alle Himmelsrichtungen aus. Die Tolai hingegen verwenden die Schalen von Nassariidae-Schnecken. Somit ist das Muschelgeld der Tolai streng genommen gar kein Muschelgeld, sondern Schneckengeld. Shell money (deutsch: Muschelgeld) hat sich aber als Standardbezeichnung für Alternativwährung durchgesetzt.
Über die Jahrhunderte wurden in den seichten Küstengewässern von Ost-Neubritannien praktisch alle Schneckengehäuse abgeerntet.
Heute kommt das von Mittelmännern organisierte Rohmaterial via Frachtschiff von den Salomonen-Inseln und wird dann hier weiterverarbeitet.
Der Wert vom Muschelgeld entsteht durch die filigrane Handarbeit. Die Schneckengehäuse werden nach minutiösen Suchaktionen gewaschen, dann poliert, gelocht und auf Naturfasern aufgefädelt.
In Rabaul und Kokopo gibt es mittlerweile einige privat geführte Wechselstuben wo Tabu gekauft oder verkauft werden kann. Die gebräuchlichste Einheit von Tabu ist eine Param-Kette.
Eine Param-Kette aus ungefähr 250 an einer Pflanzenfaser aufgefädelten Schalen entspricht der Spannweite beider Arme einer erwachsenen Person. Ein Param kostet hier marktübliche 5 Kina (rund 1.30 Fr.), zuzüglich einer Transaktionsgebühr von 1 Kina je Param.
Gouverneur Nakikus Konga vor seiner ersten Muschelbank-Filiale. Der Ex-Minister für Handelsgewerbe und Industrie von Papua-Neuguinea schätzt den Gesamtwert von Tabu auf rund 7 Millionen Kina, umgerechnet zirka 1.8 Millionen Franken. Davon zirkuliert aber nur ein Viertel im Umlauf. Den Rest horten die Tolai zu Hause, es kommt bei wichtigen Anlässen wie Initiation (kulturelle Taufe), Heirat und Beerdigung zum Einsatz.
Die Tolai verteidigten ihr geliebtes Tauschmittel erfolgreich gegen die Kolonialherrschaft von Deutschland, England und Australien, sowie die aufstrebende Ökonomie von Papua-Neuguinea. Die Chefs der Tolai Clans bewahren ihr Kulturerbe, indem sie die gesellschaftlichen Ideale und die Tauschkonzepte an die Nachkommen mittels von Muschelgeld finanzierten Busch-Universitäten weitergeben. Dort werden vorwiegend Jagdstrategien, Gemeinschaftskunde sowie Ahnenkult unterrichtet.
Auch in Ost-Neubritannien steht die Zeit nicht still – die Tolai wappnen sich für die Zukunft und schicken ihren Nachwuchs sofern möglich in die staatlichen Schulen. Die verhältnismässig hohen Schulgebühren. Grundschulen kosten ca. 300 Kina (77 Fr.) pro Jahr, Real- beziehungsweise Hochschule jährlich mindestens 1000 Kina (257 Fr.). Sie werden gerne mit der Veräusserung von aufgespartem Tabu beglichen.
Ein grosses Dilemma sind die sprunghaft angestiegenen Diabetesfälle in der Region aufgrund eines Überkonsums von Reis, importieren Süssgetränken plus ...
... konservierter Nahrungsmittel. Die Behandlungskosten werden immer häufiger indirekt mit Muschelgeld getilgt.
Trotz des wachsenden Einflusses westlicher Denkhaltung und bürokratischer Bemühungen «besitzen» die Männer bis dato ihre Ehefrauen in Papua-Neuguinea. Um heiraten zu können, muss ein Mann die Geliebte aus ihrer Familie auskaufen, indem er einen Brautpreis zahlt, dann gehört sie ihm. Bei den Tolai wird ein Teil vom Brautpreis in Muschelgeld bezahlt.
Im Dorf Tinga Ngalip findet eine Warkukul statt – also eine Brautpreis-Zeremonie. Heute wird das Ehegelübde von Charles Zale Junior und Radi Wopapaio rituell besiegelt. Damit alles akribisch genau nachgezählt werden kann, fächert die Familie des Bräutigams die marktübliche Aussteuer auf einer Plane aus: 2000 Kina (515 Fr.) in Muschelgeld plus zusätzlich 1000 Kina (257 Fr.) in bar.
Oliver Akuila starb vor zwei Monaten im Alter von 52 Jahren. Sein Bruder Lua Akuila, Oberhaupt des Taraui Clans, organisiert für ihn nun die Aminamai-Zeremonie. Dabei wird Olivers gesamter Reichtum an Muschelgeld an den Clan und alle anderen Anwesenden vererbt. Im Gegensatz zu modernen Erbteilungen, wo es immer wieder Ärger gibt, profitiert bei den Tolai die ganze Gemeinschaft.
