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Werner Kriesi, Pfarrer und Sterbebegleiter «Es wird ein Gedränge geben bei so vielen Engeln»
Von Suzann-Viola Renninger
26.12.2021
Der Zürcher Pfarrer Werner Kriesi hat als Freitodbegleiter Hunderten Menschen beim Sterben geholfen. Nun erzählt der 90-Jährige in einem Buch über sein Leben und Wirken.
Zuerst lernte er Schreiner, danach amtete er 30 Jahre lang als reformierter Pfarrer: Werner Kriesi, geboren 1932. Kurz vor seiner Pensionierung bittet ein Gemeindemitglied: «Nächste Woche will ich sterben. Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer …»
Kriesi sagt zu, und bald wird er Freitodbegleiter bei der Sterbehilfeorganisation Exit. Seither hat er hunderte Menschen beim Sterben begleitet.
In vielen Gesprächen mit Philosophin Suzann-Viola Renninger hat er aus seinem Leben erzählt. Diskutiert wurde über das Sterbenwollen und Sterbendürfen, herausgekommen ist das Buch «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer».
blue News publiziert exklusiv das Kapitel «Als Zeugin ...» – eine etwas andere Weihnachtsgeschichte. Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss blue-News-Regeln.
Als Zeugin ...
Wie oft hat Werner Kriesi von Alma erzählt! Gemeinsam haben die beiden immer wieder Sterbewillige begleitet, miteinander viele belastende Situationen gemeistert. Ich bin neugierig, wer sie wohl sein mag, und frage nach ihrer Adresse.
Ein später Nachmittag, die Sonne steht noch hoch. Es ist einer der letzten heißen Tage. Beide tragen wir breitkrempige Strohhüte, unser Erkennungszeichen. Während wir draußen auf der Straße vor dem Café sitzen, erste Worte austauschen, versuche ich mir vorzustellen, dies sei mein erstes Gespräch mit ihr, weil ich sterben möchte und Hilfe brauche.
Alma erzählt, was ich schon von Werner Kriesi gehört habe: Immer dann, wenn keine Familienmitglieder oder andere nahestehende Personen bei der Begleitung dabei sein können oder wollen, braucht es einen externen Zeugen. Am Ende unseres Treffens sichere ich Alma zu, dass ich zur Verfügung stünde, sollte einmal jemand fehlen.
Zwei Monate später holt mich Alma mit dem Auto auf halbem Weg am Bahnhof ab. Wir fahren weiter zu Frau Elgar, weit hinten im Tal, die kleine Stadt liegt im Schatten der Berge. 91 Jahre ist Frau Elgar alt, alleinstehend, vor anderthalb Jahren musste sie ihre Wohnung verlassen, wo sie bis dahin selbständig gelebt hatte. Seit einem zweiten Schlaganfall leidet sie unter wiederkehrenden epileptischen Anfällen, zusätzlich zu einer Migräne und einem Hörsturz. Ihr Brustkrebs wird palliativ behandelt. Gehen kann sie nicht mehr. Sie wolle sterben, so schnell wie möglich, denn sie könne sich nicht vorstellen, bald «Gemüse zu sein», so erzählt Alma.
«Warum ich? Ich, eine Fremde?»
«Sie will es so. Für sie ist es gut.»
«Ihre Familie, ihre Freunde? Gibt es da niemanden?»
«Sie meint, das könne sie ihnen nicht zumuten. Die Nichte aus Österreich ist da, seit einigen Tagen schon. Aber Frau Elgar möchte nicht, dass sie dabei ist. Sie ist in der Nähe, wir rufen sie dann an, wenn alles vorbei ist. Dann möchte sie ein letztes Mal Abschied nehmen. So haben wir es gestern besprochen.
«Die Nichte wehrt sich nicht, dass nicht sie dabei ist, sondern ich …?»
«Mach dir keine Sorgen. Die beiden sind sich sehr vertraut. Ich habe lange mit ihnen geredet. Und von dir erzählt. Es stimmt so für sie.»
Im Seniorenheim werden wir von der Pflegedienstleiterin schon erwartet. Wir betreten den sechseckigen Innenhof, ich schaue hinauf, Stockwerk über Stockwerk, Geländer über Geländer, dahinter Tür an Tür. Wie ein Bienenstock, nur nicht so belebt. Eher verlassen. Wir desinfizieren die Hände und fahren mit dem Fahrstuhl bis ganz nach oben.
