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«Plötzlich Familie» «Plötzlich Familie»: Wie eine Biographie sieben Geschwister ans Licht brachte
Von Regula Brühwiler-Giacometti
2.6.2019
Nachdem Regula Brühwiler-Giacometti ihre Lebensgeschichte in ihrem Buch «Seitensprungkind» niederschrieb, überschlugen sich für sie die Ereignisse: Die mittlerweile 60-Jährige fand sieben neue Halbgeschwister.
Regula Brühwiler-Giacometti erzählt in ihrem ersten Buch ihre Geschichte als Adoptivkind und von der Suche nach ihrer Mutter und ihren Wurzeln. Das Buch brachte einen Stein ins Rollen. Nach der Veröffentlichung ihrer Biografie traten gleich sieben Halbgeschwister in Regula Brühwiler-Giacomettis Leben.
Die erfreuliche Wendung verarbeitete sie nun in einem neuen Buch. «Plötzlich Familie» erzählt die Geschichten von acht Menschen, die alle auf ein Leben als Adoptiv- und Pflegekind zurückblicken und nun zueinander gefunden haben. Alle haben die gleiche Mutter, und alle wurden sie weggegeben. Jahrelang wussten sie nichts voneinander.
«Bluewin» veröffentlicht einen exklusiven Textauszug über ihren Bruder Mathias. Die Leserinnen und Leser können am Ende des Artikels das Buch zu einem vergünstigten Preis direkt beim Verlag bestellen.
Mathias
Mathias, geboren als Martin Oertli am 24. Juni 1967, ist das achte und damit jüngste Kind unserer Mutter Bettina. Mathias war die «Folge» eines One-Night-Stands und, so wie Regula, eines Seitensprungs. Sein leiblicher Vater war Künstler, Musiker und bereits verheiratet. Mathias wechselte seinen Namen fünf Mal, wuchs zuerst in einer Pflegefamilie auf, wurde dann in einem Schulheim platziert und schließlich im Alter von 47 Jahren adoptiert.
Mathias bin ich zum ersten Mal am 10. Februar 2018 begegnet, etwa drei Monate nachdem ich von Gabriela am Telefon von seiner Existenz erfahren habe. Wir haben uns zum ersten Mal in einem Restaurant in Aarau getroffen. Mit dabei waren meine «neuen» Schwestern Regina, Gabriela und deren Tochter Fabienne. Die älteste Schwester Bettina konnte leider nicht dabei sein, weil sie krank war.
Mathias – das war Liebe/Sympathie auf den ersten Blick! Ja, wir Schwestern waren vom ersten Moment an entzückt von unserem neuen kleinen Bruder. Er umarmte uns sofort ganz herzlich und zog uns mit seinen Erzählungen in seinen Bann. Was für ein charmanter und herzlicher Mensch! Es war eine überaus spannende Begegnung. Er berichtete aus seinem Leben und wollte selbstverständlich auch wissen, wie es uns so ergangen ist. Mathias zeigte uns bei diesem Treffen ein Fotoalbum mit Bildern seiner zwei Häuser im Tessin, die er ein paar Jahre zuvor von seiner Adoptivmutter geschenkt bekommen und mit viel Geschmack renoviert hatte. Als ich das Wort Tessin hörte, war ich natürlich schon völlig hingerissen. Mathias besitzt in meinem Heimatkanton ein Feriendomizil! Das ließ mein Herz höher schlagen.
(...)
