KolumneModern Walking – das Revival des Spaziergangs
Von Marianne Siegenthaler
11.1.2021
Dem Spaziergang haftete lange ein verstaubtes Image an. Seit der Corona-Pandemie hat sich das verändert. Das Gehen erlebt ein Revival. Und das ist gut so, findet die Kolumnistin.
Zu Fuss gehen ohne ein konkretes Ziel? Ohne sportlichen Hintergedanken? Einfach so vor sich hinschlendern? So wie das Rentner*innen gern tun? Oder Mütter und Väter mit Kinderwagen? Oder manche Familien an Sonntagen (wobei sich die Begeisterung der Kinder meist in engen Grenzen hält)?
Also da gibt es doch wirklich Spannenderes. Netflix-Serien gucken zum Beispiel. Oder auf Social Media herumhängen. Aber irgendwann muss man raus aus den vier Wänden. Und weil coronabedingt vom Fitnesscenter über die Beiz bis zum Hallenbad und zur Tennishalle alles geschlossen ist, bleiben nicht mehr viele Freizeitmöglichkeiten. Eine davon ist das Spazierengehen.
Zur Autorin: Marianne Siegenthaler
Bild: zVg
Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin, Texterin und Buchautorin. In ihrer Kolumne nimmt sie die grossen und kleinen, die schrägen und schönen, die wichtigen und witzigen Themen des Alltags unter die Lupe – mal kritisch, mal ironisch, mal mit einem Augenzwinkern. Sie ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter und lebt am Zürichsee. www.texterei.ch
Ich benötige kein spezielles Equipment wie Laufschuhe, Funktionswäsche oder Ähnliches. Keine Schutzausrüstung wie Helm, Knieschoner oder Rückenpanzer. Auch keinen Einsteigerkurs. Nicht mal eine spezielle App muss ich mir dafür herunterladen.
Auch muss ich keine Optimierung von Körper beziehungsweise Geist anstreben. Nein. Ich bin einfach nur zu Fuss unterwegs. Beine vertreten nennt man das auch. Und es spielt nicht mal eine Rolle, wo ich meine Runde drehe. Durchs Wohnquartier. Durch den Wald. Durch das Industriegelände. Am Seeufer entlang. Egal.
Ein weiteres Plus: Das Wetter spielt keine Rolle. Nicht so wie beim Inlineskaten (bloss kein Regen), beim Wakeboarden (bloss keine Wellen) oder beim Skifahren (bloss kein Nebel). Spazierengehen ist allwettertauglich. Sofern man sich entsprechend anzieht. Aber das dürfte kaum ein Problem sein. Immerhin kommt so mal die atmungsaktive Winterjacke aus 32 rezyklierten PET-Getränkeflaschen und einer Wassersäule von 20'000 Millimeter an die frische Luft.
Kein Stress. Kein Schweiss. Kein Adrenalin.
Und draussen kann man was erleben. Oder eben nicht. Auch das gefällt mir am Spazierengehen: Es ist total unaufgeregt. Kein Stress. Kein Schweiss. Kein Adrenalin. Kein Leistungsziel. Nichts dergleichen.
Dafür ganz viel Musse, um Dinge zu beobachten. Auf dem Land ist es ein Storch, der gerade irgendein kleines Tier verschluckt. Im Wohnquartier fällt mir ein besonders hässlicher Neubau auf. Auf einem kleinen Kiesstrand finde ich flache Steine, die sich zum Schiefern eignen. Oder ich nehme ein Fundstück mit nach Hause. Ein Schwemmholz zum Beispiel, das an einen Fisch erinnert. Oder ein Stück Käse, das ich in einem Hofladen kaufe.
Ein Spaziergang ist eine gute Gelegenheit, über dies und das zu plaudern oder einfach so vor sich hin zu sinnieren, falls man alleine unterwegs ist. Und wenn man genug gelaufen ist, geplaudert und sinniert hat, geht es einfach wieder nach Hause.
Wetten, dass sich der Spaziergang vom Seniorenhobby zum Lifestyle-Trend 2021 mausert?
Bertram Weisshaar, Spaziergangsforscher beziehungsweise Promenadologe (ja, das gibt es), jedenfalls ist davon überzeugt: «Es wird eine bleibende Erfahrung sein, da bin ich mir sicher. Wir geniessen es bewusster, weil es uns fast verboten wurde. Und das Schöne am Gehen ist ja, dass es denkbar einfach ist. Man steht auf, tut den ersten Schritt – und siehe da, schon geht man.»
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