«Wie lange dauert es?», fragt die Pflegedienstleiterin.
«Zwei bis drei Stunden für gewöhnlich, je nachdem», sagt Alma.
«Ich meine ... es.»
«Ach so. Es. Rund dreißig Minuten. Vielleicht auch länger. Und dann noch die Stunden, bis die Polizei und der Amtsarzt da gewesen sind.»
Es ist Viertel nach zehn. Eine Heimbewohnerin in Hausschuhen sagt Grüezi und schiebt ihren Rollator langsam an uns vorbei. Die Pflegedienstleiterin weist auf Zimmer 609. «Bitte sagen Sie mir dann Bescheid, ich bin in meinem Büro.»
Wir klopfen und treten ein. Frau Elgar sitzt aufrecht auf der Bettkante und blickt uns aus sehr hellen, sehr blauen Augen freudig entgegen. Sie ist hager, die feine Haut fällt so straff über die hohen Wangenknochen, dass sie faltenfrei scheint. Ihr langes, weißes Haar ist von der Stirn aus zurückgekämmt. Ihre Brille wirkt, als ob sie gleich aufstehen und sich ihrer Arbeit am Schreibtisch zuwenden wolle. Ich bin überrascht, hatte ich mir doch jemand Gebrechlichen vorgestellt, dem ich die Todesnähe auf den ersten Blick ansehen würde. Wir nehmen unsere Coronamasken ab, und Alma stellt mich vor.
«Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie da sind», sagt Frau Elgar. Wir blicken uns in die Augen. Ich merke, wie sich ein Satz in meinem Gedanken formt: «Frau Elgar, Sie sind so schön, so klar, so kräftig. Wollen Sie nicht ...» Ich sage ein festes Nein zu diesem Gedanken. Die Hand von Frau Elgar liegt in meiner, wir blicken uns noch immer in die Augen. Das ist, denke ich, eine dieser Situationen, die für sich spricht, wenn sie da ist. Es ist richtig, was Frau Elgar entschieden hat, mir steht es nicht, zu dieser 91-jährigen Frau in ihre Entscheidung dreinzureden, jetzt, in dieser Stunde, die sie für ihren Tod bestimmt hat.
«Herzlichen Dank», sagt sie nochmals. «Wissen Sie, ich hätte es sonst allein getan. Ich hatte das schon immer vor. Ich weiß genau, unter welchem Baum. Aber was wäre, wenn es nicht funktioniert hätte, mich die Sanitäter wieder zurückgeholt hätten? Es ist nämlich so: Bei mir funktioniert nie etwas beim ersten Mal. Egal, was ich mir so vorgenommen habe in meinem Leben. Das war schon immer so.»
Alma fragt, wie es ihr gehe. Frau Elgar erzählt mit leuchtenden Augen, wie gut sie sich fühle, und sie wiederholt, wie dankbar sie sei. Ich denke an Werner Kriesi, wie oft er von diesen Sätzen bei seinen Freitodbegleitungen berichtete, wie ich ihm glaubte, es mir aber nicht vorzustellen vermochte.
Alma fragt Frau Elgar, ob sie sicher sei, heute sterben zu wollen.
«Oh ja, auf jeden Fall», antwortet sie belustigt. «Was sonst?»
«Wir müssen uns da sicher sein. Möchten Sie das Mittel lieber trinken oder eine Infusion?»
«Lieber eine Infusion. Trinken möchte ich nur ein Glas Wasser.»
Ich gehe zum Tisch, bringe das Wasser. Alma geht hinaus zur Pflegedienstleiterin, um den Infusionsständer zu organisieren. Ich setze mich neben Frau Elgar auf die Bettkante. Sie erzählt von ihrer Nichte, von weiteren Familienangehörigen, von ihren Freundinnen und Freunden. Alle seien nochmals gekommen, hätten angerufen, hätten geschrieben. Alle würden jetzt, in ihrer Todesstunde, an sie denken. Sie sei so glücklich darüber. Und nun seien noch Alma und ich da – abgesehen von den Engeln.
Raketenschnell zählt sie eine Menge Namen auf, einige recht exotisch klingend.
«Ich kenne nur Erzengel Michael», sage ich perplex. «Und den auch nicht persönlich.»
«So geht’s mir auch. Wissen Sie, ich habe das alles aus den Büchern, die es so gibt. Noch habe ich keine Bekanntschaft mit all den Engeln gemacht. Aber gleich ändert sich das. Und dann geht’s ab mit denen nach oben.»