Bei einem unserer Geschwistertreffen, als bereits feststand, dass wir es wagen wollten, unsere Lebensgeschichten gesammelt zu veröffentlichen und wir die Gestaltung und den Vorgang unseres gemeinsamen Werks besprachen, hat mir Mathias dann seinen ganz persönlichen Ordner überlassen. Was für ein Vertrauen er mir damit entgegenbrachte! Am selben Abend fing ich an, die Unterlagen zu lesen, die über sein Leben seit der Geburt berichteten. Ich konnte kaum aufhören. Was ich dabei erfahren habe, hat mich ziemlich stark erschüttert. Mein liebster Bruder Mathias, den ich als so tollen und liebenswürdigen Menschen voller Tatendrang kennen lernen durfte, musste in seiner Kindheit so viel Schweres durchmachen. Man hatte ihm die Liebe und die Zuwendung, die er dringend gebraucht hätte, nicht erfüllen können. Die Nacht darauf konnte ich kaum schlafen. Ich musste dauernd an meinen kleinen Bruder denken und wie er als Kind so gelitten hatte. Mein Herz schmerzte. Zudem habe ich in den Berichten, welche über Mathias geschrieben wurden, viele Parallelen zu meiner Gefühlswelt entdeckt, die mich an meine Kindheit erinnerten.
Die große Angst vor der Dunkelheit, die Angst vor dem Alleinsein, die ständigen Bemühungen und Anpassungen, um Anerkennung zu gewinnen, das Gefühl der dauernden Unsicherheit, die unterdrückten Aggressionen gegen die Pflegeeltern, das große Bedürfnis nach Geborgenheit und Zärtlichkeit, das nicht befriedigt wurde. Als ich Mathias kennen lernte und ihn als so fröhlichen und liebevollen Menschen erlebte, hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass sich hinter seiner Heiterkeit eine tiefe Traurigkeit versteckte, die in der Vergangenheit zu suchen war. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht.
Mathias hatte uns von Anfang an gesagt, dass er in seinem Leben immer nach vorn geschaut hat. Das war und ist seine Lebensphilosophie. Ich denke, das war auch seine Überlebensstrategie. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er nun für dieses Buch noch einmal zurückgeblickt hat, obwohl dies sicher für ihn nicht ganz einfach war. Ich habe versucht, ihm möglichst viel dabei zu helfen und ihn tatkräftig zu unterstützen, stand ihm bei seiner spannenden Reise in seine Vergangenheit bei, die zwar ein Happy End hat, aber auch nachdenklich stimmt.
Doch nun ist es Zeit für die unverwechselbare Geschichte von Mathias.
Am Abend des 24. Juni 1967, kurz vor 22 Uhr, kam ich als Martin Oertli in Zürich auf die Welt. In den Akten hieß es: «Das Kind ist lebensfrisch.» Meine leibliche Mutter, eine Floristin aus Glarus, arbeitete zu jener Zeit in Zürich im Geschäft von Walter W., einem Grafiker, Kunstmaler und Musiker. In einer Nacht, Ende Oktober 1966, vereinten sich die beiden, soviel ich weiß, für ein einziges Mal, was mich zur Folge hatte. Meine Mutter war eine alleinstehende und geschiedene Frau, die schon für ein paar andere Kinder zu sorgen hatte. Sie war in finanzieller Not und konnte leider nicht auch noch für mich aufkommen. Mein leiblicher Vater war bereits verheiratet. Von Seiten der Behörden gab es dazumal keine Unterstützung: Eine alleinstehende Frau wurde gezwungen, ihr Kind wegzugeben, wenn sich nicht eine Lösung bei Verwandten anerbot.
«Es war auch eine Zeit, in der eine Frau mit einem unehelichen Kind von der Gesellschaft geächtet wurde.»
So wurde ich die ersten Wochen meines Lebens im Säuglingsheim Ottenweg in Zürich untergebracht. In dieser Zeit hatte sich das adoptionswillige Ehepaar Koch bei der Vormundschaftsbehörde gemeldet. Sie hatten den Wunsch, neben ihrem ersten Pflegekind René noch einen zweiten Buben aufzunehmen. Im zarten Alter von knapp sechs Wochen kam ich dann zu dieser jungen Familie nach Zollikon und hieß seitdem Martin Koch.
