Entgegnung Angst vor Verschwörungen? Die ist manchmal auch angebracht

Von Michael Angele

25.9.2020

Keystone/Laif/Lutz Jaekel

Wie soll man mit Menschen umgehen, sie sich in Verschwörungstheorien verstricken? Unser Kolumnist mag nicht an die Theorien glauben – doch für die Motive, die dazu führen, hat er eine gewisse Sympathie.

«Verschwörungstheorien – was tun, wenn sich eine Freundin radikalisiert?» – diese Frage hat sich «blue News»-Redaktor Bruno Bötschi gestern gestellt. Unser Kolumnist Michael Angele findet, der Autor mache sich die Sache zu einfach. Eine Entgegnung.


Ich kann Bruno Bötschi verstehen. Vielleicht hätte ich die Freundschaft zur Freundin auch beendet, weil mich ihr verschwörungstheoretisches Gerede so genervt hätte.

Und ja, bei QAnon hört der Spass auf. Ein Präsident (Trump), der einen satanistischen Kreis bekämpft, der weltweit agiert, Kinder tötet, um eine Droge zu gewinnen: Geht’s noch?

Gleichwohl: Ich glaube selten an Verschwörungstheorien; aber ich habe ein gewisses Verständnis für die Umstände, die sie zum Blühen bringen. Wenn ich vor ein paar Jahren gesagt hätte, dass ein mit undurchsichtigen Geschäften unfassbar reich gewordener Amerikaner sich von seiner Gattin minderjährige Frauen auf eine Insel locken lässt, die er eigens zu dem Zweck gekauft und bebaut hat, um die minderjährigen Mädchen dort zu vergewaltigen, dann hätte man mir gesagt: Du spinnst doch.  Doch die traurige Geschichte von Jeffrey Epstein und Ghislaine Maxwell ist leider wahr. 

Verschwörungstheorien kreisen oft um eine sagenhafte heimliche Macht der Juden. Manchmal geschieht das offen wie bei den Protokollen der Weisen von Zion, die den Plan einer jüdischen Welteroberung ans Licht bringen sollen, in Wahrheit aber eine Fälschung des russischen Geheimdiensts aus dem 19. Jahrhundert sind. Öfter wird nur geraunt, etwa unter #Kazharianmafia, ein Hashtag, den auch der Sänger Xavier Naidoo benutzt. Deshalb will ich hier nicht herumdrucksen: Ja, Epstein und Maxwell sind Juden, aber ich kann versichern, dass das Horror-Paar meinen jüdischen Freunden hier in Berlin mächtig auf den Sack geht.



Oder anderes Beispiel: «Die Bundesrepublik war nur eine Marionette der USA, Grossbritanniens und Frankreichs. Deren drei Botschafter hätten jederzeit einen unbotmässigen Bundeskanzler absetzen und das Grundgesetz in Teilen ausser Kraft setzen können. Alle Kanzler hatten bei Amtsantritt eine Unterwerfungserklärung zu unterzeichnen. Die westdeutsche Demokratie war also, zumindest teilweise, ein Fake», so der Kolumnist Harald Martenstein, und er fügt hinzu: «Das Verrückte: Es war wirklich ungefähr so. Die Existenz der ‹Kanzlerakte› wurde 2009 von Egon Bahr in einem Text für die Zeit bestätigt.»

Qui bono?

Was heisst das jetzt? Es heisst, dass alles auch ganz anders sein könnte, als man meint.

Es gibt manchmal tatsächlich eine Geschichte hinter der Geschichte. Und manchmal glauben nicht nur Verschwörungstheoretiker an sie, sondern ganze Regierungen. Siehe jetzt im Fall Nawalny. Für «den Westen» ist es ausgemacht, dass der Kreml hinter der Vergiftung seines bekanntesten Kritikers steckt.

Ich hatte neulich die Gelegenheit, mit einem deutschen Politiker zu sprechen, der auf Geheimdienste spezialisiert ist. Er hielt mir einen kleinen Vortrag über Nowitschok und am Schluss war mir klar, dass nicht nur der russische Geheimdienst die Variante, die Nawalny vergiftet hat, herstellen kann.

Wenn man die alte Frage der Verschwörungstheorie stellt: Qui bono? Wem nützt es, dann kommt «der Kreml» als Antwort eigentlich fast als letztes infrage. Und doch könnten es Putin und die Seinen gewesen sein. Vielleicht werden wir es nie erfahren. Man nennt das «Kontingenztoleranz». Ein solches Denken in Zufällen und Möglichkeiten und Alternativen fällt vielen schwer.

Der Psychologe Dieter Sträuli hat natürlich recht, wenn er im Interview mit «blue News» sagt: «Verschwörungstheorien reduzieren die Unsicherheit.» Aber umgekehrt wird sich der, der mehr Unsicherheit zulassen will, der prinzipiellen Möglichkeit einer Verschwörungstheorie nicht verschliessen können. Im Grunde meint das ja nur: Manches Ereignis wurde von Einflüssen bestimmt, die der Öffentlichkeit nicht ganz oder nur teilweise bekannt sind.

Warum so defensiv?

Wir hätten vielleicht weniger Probleme mit Leuten, die an Chemtrails oder kindermordende Sekten glauben, wenn insgesamt offener über solche Einflüsse gesprochen würde. Das geht nicht immer.

Als einmal ein Fussballspiel in Hannover abgesagt werden musste, weil es eine Terrorwarnung gegeben hatte, meinte der damalige deutsche Innenminister Thomas De Maiziere zur anwesenden Presse: Teile der Antwort würden «die Bevölkerung verunsichern». Es gibt eben nicht ohne Grund Geheimdienste. Aber ebenso verunsichert es die Bevölkerung, wenn existenzielle Entscheidungen nicht transparent wirken. Wie jetzt in der Covid-Krise, wo eben nicht ohne Grund die Verschwörungstheorien ins Kraut schiessen.



Bestimmt hat Bill Gates, ein Protestant übrigens, das Virus nicht in die Welt gesetzt, um vom Impfstoff zu profitieren. Aber wer «Bill Gates» und «WHO» googelt, findet an erster Stelle den Artikel «Die WHO am Bettelstab: Was gesund ist, bestimmt Bill Gates» und dann: «Reiche Privatspender manipulieren die Politik der WHO, vor allem seit die USA ihren Beitrag zusammenstreichen. Das schadet Entwicklungsländern – und vielen armen Kranken.»

Der Beitrag erschien nicht etwa in einem obskuren Blättchen für Verschwörungstheoretiker, sondern vor ein paar Jahren auf der Homepage von «SWR Wissen». Seriöser deutscher öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Aber den Kollegen ist das heute so unangenehm, dass sie eine Art Warnhinweis und eine Leseaufforderung eines Beitrags der Kollegen auf BR24 über Gates und Covid dazu gestellt haben.

Warum so defensiv? Diese Einflüsse, so gut es geht, offenzulegen und zu beschreiben, ist meines Erachtens eine Kernaufgabe des Journalismus. Gelingt sie, braucht eigentlich keiner mehr von QAnon zu fantasieren. Respektive, er kann es dort tun, wo das Zeug hingehört: in der Trivial- und Popkultur.


Zum Autor: Der Berner Michael Angele liefert regelmässig eine Aussenansicht aus Berlin – Schweizerisches und Deutsches betreffend. Angele schreibt für die Wochenzeitung «Der Freitag». Er ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Deutschlands Hauptstadt. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt».

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