«Wird ein Gedränge geben bei so vielen Engeln.»
«Stimmt. Aber die haben Übung. Steht auch in den Büchern.» Und wieder schaut sie mich mit Schalk an. «Die haben große, weiche Flügel, die sie für mich ausbreiten und aufeinanderlegen. Die sollen sich mal anstrengen.»
«In so einer Schale aus vielen Flügeln hat Ihre Seele allemal Platz», sage ich.
Alma ist zurück. Wir gehen durch die Unterlagen, die Seite mit der Bestätigung der Urteilsfähigkeit, all die Dokumente mit den medizinischen Diagnosen. Auf dem Tisch steht das Sterbemittel in einem weißen Döschen: «Pentobarbital-Natrium 15g. Lösliches Pulver. Dosis letalis».
Wir füllen den Kopf des Freitodprotokolls aus zu Händen der Untersuchungsbehörden mit Durchschlägen für das Exit-Archiv, den Amtsarzt sowie die Angehörigen. Unter den Personalien von Frau Elgar Name und Adresse von Alma und mir befinden sich die Zeilen des Zeitrapports. Er beginnt mit «Eintreffen der Exit-BegleiterIn» und «Letzte Abklärung der Stabilität des Freitodwunsches durch BegleiterIn». Bei Punkt 7 heißt es: «Feststellung der fehlenden Lebenszeichen (Atmung, Puls)». Der letzte Punkt 13 fragt nach der Uhrzeit des «Eintreffens des Amtsarztes».
Alma setzt sich neben Frau Elgar auf das Bett, die beiden Frauen stecken die Köpfe zusammen. Ich setzte mich gegenüber auf das Sofa. Alma liest die «Freitoderklärung» vor: «Urteilsfähig, autonom und nach reiflicher Überlegung mache ich heute von meinem Recht Gebrauch, selbst über die Beendigung meines Lebens zu bestimmen.»
«Lese ich laut genug. Verstehen Sie mich gut?»
«Ja, gewiss. Weiter! Das kenne ich doch schon.»
«Wir tragen jetzt hier Ihren Namen, Ihr Geburtsdatum und das heutige Datum ein:
‹Ich, Elgar, Margarete, geb. 4. Juli 1928, leite heute am … meinen Freitod ein. Ich tue dies auf eigene Verantwortung und erkläre, den Verein Exit und die mir beistehenden Begleitpersonen in keiner Weise haftbar zu machen. Ich beauftrage den Verein Exit, meine Interessen im Zusammenhang mit meiner Freitodbegleitung zu vertreten und durchzusetzen.
Auf meinen ausdrücklichen Wunsch sind als Zeugen anwesend: …›»
Ich gehe zu den beiden und trage auch hier meinen Namen und meine Adresse ein. Frau Elgar unterschreibt das Dokument.
«Es heißt ja immer, dass der liebe Gott uns das Leben gibt», sagt sie zu mir. «Nun gehe ich hoch zu ihm und gebe es ihm persönlich zurück.»
«Ein schönes Bild», sage ich. Wir lächeln alle drei. «Das hat auch meinem Priester gefallen, der gestern noch vorbeikam und mich gesegnet hat – und auch gesalbt», sagt Frau Elgar und strahlt mich an. Ich gehe zurück zu meinem Zeugensofa.
Alma zeigt, wie der Hahn am Infusionsschlauch aufzudrehen sei. Frau Elgar rollt das Rädchen zwei-, dreimal nach oben und wieder nach unten. Einfach ist dies mit ihren arthritischen Fingern nicht.
«So, genug geübt», sagt Frau Elgar. Nicht mehr lange, denke ich. Ein letztes Mal aus dem Fenster in den Himmel schauen, ein letztes Mal einen Schluck Wasser trinken, ein letztes Mal … Frau Elgar schaut fröhlich zu mir herüber, solche Gedanken scheinen ihr nicht durch den Kopf zu gehen. Alma geht mit dem weißen Döschen nach nebenan, um die Infusion zuzubereiten.
Ich frage mich, ob nun der Moment sei, Adieu zu sagen, und setze mich wieder zu Frau Elgar auf den Bettrand. Ich helfe ihr, sich hinzulegen. Geübt stellt sie mit der Fernsteuerung das Kopfteil des Bettes schräg. «Haben Sie die Nacht gut geschlafen?», frage ich etwas hilflos.
