Unerfüllter Kinderwunsch, Teil 1 «Für viele ist es die schlimmste Krise in ihrem bisherigen Leben»

Von Sulamith Ehrensperger

30.10.2020

Bleibt der Wunsch nach einem leiblichen Kind unerfüllt, kann dies für die betroffenen Paare gravierende Auswirkungen auf die Gefühlslage und die Gesundheit haben. 
Bleibt der Wunsch nach einem leiblichen Kind unerfüllt, kann dies für die betroffenen Paare gravierende Auswirkungen auf die Gefühlslage und die Gesundheit haben. 
Bild: Getty Images

Bei jedem siebten Paar mit Kinderwunsch in der Schweiz will es einfach nicht klappen. Ein Gespräch mit Reproduktionsmediziner Florian Götze über die biologische Rushhour, Versagensängste und Spermienqualität.

Herr Götze, Sie können unerfüllte Kinderwünsche möglich machen. Manche sehen Reproduktionsmediziner daher als moderne Helden. Sind Sie auch einer?

Es geht in erster Linie um die Paare und nicht um mich. Die positiven Schwangerschaftstests sind sicher der Treibstoff für meine tägliche Arbeit und schenken auch mir viel Freude. Jeder negative Test hingegen beschäftigt mich umso mehr. Insofern gibt es keinen Grund, sich auszuruhen oder sich gar als Helden zu feiern.

In den westlichen Industriestaaten sind zwei bis fünf Prozent der Geburten der Reproduktionsmedizin zu verdanken. Statistisch ist somit die Wahrscheinlichkeit gross, dass in jeder Kindergarten- oder Schulklasse mindestens ein Kind zu finden ist, das mithilfe einer reproduktionsmedizinischen Behandlung gezeugt wurde. Ich persönlich erlebe, dass darüber nicht so offen gesprochen wird, wie es zu erwarten wäre.

Ich beobachte, dass es unterschiedliche Mentalitäten und ganz unterschiedliche Arten gibt, wie Patienten damit umgehen: Manche behalten es ganz für sich; andere kommunizieren es auch am Arbeitsplatz offen. Insgesamt ist das ganze Thema schon enttabuisiert worden. Das Ausbleiben der Schwangerschaft jedoch wird oft als vermeintliches Versagen wahrgenommen und ist mit tiefgreifenden Gefühlen verbunden – vielleicht ein Grund, weshalb viele nicht darüber reden.

Zur Person: Florian Götze
Porträt Florian Götze Reproduktionsmediziner
Privatklinik Bethanien

Florian Götze ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, Mitglied FMH speziell Reproduktionsmedizin und gynäkologische Endokrinologie. Seit 2013 leitet er das 360° Kinderwunsch Zentrum in Zürich und in Zollikon.

Kinder zu kriegen, gilt offenbar in unserer Gesellschaft als selbstverständlich. Doch jedes siebte Paar hegt heute einen unerfüllten Kinderwunsch. Die häufigsten Ursachen für Infertilität?

Die Hauptursache gibt es nicht. Die Gründe für einen unerfüllten Kinderwunsch liegen gleichermassen häufig bei Ursachen der Frau, beim Mann wie auch in der Kombination zwischen Frau und Mann. Bei zehn Prozent wird keine Ursache gefunden. Dann gibt es noch eine zweite Ebene, die sich über alles hinwegsetzt: Ganz eindeutig spielt beim Schwangerwerden das Alter der Frau eine Rolle. Man weiss, dass zwischen 35 und 40 sich die Fruchtbarkeit um die Hälfte reduziert. Im Alter von 40 Jahren liegen die Chancen auf eine Schwangerschaft dann nur noch bei etwa fünf bis zehn Prozent pro Zyklus.

Immer mehr Frauen verschieben den Kinderwunsch auf jenseits der 35. Sie geraten also unweigerlich in eine Art biologische Rushhour. Sind es vorwiegend solche Frauen, die sich an Sie wenden?

Häufig ist es schon so, aber nicht ausschliesslich. Jüngere Patienten wenden sich eher wegen physiologischer Ursachen wie verschlossener Eileiter oder eines sehr schlechten Spermiogramms beim Partner an uns. Bei Patientinnen ab 35 Jahren sind es weniger Erkrankungen, sondern ist es vielmehr das Alter, das bei Kinderlosigkeit zunehmend eine grössere Rolle spielt – und irgendwann gar die Hauptrolle.

Was kann eine Frau tun, wenn sie um die 40 noch schwanger werden will?

Wenn eine Frau ein Jahr lang versucht, schwanger zu werden, und es klappt nicht, ist eine diagnostische Abklärung empfohlen. Ab 35 Jahren ist es ratsam, diese schon nach einem halben Jahr zu tun, und ab 40 sofort, weil dann jeder Monat zählt. Generell gilt: Ein gesunder Lebenswandel erhöht die Chance, schwanger zu werden

Zunehmend gerät auch der Mann in den Fokus: Die Rede ist immer häufiger von Spermienkrise.