Meine neuen Eltern, bei denen ich vorerst nur in Pflege war, sorgten sich liebevoll um mich. Leider weiß ich nicht mehr viel über meine Kleinkindzeit. Meine Pflegemutter erzählte mir, dass ich als Baby sehr viel geweint habe. War dies die Folge der frühen Trennung von der leiblichen Mutter? Soviel ich weiß, entwickelte ich mich recht gut. Leider ließen sich meine Pflegeeltern scheiden, als ich ungefähr drei Jahre alt war. Wir zwei Buben, die sich als Brüder fühlten, wurden getrennt. René blieb beim Pflegevater Koch und ich zog mit meiner Pflegemutter in eine neue Wohnung.
Meine Pflegemutter heiratete darauf ein zweites Mal im Jahre 1972, als ich 5 Jahre alt war. Zusammen mit meinem neuen Pflegevater Hans-Ruedi Vetsch bezogen wir eine Wohnung in Küsnacht, in welcher meine Pflegemutter heute noch lebt. Ich erinnere mich, dass mein erster Pflegevater mich des Öfteren mit dem Auto abpasste, um mich von der Schule nach Hause zu fahren. Er wollte mich immer wieder sehen und hatte es nie richtig verkraften können, dass ich nicht bei ihm bleiben durfte. Heute denke ich, dass er der bessere Pflegevater gewesen wäre. Als ich im April 2017 meinen Fast-Bruder René, der bei ihm aufwachsen konnte, als erwachsenen Mann wiedertraf, erzählte auch er mir, dass er mich damals gerne bei sich gehabt hätte.
(...)
Ende der zweiten Primarklasse wurde ich in die 3. Sonderklasse umgeschult, da ich den Unterricht sehr stark störte, Spannungen mit den Kameraden auftraten und meine Schulleistungen weit unter meinen Fähigkeiten lagen. Es kam zu einer schulpsychologischen Nachuntersuchung mit dem Ergebnis der Einweisung in die Sonderschule Erlenbach. Dort besuchte ich die 3. und die 4. Klasse.
Auch zu Hause wurde die Lage immer angespannter. Mitte des 4. Schuljahres verlangte mein Pflegevater eine Aussprache mit der Primarschulpflege und ersuchte diese, mich wieder in die Regelklasse nach Küsnacht zurückzuversetzen. So wechselte ich wieder in die 4. Klasse zurück und wurde dort zur Beobachtung und nur provisorisch aufgenommen. Nach kurzer Zeit, so steht es in den Berichten, meldete die Lehrerin der Schulbehörde, dass ich in ihrer Klasse untragbar sei. Es hieß, dass ich den Schulbetrieb störe und meine Mitschüler durcheinanderbringe. Mir drohte sogar eine definitive Schuldispensation, wenn von Seiten der Pflegeeltern nichts unternommen würde. Meine Pflegeeltern nahmen mich daraufhin aus der Schule und ich bekam Privatstunden.
(...)
Im selben Jahr kam es zu einer ersten kinderpsychiatrischen Untersuchung durch die Psychiatrische Poliklinik für Kinder und Jugendliche Zürich. Das kam auf Wunsch meiner Pflegemutter zustande. Im Bericht steht:
«Beim ersten Gespräch wurde Matthias von der Pflegemutter als ‹Schutzli› beschrieben, der seine Pflegeeltern ärgere durch unanständiges Essen und Herumfuchteln bei Tisch. Er sei zerfahren bei den Hausaufgaben und könne Frustrationssituationen überhaupt nicht ertragen. Er sei äusserst ermüdbar und motorisch sehr unruhig. Ausserdem zeige 157 er Kopfwackeln bei Einschlafen seit seiner Kleinkinderzeit und habe Ängste vor dem Einschlafen.»
Meine Pflegeeltern sagten, sie wären von mir enttäuscht, beunruhigt wegen meiner Stehlereien und meiner Schulschwierigkeiten. Sie äußerten gar ihre Angst, ich leide an einem «Charakterfehler » (So steht es im Bericht!).