«Ja, viel zu gut. Denn leider habe ich nichts geträumt. Die Nacht zuvor schon. Von einer violetten Lilie, die sich langsam öffnete ... Doch dann bin ich aufgewacht. Bevor ich an ihr riechen konnte. Ist das nicht schade?»
Ich reiche ihr die Rose, die wir ihr mitgebracht haben. Sie steckt die Nase in die Blüte, atmet tief ein. «So, nun habe ich auch den Duft dazu», sagt sie zufrieden. Wir schauen gemeinsam schwarzweiße Familienfotos an. Eltern und Geschwister rund um den Ostertisch mit einem selbstgebackenen Osterlamm aus Biskuit, das sie zuvor in der Kirche hätten segnen lassen.
«Wissen Sie, meine Eltern und meine Schwestern warten oben schon auf mich. Am Abend gibt’s dann Wein. Himmlischen Wein. Soll nicht zu vergleichen sein mit dem irdischen.» Sie macht eine Pause – und nennt einen Buchtitel. «Nun, ich werde es ja heute noch erfahren», sagt sie voller Elan. Ich schaue mich, meines Erachtens diskret, im Zimmer nach den Büchern um. Prompt sagt Frau Elgar: «Hätte ich das gewusst, hätte ich Ihnen eines aufgehoben. Doch so habe ich sie alle in den letzten Tagen verschenkt.»
Alma ist mit der Infusion zurück. Es ist Viertel vor elf. Frau Elgar nimmt ihre Brille ab, legt sie sorgsam in die ansonsten leere Schublade ihres Nachtkästchen. Sie schiebt die Schublade zu. Schhhhhhhhht – und ein trockenes, helles Klick. Ein Nadelstich, der den Moment aufspießt, die Zeit anhält. Frau Elgar sagt: «Die brauch ich nun nicht mehr.» Und die Zeit tickt weiter.
Sie blickt uns an. «Danke. Herzlichen Dank Ihnen beiden.»
«Danke, dass wir Ihnen helfen dürfen; danke, dass wir bei Ihnen sein dürfen.»
Alma setzt die Infusionsnadel, und Frau Elgar meint: «Nun schaffe ich es sicher noch zum Mittagessen da oben.»
«Vielleicht gibt’s zu diesem besonderen Anlass ausnahmsweise schon mittags den himmlischen Wein», so ich. Wir lachen alle drei. Grad rechtzeitig, sonst wären mir doch noch die Tränen gekommen.
Frau Elgar fährt das Kopfteil des Bettes herunter, öffnet flink den Hahn und schließt die Augen. Ich halte ihre Hand. Nach nur wenigen Momenten spüre ich, wie das Leben ihren Körper verlässt.
Wir bleiben noch eine Weile auf dem Bettrand sitzen, dann wählt Alma die Nummer der Polizei und meldet mit ruhiger Stimme den «außergewöhnlichen» Todesfall, wie es offiziell heißt. Ich bin in Versuchung, Frau Elgar noch ein wenig anders zu betten, den Kopf komfortabler zu legen. Doch jede Berührung ist uns jetzt untersagt, sie könnte zu Druckstellen und somit zu falschen Schlüssen führen.
Alma öffnet das Fenster. «Stimmt, Corona», sage ich, «habe ich ganz vergessen».
«Und die Seele», sagt Alma lächelnd.
«Stimmt, auch die …»
Auf dem Weg ins Büro der Pflegedienstleiterin kommt diese uns schon entgegen: «Hat es funktioniert?»
Weitere Pflegerinnen und Pfleger treten hinzu und mustern uns. Ausnahmsweise bin ich froh über die Teilgesichtsprivatheit hinter meiner Maske und beschließe, sollte ich nochmals als Zeugin gebraucht werden, mich dann weniger dunkel zu kleiden und keine Schuhe mit Absätzen anzuziehen, deren Klacken bei jedem Schritt durch die langen Gänge noch verstärkt wird.
Alma und ich gehen zurück zu Frau Elgar, warten, bis die Pflegedienstleiterin zuerst zwei Polizisten, dann auch den Amtsarzt zum Zimmer führt. Alle drei würden in ihrer dunklen Regenkleidung und den gemessenen Bewegungen locker als Pfarrer durchgehen. Der ältere Polizist studiert die Unterlagen und meint fast zufrieden: Eine Menge Krankheitsberichte. Alma und ich verlassen wieder den Raum. Bei der Legalinspektion der Leiche dürfen wir nicht dabei sein.
