Roman-VorabdruckWarum Nelly aus dem Altersheim spazierte und nie mehr wiederkam
Von Blanca Imboden
22.5.2019
Im neuen Roman von Blanca Imboden wird gelacht und geliebt, gelebt und gestorben. Die Schweizer Bestsellerautorin schreibt über das Leben im Altersheim. Ein Buch, das Mut macht, auch einmal gegen den Strom zu schwimmen.
Als Blanca Imbodens Mutter – eigentlich viel zu früh –in ein Altersheim zog, erzählte sie der Tochter von ihren Erfahrungen und Erlebnissen und schrieb ihr E-Mails mit Anekdoten aus dem Heim. Irgendwann beschloss Bestellerautorin Imboden, einen Altersheim-Roman zu schreiben.
Ihre Mutter nahm ihr allerdings das Versprechen ab, ihn erst nach ihrem Tod zu veröffentlichen. Die Bestsellerautorin verbrachte für die Recherche ihres neuen Buches «heimelig – Warum Nelly aus dem Altersheim spazierte und nie mehr wiederkam» eine Woche in einem Altersheim.
«Bluewin» publiziert exklusiv das Kapitel «Trudi tobt». Leserinnen und Leser von «Bluewin» können den neuen Roman «heimelig» von Blanca Imboden direkt beim Verlag Wörterseh bestellen. Das Leserangebot ist am Ende des Buchauszugs zu finden.
Trudi tobt
Nein, nicht alle machen Fehler.
Ich habe meine Tochter Trudi vergessen.
Die macht ja immer alles richtig.
Glaubt sie.
Plötzlich steht sie an unserem Frühstückstisch und knallt mir eine Zeitung auf den Teller.
»Wie konntest du nur!«, zischt sie erbost. »Wenn dir schon nichts mehr peinlich ist, dann denk doch wenigstens an uns, an unsere Karrieren, die wir uns mühsam erarbeitet haben. Ich schäme mich so.«
Ich schaue auf meine Tochter, diese schöne, erfolgreiche Frau, und schäme mich gerade auch ein bisschen. Aber nicht wegen mir.
»Guten Morgen, Trudi«, sage ich betont freundlich und unaufgeregt. »Du bist aber schon früh hier. Herzlich willkommen in unserem heimeligen Heim.«
Auch meine Tischkameraden grüßen sie ganz besonders freundlich und unbeeindruckt. Das interessiert Trudi nicht. Sie muss jetzt einfach ihre Wut loswerden, und da kennt sie gar nichts. »Deine Reiserei war mir doch von Anfang an suspekt. Und jetzt sind schon Drogen im Spiel. Und was ist mit diesem afrikanischen Schriftsteller? Wieso kommt der zu dir? Wegen der Drogen? Nimmst du Drogen? Du solltest dich wirklich schämen!«
Ja, meine Tochter hat es schwer.
Und sie hat keine Ahnung.
Vor allem das.
Würde sie häufiger vorbeikommen oder anrufen, wüsste sie Bescheid. Und Xaver hatte doch wahrlich oft genug von seinem kenianischen Schützling gesprochen. Aber im Moment mag ich gar nicht mit Trudi reden. Ich bin ihr keine Rechenschaft schuldig. Und wenn sie in diesem Ton mit mir schimpft, dann werde ich besonders aufmüpfig. Ich bin zu alt, als dass man so mit mir umspringen könnte.
Ich ignoriere meine wütende Tochter, stehe auf und hole mir einen Kaffee. Langsam. Allerdings zittern meine Hände ein wenig dabei. Sie eine Weile links liegen zu lassen, das hat schon funktioniert, als sie noch ein Kind war und uns mit ihren Wutausbrüchen terrorisierte. Obwohl ich heute erkennen muss, dass es keine besonders wertvolle, jedenfalls keine nachhaltige erzieherische Maßnahme gewesen sein kann. Trudi hat sich ganz offensichtlich noch immer nicht unter Kontrolle und meint, alle müssten vor ihr zittern, wenn sie laut wird. Und wie gesagt: Ein ganz klein wenig zittere ich tatsächlich. Ich bin es einfach nicht gewohnt, dass man so mit mir umspringt. Das macht mich dann doch auch etwas wütend. Und traurig. Eigentlich vor allem traurig. Warum kann ich nicht ein schönes, liebevolles Verhältnis zu meiner Tochter haben? Mit Kim, meiner Enkelin, gelingt mir das doch wunderbar.