Von Seiten der Untersucher wurden die Pflegeeltern wie folgt beurteilt: «Beide Pflegeeltern sind Matthias gegenüber überfordernd, beide werden als geschäftlich stark engagiert erlebt. Sie waren in den Gesprächen emotional wenig spürbar und es musste als fraglich beurteilt werden, inwieweit es ihnen möglich war, dem Knaben die notwendige Geborgenheit und erzieherische Führung zu geben. Das familiäre Milieu wurde als mehrheitlich geschäftlich ausgerichtet und emotional karg beurteilt.» Die Fachpersonen hatten also gleich erkannt, wo das Problem lag.
Meine Auffälligkeiten kamen nicht von ungefähr. Über das persönliche Gespräch mit mir steht dann im Bericht:
«Matthias selber erschien als dunkelhaariger, schmaler, äusserst verängstigter und unsicherer Junge, der immer wieder ein grosses Kontaktbedürfnis zum Untersucher zeigte. Er sei ein ‹Zablibueb› [Zappelphilipp] und könne nicht stillsitzen, sagt er von sich selbst. Die Schulschwierigkeiten wurden von ihm stark bagatellisiert und abgewehrt. Er äusserte ferner, dass er manchmal grosse Ängste habe, insbe158 159 sondere am Abend, wenn es dunkel wird, wo er offenbar recht viel allein war. Im Gespräch und in den Tests war zu Matthias ein guter Kontakt herstellbar, sobald aber intensive Forderungen an ihn gerichtet wurden, oder emotionale Bereiche angesprochen wurden, geriet er in eine ausgeprägte Widerstandshaltung, hielt mit seinen Äusserungen stark zurück, lenkte sich ab und wurde motorisch sehr unruhig. Seine intellektuelle Anlage wurde als durchschnittlich bis überdurchschnittlich beurteilt. Matthias konnte sich in allen Belangen recht differenziert und präzise ausdrücken, zeigte eine rege Phantasie und gute gestalterische Fähigkeiten. Daneben war er aber im psychosozialen Bereich stark retardiert. Seine eigene Persönlichkeit war noch schlecht ausdifferenziert, sein Selbstwertgefühl so schwach, dass er es nicht wagt, eigene Bedürfnisse in adäquater Weise durchzusetzen. Matthias zeigte sich als hilfloser, verlassener und einsamer Knabe, dem weitgehend das Vertrauen in eine gute Welt fehlte. Seine Resignation und Depression waren tief verdrängt, in seiner Phantasie baute er sich eine heile und gute Welt auf. Die Elternfiguren wurden als abwesend oder kontrollierend und überwachend erlebt. Matthias bemühte sich um Anpassung, um auf diese Weise etwas für sich zu gewinnen. Hintergründig zeigen sich aber massive Aggressionen vor allem auch Elternfiguren gegenüber, die er unterdrückte und staute. Wenn diese, was immer wieder passierte, zum Durchbruch kamen, lösten sie in ihm Schuldgefühle aus. Eine echte und tiefe Beziehung zu seinen Eltern musste als fehlend beurteilt werden, seine grossen Geborgenheits- und Zärtlichkeitsbedürfnisse konnten nicht befriedigt werden. Der Knabe wehrte seine Gefühle sehr stark ab, versuchte immer wieder seine Ängste wegzudiskutieren, Angst und Traurigkeit mit fröhlichem Getue zu überspielen oder zu leugnen. Wenn er sich bedroht fühlte, verfiel er in regressives Trotzverhalten, hielt dann Phantasien und Emotionen gänzlich zurück. Seine Angst vor Verlassenheit, Angst vor den eigenen Aggressionen und das Gefühl der dauernden Unsicherheit machten ihm sehr zu schaffen, wodurch er auch in seiner Kontaktfähigkeit stark beeinträchtigt war.»
Leserangebot: «Plötzlich Familie»
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