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Auswanderer auf Fuerteventura «Manchmal vermissen wir hier die Schweizer Menschlichkeit»
Von Runa Reinecke
6.12.2019
Seit drei Jahren leben Tobias Bayer und Michael Paris auf Fuerteventura. «Bluewin» hat die beiden auf der Insel besucht und mit ihnen über Fans vor der Haustür, falsche Freunde, Heimweh und Zukunftspläne gesprochen.
Gerade noch schlenderten Touristen durch die engen Gässchen des hübschen Ladenquartiers in Corralejo. Jetzt sind sie verwaist. Vor den Geschäften, zwischen Ständern mit bunten Luftmatratzen und Strandtüchern, drängeln sich die Menschen unter den Vordächern.
Etwas weiter oben springen die Gäste vor einer Bar auf, ein Mann nimmt eilig die Sitzkissen von den freigewordenen Rattanstühlen. Zuerst waren es wenige dicke Wassertropfen, jetzt ist es ein Sturzregen – ein seltenes Wetterszenario für die sonnenverwöhnte Kanareninsel Fuerteventura.
Diskokugel und Prosecco
Drinnen ist jeder Platz besetzt, die Atmosphäre ist trotz des Andrangs entspannt. An der Decke rotiert eine Diskokugel, die Luft ist warm und feucht.
Tobias Bayer steht hinter der Theke, befüllt fünf aneinandergereihte Sektgläser mit Prosecco. Sein Lebens- und Geschäftspartner Michael Paris – der noch eben die Sitzkissen ins Trockene rettete – steht jetzt in der Boutique-Ecke des «Stars» und zupft behutsam ein T-Shirt für eine Kundin aus einem Stapel akkurat aufgetürmter Textilien.
2016 startete das Paar einen zweiten Auswanderungsversuch. Dieses Mal, um auf Fuerteventura mit einer Bar-Boutique Fuss zu fassen. Werden sie hierbleiben oder zieht es sie bald wieder zurück nach Bern? Heute werde ich das nicht mehr erfahren. «Morgen ist es meistens ruhiger», lässt mich Tobias Bayer wissen. Wir verabreden uns für den nächsten Tag.
Tourismus und Mode
An diesem Montagvormittag sitzen wir draussen, die beiden tragen Jeans und T-Shirt. Nur wenige Tische sind besetzt. Bayer strahlt. Das tut er fast immer. Früher war er am Berner Flughafen dafür verantwortlich, dass es VIP-Gästen an nichts fehlte.
Auch Paris ist hier voll in seinem Element. Vor mehr als 20 Jahren zog es den gelernten Förster aus dem Wald in den Grossstadtdschungel von Budapest. Damals begann er in einem Modegeschäft Kleider zu verkaufen. Dass der 44-jährige Ungar mit den stahlblauen Augen ein Gespür für Stil und Design hat, zeigt sich auch im Interieur des «Stars».
Auswandern mit TV-Unterstützung
Vor acht Jahren war das alles hier noch ganz weit weg. Damals kehrten sie zum ersten Mal der Schweiz den Rücken, um ihr Glück auf der Sonneninsel zu suchen. Zu sehen war das in der 3+-Serie «Adieu Heimat».
«Wir waren hier zuvor mehrmals in den Ferien und haben uns in die Insel mit ihren schönen Stränden verliebt», schwelgt Tobias Bayer, während er aufsteht und sich für einen Moment entschuldigt. Er kümmert sich um die Gäste, die gerade am Nebentisch Platz nehmen.
Abenteuer frühzeitig beendet
Doch warum ausgerechnet Fuerteventura? Wäre es auf der Nachbarinsel Gran Canaria mit ihrer grossen LGBT+-Community nicht interessanter? «Ach», wiegelt Paris ab, «wir sind ab und zu auf Gran Canaria. Aber wir fühlen uns hier viel wohler, und wir hatten hier noch nie Probleme, weil wir schwul sind.»
Doch warum hat es erst beim zweiten Anlauf geklappt?
2011, das sei, «eine Auswanderung auf Probe» gewesen, sagt Bayer. Trotz der Wirtschaftskrise, die Spanien Anfang dieses Jahrzehnts schwer traf, fanden beide Jobs, erlernten die Landessprache.
Nun war die wachsende Arbeitslosigkeit und die dadurch steigende Kriminalität auf der sonst so friedlichen Insel immer deutlicher spürbar. «Mitten in der Nacht wurden wir durch Gepolter und lautes Geschrei aus dem Schlaf gerissen», erinnert sich Tobias Bayer an jenen Moment, der ihr Abenteuer frühzeitig beenden würde – Bayer wirkt plötzlich ganz ernst.
«Ich stand komplett unter Schock»
Die Nachbarn im Apartment nebenan wurden von drei Männern überfallen – und diese gingen bei ihrem Einbruch nicht gerade zimperlich vor.
«Ich stand komplett unter Schock», schildert Bayer sichtlich aufgewühlt die Szene, er fährt sich durch die hellblonde Kurzhaarfrisur. «Damals sagte ich zu Michael: ‹Ich bleibe hier nicht länger. Morgen ziehen wir in ein Hotel, und in ein paar Tagen kehren wir zurück in die Schweiz.›»
Gesagt, getan, doch sie waren nicht zurückgekommen, um zu bleiben, wie sich zeigen würde: Die Liebe zur Insel liess sie einfach nicht los, und so fuhren sie 2016 zum zweiten Mal mit ihrem Renault Clio gen Süden. Mit im Gepäck: ein Pachtvertrag für ein Ladenlokal am Rande des im Norden der Insel gelegenen Touristenorts Corralejos.