»Ich werde das mit Frau Meier besprechen. Vielleicht sollte man dich unter Aufsicht stellen. Du bist doch nicht mehr voll bei Sinnen«, spuckt mir Trudi vor die Füße, als ich mit meinem Kaffee zum Tisch zurückkomme, wo sie wie zur Salzsäule erstarrt gewartet hat.
»Dann solltest du dich vielleicht mit der Kesb in Verbindung setzen«, antworte ich eiskalt, innerlich total aufgewühlt.
Trudi schnaubt wortlos und geht dann, grußlos, erhobenen Hauptes, einfach davon. Die gefährlich hohen Absätze klappern durch den Saal.
»Bis bald«, ruft ihr Marlies nach.
»Knackiger Hintern«, sagt Tobias laut und schaut ihr ungerührt hinterher.
Marlies schaut ihn strafend an. Aber Tobias hat es geschafft, mich zum Lachen zu bringen. Allerdings nur kurz. Dann fange ich an zu weinen, sacke zusammen zu einem kleinen Häufchen alte Frau und schluchze leise vor mich hin.
Gut, dass beim Frühstück nicht alle Heimbewohner gleichzeitig im Speisesaal sitzen. Diesen Auftritt haben alle mitbekommen, die da waren, und sie werden ihn nicht so schnell wieder vergessen. Nachdem Trudi mir lautstark mit Vormundschaft gedroht hat, habe ich allerdings alle auf meiner Seite, kann mit der Empörung aller Zuhörer rechnen, egal, was sie vorher über mich gedacht haben.
Ich bin sehr verletzt. Ich weiß, warum ich Streitereien hasse. Xaver und ich haben nie gestritten. Natürlich ist dabei auch manches einfach unter den Teppich gekehrt worden, über das man besser gesprochen und diskutiert hätte. Sicher war das nicht immer gut, und oft hat einer einfach geschluckt, was er sagen wollte, Kompromisse gemacht und gute Miene zum bösen Spiel. Trotzdem: Wir konnten alles zu einem späteren Zeitpunkt thematisieren, ohne Wut und Zorn, in einem normalen Gespräch, bei passender Gelegenheit. Im Streit sagt man so vieles, was man nachher bereut. Aber es bleibt gesagt. Die Verletzung ist da. Vieles kann man zwar später verzeihen, aber vergessen? Ein Stachel im Fleisch, der sich unter Umständen entzündet, vereitert und am Ende eine Blutvergiftung auslösen kann.
Ich weiß, es gibt Paare, die ständig streiten. Das ist okay und für ihr Umfeld oft sehr unterhaltsam. Kein Problem. Das ist ihre Art, zu leben und zu lieben. Meine war es nie und wird es nie sein. Und jetzt hat meine eigene Tochter mich in der Öffentlichkeit derart böse angegriffen, so verletzend und erniedrigend. Ein großer Stachel. Ein sehr großer. Ich weiß, sie war aufgeregt und aufgebracht, und sie hatte keine Ahnung, was passiert war. Sie war außer sich und machte sich Sorgen um mich, um ihren Ruf, um die Karriere von Joshua. Ist das eine Entschuldigung? Sie hätte sich doch zu mir setzen können und fragen: »Mama, wie geht es dir? Was ist passiert? Kann ich dir helfen? Erzähl!« So stelle ich mir Tochterliebe vor.
Paul blättert in der Zeitung, die Trudi mir hingeknallt hat. Wie erwartet: eine fette Schlagzeile. Dazu ein kleiner Text und dann ein riesiges Bild mit viel Durcheinander drauf.
»Du siehst gut aus!«, sagt Paul anerkennend und zeigt mir das Foto.