Ob tatsächlich eine Tendenz besteht, dass die Spermienqualität abnimmt, bin ich mir noch nicht ganz sicher. Denn diese Spermiogramm-Untersuchungen werden unter dem Mikroskop von Mitarbeitern im Labor gemacht. Das hat zur Folge, dass das Resultat sehr von der Qualität der Untersuchung und der Ausbildung des Untersuchers abhängig ist. Insofern müssten Studien zur Spermienqualität zunächst garantieren, dass sämtliche Untersuchungen unter dem gleichen Qualitätsstandard stattfinden, um nicht quasi Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Postuliert wird zum Teil auch, dass Umweltgifte für eine abnehmende Spermienqualität verantwortlich sein könnten. Man hat auch gewisse Stadt-Land-Gefälle und geografische Unterschiede gefunden – da scheint etwas Wahres dran zu sein.

In der Schweiz erfülle das Sperma bei sechs von zehn jungen Männern die Normwerte nicht, wie eine landesweite Studie zeigte. 

Die nationale Querschnittsuntersuchung bei Schweizer Rekruten ergab, dass nur noch 38 Prozent der Rekruten ein Spermiogramm aufweisen, das Normwerte im Bereich Konzentration, Motilität (Fähigkeit zur aktiven Bewegung) und Morphologie erreicht oder überschreitet. Diese Ergebnisse gelten für alle geografischen und Sprachregionen gleichermassen, einzig im Jura ist die Spermienkonzentration signifikant besser als in allen anderen Regionen.

Reduziert Stress die Fruchtbarkeit? Manche Paare geraten durch den unerfüllten Kinderwunsch noch mehr unter Druck.

Jein, im natürlichen Zyklus ist es tatsächlich so, dass Stress die Fruchtbarkeit reduziert. Frauen in prekären sozialen Situationen beispielsweise in Kriegsgebieten haben teilweise keine Zyklen mehr, wegen des Stresses, teils auch wegen Unterernährung. Das Gegenteil ist aber der Fall, wenn eine In-vitro-Fertilisation (IVF) oder Stimulationen unternommen werden. Studien haben gezeigt, dass vor dem Transfer extrem gestresste Patientinnen ein identisches Resultat hatten wie entspanntere Frauen. Jedoch kann Stress die Lebensqualität beeinträchtigen und neben der körperlichen Belastung bei einer Fertilitätstherapie dazu führen, dass diese zu einer belastenden Zeitspanne im Leben einer Frau wird.

Dem Mann wird oft die Rolle als Samenspender zugeschrieben. Was kann er noch zum Kinderwunsch beitragen?

Er kann unterstützen, indem er ein offenes Ohr hat und Rückhalt bietet. Und auch er sollte sich von Giften fernhalten, sprich Nikotin, und seiner Gesundheit Sorge tragen. Es braucht von Anfang an zwei dazu.

Louise Joy Brown kam am 25. Juli 1978 in Oldham, Grossbritannien, zur Welt. Sie ist der erste in vitro gezeugte Mensch, war also das erste Retortenbaby.
Louise Joy Brown kam am 25. Juli 1978 in Oldham, Grossbritannien, zur Welt. Sie ist der erste in vitro gezeugte Mensch, war also das erste Retortenbaby.
Bild: Keystone

Weltweit sind seit der Geburt des ersten ‹IVF-Babys› Louise Brown im Jahr 1978 geschätzte neun Millionen Kinder durch eine Kinderwunschbehandlung geboren worden. Was hat sich in den letzten 40 Jahren am meisten geändert?

Es war eine medizinische Sensation. Damals hatte es x Versuche gegeben, die Ei- und Samenzelle des Paares via In-vitro-Fertilisation ausserhalb der Gebärmutter zu befruchten. Es war ein Riesenaufwand, bis das erste IVF-Baby endlich zur Welt gekommen ist. Mittlerweile ist der Aufwand für jeden einzelnen Zyklus viel geringer geworden, die Erfolgsquote hingegen ist deutlich gestiegen. Auch die Risiken etwa einer Mehrlingsschwangerschaft oder für Komplikationen sind deutlich zurückgegangen.

Nicht jede IVF-Behandlung führt zu einer Geburt. Wie gross sind die Chancen bei einer In-vitro-Fertilisation wirklich?

Grundsätzlich sind die Schwangerschaftschancen gut: 70 Prozent aller Paare kann geholfen werden. Eine dänische Studie zur Reproduktionsmedizin konnte zeigen, dass 20 Prozent der Frauen mit Geschlechtsverkehr schwanger werden konnten, 11 Prozent mit Insemination und 70 Prozent mit Methoden der künstlichen Befruchtung.

Ab 40 Jahren wäre es dann so wie ein Sechser im Lotto?