Sind doch (nicht) alle so nett
Von den Besitzern der Nachbarläden des Einkaufszentrums wurden sie zuerst freundlich empfangen, doch dann: «Keiner grüsste uns mehr», erzählt der gebürtige Berner, es ging ihm damals ziemlich nahe. Wie sich herausstellte, ein klares Indiz dafür, dass man sie anfangs nicht als ernstzunehmende Konkurrenz wahrgenommen hatte.
«Die dachten sich wohl, die beiden Schlufis mit ihrer weissen Bar und der Diskokugel, die sind hier ganz schnell wieder weg», resümiert Tobias Bayer. Doch es kam anders.
Auch ihre zweite Auswanderung konnte am TV-Bildschirm mitverfolgt werden, dieses Mal bei der SRF-Sendung «Auf und davon». Während in anderen Läden ringsherum gähnende Leere herrschte, zog es immer mehr Gäste, die die beiden aus dem Fernsehen kannten, ins «Stars».
Bis heute habe sich das Verhältnis zu den Geschäftsnachbarn nicht gebessert, die kleine Bar ist für Bayer und Paris zu einer Insel geworden, die von Neid und Missgunst umgeben ist. Doch daran haben sie sich längst gewöhnt.
Zwielichtige Gestalten
Auch daran, dass sie hier überall von Schweizerinnen und Schweizern erkannt werden.
«Früher warteten sogar Fans vor unserem Haus», erinnert sich Michael Paris. Zwar seien die beiden längst umgezogen, doch wenn sie sich für ein paar Stunden am Strand vom Arbeitsstress erholen und sich ein bisschen Privatleben gönnen wollten, würden sie auch dann angesprochen. Das sei, wie der 44-Jährige betont, «schon ziemlich anstrengend.»
Zu den zahlreichen Stammgästen der Bar gehörten auch eine Schweizerin und ihr deutscher Ehemann. Es entwickelte sich eine Freundschaft. Irgendwann schlug der Mann ein Geschäft vor: Zwei Autos einer neuen Marke wollte er den beiden für einen gewissen Zeitraum gratis zu Verfügung stellen – zu Werbezwecken.
Besonders Paris hatte dabei ein mulmiges Gefühl, schlussendlich gingen die Barbesitzer aber auf den Deal ein: «Die Übergabe sollte von einem Kamerateam begleitet werden, deshalb hatten wir ihm vertraut.»
Sie leisteten eine kleine Anzahlung für die Überführung der Autos, danach war Funkstille.
«Das sitzt tief»
Bis heute warten sie darauf, das Geld zurückzubekommen. «Wir waren einem Betrügerpaar auf den Leim gegangen», sagt Michael Paris.
Eine Erfahrung, die die beiden verändert hat?
«Das hat uns vorsichtiger gemacht, wir sind zurückhaltender geworden», bestätigt Tobias Bayer, er holt tief Luft. «Menschlich so enttäuscht, so geplant ausgenutzt zu werden, das sitzt tief.»
Das Jahr 2019 – für den Tourismus auf Fuerteventura war es kein gutes. Mit den Kampfpreisen, die viele Touristen wieder vermehrt in Länder wie die Türkei oder Ägypten locken, können die Kanaren nicht mithalten.
Die Hälfte aller Angestellten, die auf Fuerteventura in der Tourismusbranche tätig sind, haben ihre Jobs verloren. Das spüren auch die Besitzer des «Stars».
Kommen da nicht Zukunftsängste auf?
«Ab und zu, vielleicht zwei bis drei Mal im Jahr», gibt Tobias Bayer zu. Er lächelt: «Das liegt wohl daran, dass ich Schweizer bin.»
Weder «bitte» noch «danke»
Plagt sie nicht manchmal das Heimweh, was fehlt ihnen hier – abgesehen von Verwandten und Freunden?
«Mhhh», der 48-Jährige überlegt kurz, «manchmal vermissen wir die Menschlichkeit, das Miteinander in der Schweiz!» Zwar gebe es dort auch viele, die bevorzugt nach sich selbst als nach anderen schauten. Aber hier auf Fuerteventura, höre man selten mal ein «Bitte» oder ein «Danke».
Müll werde hier achtlos irgendwo in der Natur entsorgt, aber nicht nur das: «Hier liegen viele tote Tiere am Strassenrand, weil die Leute sehr rücksichtslos fahren», sagt Michael Paris. Es schmerzt sie, denn seit einem Jahr sind sie selbst stolze Adoptivväter des Büsis Moon.
Grosse Zukunftspläne
Es beginnt leicht zu regnen. Denken beide daran, irgendwann in die Schweiz zurückzukehren?
«Wir fühlen uns wohl und leben im Hier und Jetzt. Vielleicht kehren wir irgendwann zurück, vielleicht bleiben wir für immer», sagt Tobias Bayer, er schaut währenddessen auf in den Himmel: ein Sonnenstrahl zwängt sich durch zwei dicke Wolken.
Sie sind stolz auf das, was sie mit dem «Stars» erreicht haben. Das, so betonen beide, sei erst der Anfang: Bald wollen sie wieder nach den Sternen greifen und eine Boutique eröffnen.
«Möglichweise auf einer anderen Insel, wer weiss ...»
Im kommenden Jahr werden die Auswanderer wieder von «Adieu heimat» (3+) begleitet. Einen Termin für die Ausstrahlung gibt es noch nicht.
Tobias Bayer und Michael Paris sind auf Facebook und Instagram aktiv.