In einem Nebenraum treffen wir Frau Elgars Nichte, deren Mann und die älteste Tochter, die heitere Gelöstheit von Frau Elgar ist inzwischen auf uns alle übergegangen. Nachdem die Polizei und der Amtsarzt ihre Aufgaben erledigt haben, kleiden Alma und ich den Körper von Frau Elgar wieder an. Nun, nach dem Abschluss des offiziellen Teils, nachdem die Leiche, wie es heißt, freigegeben ist und somit auch der Verdacht eines strafrechtlich relevanten Verhaltens nicht mehr auf Alma und mir liegt, kommen auch die Mitarbeitenden des Heimes, die Frau Elgar umsorgt und gepflegt haben.
Alma und ich stehen noch neben dem Bett, als zwei Pflegerinnen das Zimmer betreten. Bevor wir hinausgehen, lege ich noch die Rose in die Hände von Frau Elgar. Eine der Frauen sagt zu mir, der Ton nicht unfreundlich, aber bestimmt: «Frau Elgar war katholisch. Sie müssen ihr die Hände wie im Gebet falten.» Und so lege ich die Hände enger zusammen. Während sich erst Mitarbeitende des Heimes, dann die Nichte und ihre Familie von Frau Elgar verabschieden, warten Alma und ich draußen. Das Bestattungsunternehmen kommt wenige Minuten später, weiß angesichts der insgesamt gelassenen Stimmung nicht so recht, wem nun zu kondolieren sei, und entscheidet sich für den noch anwesenden Polizisten. Kurz darauf schließt sich die Fahrstuhltür hinter dem Sarg.
Die Position des Heimes ist: Wir dulden die Freitodbegleitung, wollen aber damit nichts zu tun haben.[1] Als wir ein letztes Mal in das Zimmer von Frau Elgar gehen, um zu schauen, ob wir auch nichts vergessen haben und alles aufgeräumt ist, kommt die Pflegedienstleiterin mit der Pflegerin ins Zimmer, die mich zum Falten der Hände aufgefordert hatte. Wir stehen voreinander: zwei Frauen im Auftrag von Exit, zwei Frauen vom Seniorenheim.
«Was mich noch interessiert, was fühlen Sie, wie machen Sie das?», fragt die Pflegerin, sie betont das «das».
«Frau Elgar hat ihr Leben gelebt. Es war ein erfülltes Leben, sie war zufrieden. Es war ihr Wunsch, lang überlegt. Das ist viel einfacher, als einen jungen Menschen mit Krebs zu begleiten, der noch so viel vor sich gehabt hätte.»
Die beiden Frauen schweigen.
«Frau Elgar hat uns getragen, sie hat mir ihrem Leben, ihrer Persönlichkeit den Raum und die Sterbestunde gefüllt, wir haben ihr zur Hilfe nur noch die Hände reichen müssen.»
Die beiden Frauen schweigen.
«Ist der Tod nicht immer sehr schwer und ein häufiger Gast in Ihrem Heim?»
«Der Tod ist schwer genug. Doch jetzt noch so! Das ist doppelt schwer. Jedes Mal, wenn Sie kommen, dann ist das wie ein Schlag, schon am Morgen. Im ganzen Haus.»
«Und wenn Sie ahnen, die Nacht wird jemand sterben, ist es dann nicht ein Dröhnen die ganze Nacht und ebenso schwer zu ertragen wie der Schlag?»
Nun schweigen wir zu viert. Dann sagt die Pflegedienstleiterin: «Wir kommen demnächst auf Exit zu, um eine Fortbildung für unser Pflegepersonal zu organisieren.»
Alma fährt mich zum Bahnhof. Ich bin müde, dabei ist es erst Nachmittag. Als wir vor dem Bahnhof parken und ich mich umdrehe, um meinen Mantel vom Rücksitz zu angeln, kramt Alma in ihrer Tasche und reicht mir 160 Franken in Scheinen. Ich zucke zurück. Das ist nicht nötig, will ich abwehren, eine Bezahlung habe ich nicht erwartet. Dann denke ich an all die Diskussionen mit Werner Kriesi, ob und inwiefern die Mitarbeitenden und vor allem die Freitodbegleiter von Exit bezahlt werden dürfen. Immer wieder habe ich Manuskriptseiten mit unserem Gespräch zu diesem Thema um- und neugeschrieben und schliesslich endgültig gelöscht, weil er meinte, dies ginge so nicht, das sei ein wunder Punkt von Exit, damit könnten wir uns lediglich in die Nesseln setzen, da sei keine sachliche Diskussion möglich.