Ich sitze mit schreckgeweiteten Augen auf dem Sofa neben Kipkogei, dem sogar der Mund offen steht. Diverse Requisiten der Fernsehcrew, Polizisten, der Hund: Alles hat irgendwie irgendwo auf diesem Bild Platz gefunden. Fast ein Wimmelbild. Es ist dem Fotografen gelungen, den chaotischen Moment im Bild festzuhalten, mit all unseren Emotionen. Aber in der Tat: Ich sehe gut aus. Ein bisschen Make-up hilft enorm. Das merke ich mir.
»Ich sehe höchstens aus wie fünfundsiebzig«, kommentiere ich leise.
»Allerdings auch so, als stündest du kurz vor einem Herzinfarkt«, meint Marlies dazu.
Die dicke, reißerische Schlagzeile lautet: »Drogenfund im Altersheim«. Und darunter im Lead: »Die perfekte Tarnung – ist die 77-jährige Bewohnerin des Altersheims heimelig Chefin eines Drogenrings?«
Immerhin mit Fragezeichen. Und natürlich wird im Text dann alles aufgeklärt. Er ist sogar ausgesprochen fair, der Text. Jedes Wort stimmt. Mein voller Name wird zwar erwähnt, aber es wird auch auf die Dok-Sendung im Fernsehen hingewiesen. Und ich werde sogar ein bisschen gefeiert, weil ich Kipkogei unterstützt hätte, als er noch unbekannt und arm gewesen sei.
Leider ist es halt so, dass viele Leser – gerade dieser Zeitung – über Titel, Lead und Foto niemals hinauskommen. Lesen ist ihnen zu anstrengend. Dass sich nicht einmal Trudi die Zeit genommen hat, alles zu lesen, vielleicht sogar zweimal, erstaunt mich schon. Sehr. Sie ist doch ein intelligentes Kind. Sie hätte beim aufmerksamen Lesen realisieren müssen, dass alles nur ein Sturm im Wasserglas ist. Ein winziger Sturm im winzigen Wasserglas. Ein Stürmchen. Dass sie überhaupt diese billige Zeitung liest, die immer alles aufbauscht, übertreibt und der die Fakten nicht wirklich am Herzen liegen, das erstaunt mich auch.
Es ist dann Frau Meier, die mich beruhigt und tröstet. Sie holt mich in ihr Büro, wo sie mir ein Glas Wasser und ihr Taschentuch anbietet und wissen will, was vorgefallen ist, das mich derart aus der Fassung gebracht hat. »So kennen wir Sie ja gar nicht!«, schließt sie.
Und hört mir zu. Sie lässt mich ausreden. Sie nickt. Sie ist bei mir. »Ja, ja. Ich habe auch ein paar besorgte Telefonate von der Gemeinde und von Angehörigen von Bewohnern bekommen«, sagt sie dann lächelnd. »Ich werde heute Nachmittag eine kleine Rundmail losschicken, um alle zu beruhigen. Man kann die Leute ja nur bitten, den Text ganz zu lesen. Frau Niederberger, Sie wissen doch, die Zeitung von heute ist das Altpapier von morgen«, will sie mich beruhigen.
Ich rechne ihr das hoch an, weil ich ihr – im Gegensatz zu meiner Tochter – ja wirklich Ärger und Kummer bereitet habe. Ungewollt natürlich. Aber halt doch. Und jetzt ist sie für mich da, zu einem Zeitpunkt, in dem eigentlich sie Unterstützung gebraucht hätte.
»Wir stehen das durch, Sie und ich«, verspricht sie sogar. »Und wegen der Kesb: Bleiben Sie unbesorgt. Sie sind geistig so etwas von klar, da mache ich mir gar keine Sorgen.«
»Danke«, wiederhole ich mich immer wieder. Ich schwöre mir, sie nie mehr Rottenmeier zu nennen.