Meistens wird das Aminamai-Ritual parallel zur Beerdigung zelebriert, zuweilen jedoch erst Monate später, falls die Verwandtschaft des Verstorbenen weiteres Muschelgeld akkumulieren muss, um es wiederum unter den beiwohnenden Trauergästen, Musikanten und Tubuan (Ahnengeister – symbolisiert durch Masken und ein Blätter-Kostüm) verteilen zu können. Je nachdem, wie viel Tabu während des Rituals verteilt wird, verbessert oder verschlechtert sich das Prestige des Verstorbenen.
Mittlerweile sind alle Trauergäste inklusive fünf Tubuan anwesend, somit können die vom Taraui Clan ausgehängten Tabu zusammen mit Olivers gesamtem Muschelgeld-Vermögen aufgebrochen und verteilt werden. Auch Lua Akila wird ein grosses Agogo (zu einem Rad gebundenes Tabu) à 2500 Kina (644 Fr.) beisteuern. Seine anderen drei Agogo reserviert Lua für die anstehende Brautpreis-Zeremonie seines Sohnes.
Während des Zweiten Weltkriegs besetzte Japan einen grossen Teil von Ost-Neubritannien. Heute ist eine Delegation von japanischen Bischöfen und Politikern zu Besuch, um sich offiziell für die Missetaten der Vergangenheit zu entschuldigen. Die Japaner stiften als Wiedergutmachung ein Samurai-Schwert sowie Muschelgeld im Wert von ungefähr 3000 Kina (772 Fr.).
Beim Volk der Tolai auf der Insel Ost-Neubritannien im Westpazifik sind Nassariidae-Schneckengehäuse ein anerkanntes Zahlungsmittel für Gebrauchsgüter. Die Alternativwährung Tabu bildet bis heute das Rückgrat ihrer Gemeinschaft.
Was dem abendländischen Gemüt mittels Wettbewerbsdruck und Durst nach Fortschritt über Jahrhunderte hinweg eingebläut wurde, blieb den Tiefen des Bismarck-Archipels bis vor Kurzem vorbehalten.
2020, Dekaden nach dem Einsickern der Globalisierung, der Einführung des Geldsystems samt Bancomaten und Kreditfirmen, aufkeimenden Cash-&-Carry-Outlets und Telekom-Antennen sind die indigenen Tolai nach wie vor innig mit ihrer Komplementär-Währung verbunden.
Gerade in den Dörfern hat das landesübliche Zahlungsmittel Kina kaum eine Bedeutung, da sich die Landbevölkerung hauptsächlich von dem ernährt, was im Garten wächst.
Muscheln gegen Güter
Was aber, wenn ein Tolai die Ananas vom Nachbarn haben möchte, dieser jedoch nicht die dafür angebotene Kokosnuss akzeptieren will?
Zum Autor: Claudio Sieber
Bild: zVg
Der Multimedia-Journalist Claudio Sieber aus St. Gallen reist seit mehreren Jahren durch Asien, wo er über die Traditionen fremder Völker, Popkultur und den sozialen Wandel im Orient und Ozeanien berichtet.
Eingetauscht wird Tabu tagein, tagaus für Güter des täglichen Gebrauchs, beispielsweise für Obst, Gemüse, Reis, Fisch, Tabak, Betelnüsse, Datenpakete für Mobiltelefone, und vermehrt auch indirekt für Schulgebühren oder Krankenhausbehandlungen.
Dazu ist Tabu en masse vertreten bei wichtigen Zeremonien wie Hochzeiten und Trauerfeiern, wo sich vor allem der kulturelle Wert des Muschelgeldes offenbart.
Infolge von Bewegungseinschränkungen und einer Corona-geschüttelten Konjunktur blüht der Tauschhandel in Ost-Neubritannien erneut auf. Getrost berufen sich die Tolai auf ihren Modus Operandi: «Muscheln gegen Güter» – ein Prinzip, das schon seit über 4000 Jahren funktioniert.
Stabiler Anlagewert
Gehandelt wird Tabu vorwiegend bei den Märkten und Tauschbörsen in den grösseren Ansiedlungen Kokopo oder Rabaul. Zusätzlich zu den privat geführten Wechselstuben setzt sich neu auch Gouverneur Nakikus Konga mit einem Subunternehmen der Provinzregierung für offizielle Muschelbanken ein, diese sollen die Handhabung mit Tabu weiter erleichtern und den Qualitätsstandard gewährleisten.
Drei Filialen hat er schon aufgebaut, mindestens fünf sollen es werden. Nun können seine Landsleute ihr Muschelgeld-Vermögen, das wie Gold einen stabilen Anlagewert behält, kurzfristig gegen Kina wechseln und jederzeit wieder zurückkaufen, falls sie es dringend für ein Ritual benötigen.
Parallel zum Bevölkerungswachstum der Tolai steigt auch die Nachfrage nach neuem Muschelgeld. Obwohl in der Region aufgrund exzessiver Ernten nur noch wenige Schneckengehäuse auffindbar sind, ist bereits für Nachschub gesorgt, dank Importen von den Salomonen-Inseln.