Nach 40 gehen die Schwangerschaftschancen leider gnadenlos in Richtung Nullpunkt. Das Alter spielt einfach eine der Hauptrollen in der ganzen Thematik.

Die Meinungen zur Reproduktionsmedizin sind teilweise kritisch, obwohl sich ihr gegenüber viele als offen bezeichnen. Warum?

Als Reproduktionsmediziner kann ich mich nicht beklagen. Im Vergleich zu anderen Ländern erlebe ich die Schweiz als aufgeschlossen und viele sind gut über die Thematik informiert. Zum Teil ist ein Misstrauen da, was die verschiedenen Techniken angeht. Und dann werden immer mal wieder absurde Geschichten über Behandlungen im Ausland im Umlauf gesetzt, die so in der Schweiz gar nicht erlaubt wären.

Fürs Wunschkind gehen jährlich immer noch Schweizer Paare ins Ausland, genaue Zahlen gibt es nicht. Wie sehen Sie die Schweiz im Vergleich zu den Kinderwunschkliniken im Ausland?

Es gibt keine exakten Daten, wie viele Paare aus der Schweiz ins Ausland reisen. Schätzungen zufolge sind es etwas über tausend Paare pro Jahr, die beispielsweise für eine Eizellenspende ins Ausland fahren. Die Gründe für einen Gang ins Ausland sind aber deutlich weniger als früher. Seit 2017 haben wir eine fortschrittliche und patientenfreundliche Gesetzgebung. In den meisten Fällen können wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine gleich gute Behandlung anbieten. Klar verboten sind bei uns allerdings die Eizellenspende, die Samenspende bei nicht verheirateten Patientinnen und bei homosexuellen Pärchen sowie die Leihmutterschaft.

Wohin geht die Reise: Welche Methoden könnten in naher Zukunft Kinderwunschpaaren Hoffnung machen?

Ich glaube, dass wir theoretisch schon weit gekommen sind. Unter Ausreizung der aktuell zur Verfügung stehenden technischen und legalen Mittel haben wir schon hohe Erfolgsquoten. Es dürfte schwierig sein, das noch viel mehr zu toppen. Nicht zuletzt dank der neuen Gesetzgebung sehen wir seit 2017 aber erfreulicherweise deutlich seltener Komplikationen. Zudem besteht neu die Möglichkeit, Embryonen vor dem Transfer auf genetische Veränderungen zu untersuchen, zum Teil sogar ohne sie durch eine invasive Diagnostik (Biopsie) einer zusätzlichen Gefahr auszusetzen. Andererseits beobachte ich, dass immer mehr Paare keine oder nur eine geringe Hormonstimulation wollen. Vielleicht ein Trend hin zu einer verträglicheren Behandlung, die die eigenen Ressourcen mehr berücksichtigt.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es der ureigene Wunsch des Menschen ist, Nachwuchs zu haben. Wie gross ist der Leidensdruck von Paaren, die kein Kind bekommen können?

Als ‹die schlimmste Krise in ihrem bisherigen Leben› beschreibt rund die Hälfte der betroffenen Frauen die ungewollte Kinderlosigkeit. Häufig sind es ausgebildete, hochintelligente Frauen, die vieles erreicht haben im Leben, in dem Moment aber zum ersten Mal im Leben ihre Grenzen aufgezeigt bekommen. Es sind Grenzen, die man selbst mit eisernem Willen nicht überwinden kann, wo es Monat für Monat einen Rückschlag gibt und irgendwann auch eine Frustration einsetzen kann. Das ist nicht nur eine Sinnkrise und schon gar keine Lifestyle-Thematik. Gemäss der WHO ist der unerfüllte Kinderwunsch eine Krankheit. Die Intensität der Belastung ist gleichzusetzen mit der einer schwerwiegenden Erkrankung wie HIV oder Krebs oder dem Verlust eines Angehörigen.

Welche Kinderwunsch-Geschichte aus Ihrer Klinik ist Ihnen speziell in Erinnerung geblieben?

Ich habe vor Kurzem ein Kärtchen von einer Patientin erhalten, die eine zehnjährige Leidensgeschichte hinter sich hat, unter anderem eine operative Entfernung des Eileiters, sechs IVF und mehrere Fehlgeburten. Mit 40 Jahren wurde sie doch noch mit einem Auftauzyklus schwanger und hat im Mai ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht. Solche Geschichten erleben wir immer mal wieder und freuen uns dann natürlich sehr.

Täglich werden Florian Götze und sein Team mit den unterschiedlichsten Ängsten und Befürchtungen von Patientinnen konfrontiert. Hier finden Sie die Antworten auf immer wieder gehörte Mythen zur Reproduktionsmedizin. 

Serie «Unerfüllter Kinderwunsch»: Der zweite Teil zum Thema erscheint am Donnerstag, 5. November, auf «blue News». 



Zurück zur Startseite