Frau Meier nimmt sich wirklich Zeit für mich. Sie erzählt ein paar Geschichten aus ihrem Alltag als Direktorin und gibt mir damit den Raum, mich zu beruhigen. Mir wird klar: Sie ist eine gute Frau mit einer unlösbaren Aufgabe. Frau Meier hat ein großes Herz, steht aber zwischen allen Fronten. Sie sieht zwar die Bedürfnisse der Bewohner, des Personals, der Pflege, wird aber durch die Vorgaben der Gemeinde immer wieder ausgebremst. Sie arbeitet in der Gewissheit, nie allen gerecht werden zu können, ständig Kompromisse machen zu müssen, kämpft in vielen Schlachten gleichzeitig, schlägt sich ständig mit Bau-, Finanz- und vor allem Sparplänen herum.
»Geht es wieder? Kann ich Sie allein lassen?«, fragt Frau Meier nach einer Weile.
»Sicher. Ich danke Ihnen. Für alles.«
»Lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Alles wird gut. Die Zeit arbeitet für uns. Bald ist alles aufgeklärt und vergessen.«
Sie entlässt mich sogar mit einer kleinen Umarmung. Wie hatte ich mich doch getäuscht in dieser Frau. Sie kann durchaus herzlich sein, wenn man sie lässt und wenn man sie braucht.
Aufgeklärt und vergessen. Darauf freue ich mich.
Aber glaube ich daran?
Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
Leserangebot: «heimelig»
«Bluewin»-Leserinnen und Leser können das Buch «heimelig» unter dem Codewort bw19he zum Spezialpreis von 21.90 statt Fr. 24.90 (inklusiv Porto und Verpackung) bestellen. Entweder direkt über die Homepage: www.woerterseh.ch, per Mail: leserangebot@woerterseh.ch oder telefonisch unter: 044 368 33 68. Bitte Codewort nicht vergessen!
Karlheinz Weinberger – der Fotograf für das Ungewöhnliche
Karlheinz Weinberger – der Fotograf für das Ungewöhnliche
Hells Angels Camp, Mesocco, 1974.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Halbstarke in der Wohnung von Fotograf Weinberger, 1962.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Halbstarke an der Herbstmesse in Basel, 1962.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Zürich, ca. 1962.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Zürich, ca. 1972
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Karlheinz Weinberger am Tag seiner Pensionierung, 1986.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
«Der Kreis» war nicht nur ein Magazin für Homosexuelle, sondern auch eine Organisation, die Clubabende und Feiern organisierte. Karlheinz Weinberger hiess im «Kreis» Jim und war einer der beiden Vereinsfotografen. Dieses Bild stammt von einem Maskenball im Neumarkt.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Zürich, ca. 1968
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Zürich, ca. 1974
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Blues war ein beliebtes Modell. Madonna – so sagt das Gerücht – habe in einer Gruppenausstellung in New York in der 303gallery ein Blues-Portrait von Karlheinz Weinberger erworben (Zürich, 1968).
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Karlheinz Weinberger war in den frühen 1950er Jahren im Athletik-Sportverband Adler in Zürich der Hausfotograf, später auch Ehrenmitglied. Im Adler trainierten vor allem junge Arbeitsmigranten ihre Muskeln.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Zwei kämpfende Ringer: Das Lieblingsbild von Nachlassrverwalter Patrik Schedler.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Zwischen 1955 und 1964 reiste Weinberger jeden Sommer in den Süden, nach Sizilien, auf die Liparischen Inseln und nach Tanger. Dieses Bild entstand wahrscheinlich in Sizilien um 1958.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Dieses Bild entstand ebenfalls auf Sizilien um 1958.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Jünglinge, Sizilien zwischen 1958 und 1963.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Arbeiter, frühe 1950er Jahre.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Arbeiter, frühe 1950er Jahre.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Als im Hallenstadion die Stühle flogen: Rolling-Stones-Konzert, Hallenstadion Zürich, 14. April 1967.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Tätowierer Rocky, 1970er Jahre.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Rocker in der Leventina, 1972.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Lone Star Camp, Bad Ragaz, 1969.
Bild: Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich
Grosser Urlaub im Militär: Karlheinz Weinberger auf dem Genfersee bei Vevey, Ostern 1942.
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