Ich war der Auffassung, ein Kapitel «Sterbehilfe und das Geld» gehöre dazu, man dürfe den Kopf nicht in den Sand stecken, schließlich habe sich Exit nach der Pionierphase zu einem professionell geführten Unternehmen entwickelt und niemand müsse sich schämen, wenn die Mitarbeitenden marktüblich entlohnt würden und die Freitodbegleiterinnen und -begleiter zumindest eine finanzielle Entschädigung erhielten. Warum sollten Freitodbegleiter rein ehrenamtlich, nur mit Spesenerstattung arbeiten, wenn es etwa keine Frage sei, dass Palliativpflegende, Bestatter oder auch die Organisatoren von Abdankungsfeiern bezahlt werden? Das könne falsch verstanden werden, zynisch wirken, so Werner Kriesi. Aber es sei dennoch richtig, so ich. Hier stimmte er mir zu.
Und nun bin ich also zum wiederholten Mal an diesem Tag über mich selbst überrascht. Wieso bin ich irritiert, frage ich mich, obwohl ich doch bei den Diskussionen glaubte, meiner Position so sicher zu sein? Tja. «Glaub niemandem, der vom Schreibtisch aus philosophiert.» Und sei es dein eigener.
Ich nehme das Geld an, das mit Alma entgegenhält.
«Was antwortest du», frage ich Alma, «wenn du gefragt wirst, ob du einen Lohn erhältst?»
«Ich sage, dass es so ist.»
«Und wenn die Angehörigen weiterfragen?»
«Dann sage ich den Betrag: 650 Franken pro Eröffnung.»
«Eröffnung?»
«Den Begriff verwenden wir, damit klar ist, dass wir das Geld unabhängig davon erhalten, ob die Person nach den Gesprächen und der Vorbereitung nun die Freitodbegleitung in Anspruch nimmt oder nicht. Die, die betroffen sind, haben keine Probleme damit, dass auch wir Begleiter nicht ehrenamtlich arbeiten. Im Gegenteil: Oft sind die Angehörigen erleichtert, weil sie sich dann nicht mehr verpflichtet fühlen, mich zum Dank zum Essen einzuladen.»
Zehn Tage später erreicht mich eine Todesanzeige aus Österreich. In dem beiliegenden Brief schreibt die Familie von Frau Elgar: «Wir danken Ihnen, dass Sie unserer Tante einen würdigen und schmerzfreien Abschied ermöglicht haben.»
Ich denke an das diesjährige Schreiben des Vatikans «Über die Sorge an Personen in kritischen Phasen und in der Endphase des Lebens». Hier steht über die legalisierten Euthanasiepraktiken, also die Sterbehilfe, dass sie eine «mörderische Handlung sei» und gerade die zerbrechlichsten Menschen in Gefahr laufen, «von einem Räderwerk ‹weggeworfen› zu werden, das um jeden Preis effizient sein will». Es sei ein stark antisolidarisches Kulturphänomen, das authentische «Strukturen der Sünde» erzeuge und zu falschen Handlungen an sich führen könne, nur weil man sich bei ihrer Ausführung «wohl fühlt».
Ich denke an Frau Elgar, an Alma und mich an ihrem Sterbebett und daran, dass alles, was ich erlebt habe, nicht für ein «Verbrechen am menschlichen Leben» spricht.
Bibliografie: Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer, Suzann-Viola Renninger, Limmat Verlag, 256 Seiten, 34 Fr.
[1] *Im Jahr dieser Begleitung, 2020, konnten im Kanton Zürich die jeweiligen Heimleitungen entscheiden, ob sie den begleiteten Suizid zulassen oder nicht. Im September desselben Jahres forderte eine parlamentarische Initiative, in allen Alters- und Pflegeheimen, die Gelder der öffentlichen Hand erhalten, den begleiteten Suizid zu erlauben. Private Institutionen sollen weiterhin selbst entscheiden. Die Chancen für die Annahme dieser Initiative, so heißt es, stehen gut. («Tages-Anzeiger» vom 14. September 2020)
Brauchen Sie Hilfe? Hier können Sie darüber reden:
Dargebotene Hand: Telefon 143 oder www.143.ch
Online-Beratung für Jugendliche mit Suizidgedanken: www.U25-schweiz.ch
Angebot der Pro Juventute: Telefon 147, www.147.chKirchen: www.seelsorge.net