Interview«Verschwörungstheorien reduzieren die Unsicherheit»
Von Tobias Bühlmann
13.5.2020
Im Kampf gegen die Coronakrise haben Verschwörungstheorien Aufwind. Das liege daran, dass sie die Unsicherheit reduzieren und klar Schuld zuweisen würden, sagt Verschwörungstheorie-Experte Dieter Sträuli.
Die Massnahmen des Bundes gegen die Corona-Pandemie seien völlig übertrieben, das Virus ohnehin gar nicht so schlimm: Selbsterklärte Skeptiker haben derzeit grossen Zulauf. Das zeigte sich auch bei den unbewilligten Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Massnahmen des Bundes am vergangenen Wochenende.
Die Teilnehmer hätten teils krude anmutende Theorien vertreten, wie beispielsweise der «Tages-Anzeiger» berichtet. Psychologe Dieter Sträuli hat sich intensiv mit dem Thema moderne Mythen auseinandergesetzt – er sagt «Bluewin», warum die Coronakrise Verschwörungstheorien Aufwind gibt.
Es scheint, als hätten Verschwörungstheoretiker aktuell Zulauf. Schätzen Sie das auch so ein?
Die Pandemie ist eine globale Krise, gesundheitlich und wirtschaftlich. Sie wird unser Leben stark verändern – ich fühle mich manchmal wie in einem Science-Fiction-Film. Da stellt sich schnell die Frage: Wie konnte das geschehen? Einige Leute neigen dazu, darauf mit Verschwörungstheorien zu antworten.
«Verschwörungstheorien reduzieren die Unsicherheit»
Was macht denn solche Ansätze derzeit so attraktiv?
Verschwörungstheorien geben einfache Antworten und benennen Schuldige. Wir sehen, wie die wissenschaftliche Forschung täglich Fortschritte macht. Aber die Forscher sind sich nicht immer einig, und ihre Resultate präsentieren sie oft in einer schwer verständlichen Fachsprache. Und auf dieser Basis erlassen die Behörden dann Massnahmen, die sich immer wieder ändern – und nicht immer ist ersichtlich, warum genau einzelne Massnahmen erlassen werden. Die Behörden sind hier nicht zu beneiden, finde ich. Verschwörungstheorien reduzieren die Unsicherheit.
Wie begegnet man Menschen, die solche Theorien vertreten? Was bringen nüchterne Argumente und Repliken?
Zur Person
zVg
Der Psychologe Dieter Sträuli hat sich mit modernen Mythen wie UFOs, Verschwörungstheorien und Parawissenschaften beschäftigt. Er ist Präsident der Sektenberatungsstelle Infosekta.
Ich finde, man muss irrationale Theorien unablässig aufdecken und kritisieren. Da muss man ständig daran arbeiten, auch wenn es oft verlorene Liebesmüh ist. Ein Teil des Publikums schwankt noch in seiner Meinung oder nimmt die Sache nicht so ernst, diese Leute kann man mit rationalen Argumenten überzeugen. Und dann gibt es Verschwörungstheoretiker, die solche Theorien in Umlauf bringen und sich um sie versammeln. Die sind resistent gegen Argumente. Denn diese Theorien interagieren mit einer grundsätzlichen Haltung im Unbewussten, mit einem Glauben an eine mächtige und bösartige Autorität. Jede Verschwörungstheorie ist für sie plausibel, wenn sie diese innere Haltung aktiviert. Der Verschwörungstheoretiker spürt ja in seinem Inneren, dass er recht hat.
«Verschwörungstheoretiker haben ein einfaches Deutungsmuster: Wir sind Opfer, die anderen Täter»
Und wie schliessen diese Theorien an tatsächliche Probleme an?
Es ist so, dass man in so einer Situation wie jetzt den Behörden sehr gut auf die Finger schauen muss. Man sieht es in den USA bei Donald Trump: Der sagt aktuell «Ich kann alles befehlen» – was so einfach nicht stimmt.
Wir haben in der Schweiz eine der bestfunktionierenden Demokratien der Welt, aber trotzdem läuft auch hier nicht alles rund. Aber wir haben ja noch andere Akteure, die Gegensteuer geben – beispielsweise die Wirtschaft, die nun fordert, die Einschränkungen so weit wie möglich zurückzufahren. So entsteht eine Balance verschiedener Machtzentren.
Das Coronavirus hat die Welt im Griff: Menschen sollen in ihren Wohnungen bleiben, teils werden Ausgangssperren verhängt. Die Folge: Leere überall. So menschenleer und autofrei ist die Strasse des 17. Juni am Brandenburger Tor in Berlin selten.
Bild: Keystone/dpa/Carsten Koall
Auf den Arroyo Seco Parkway in Los Angeles verirrt sich dieser Tage kaum noch ein Auto.
Bild: Keystone/AP Photo/Mark J. Terrill
Wer schon einmal in London war, kann sich kaum vorstellen, dass sich auf der Westminster Bridge keine Touristen drängen. Doch lediglich ein Bus ist auf der berühmten Brücke mit Blick auf das London Eye zu sehen.
Bild: Keystone/AP Photo/Frank Augstein
Vor dem Gateway to India in Mumbai drängen sich an normalen Tagen Einheimische und Touristen. Doch von «normal» kann aktuell an keinem Ort der Welt die Rede sein.
Bild: Keystone/AP Photo/Rajanish Kakade
Auf den Strassen von Kuwait City ist weit und breit kein Auto zu sehen.
Bild: Keystone/epa/Noufal Ibrahim
An der Klagemauer in Jerusalem trifft man sonst auf viele Gläubige. Doch auch Israel ist fest im Griff der Coronakrise.
Bild: Keystone/Epa/Abir Sultan
Lediglich wenige Jogger und Radfahrer ziehen ihre Kreise auf der National Mall in Washington, D.C.
Bild: Keystone/AP Photo/Andrew Harnik
Bilder, die sich auf der ganzen Welt ähneln: Statt vor Touristenmassen zu flüchten haben Tauben nun die Plätze für sich, so auch in Paris.
Bild: Keystone/AP Photo/Thibault Camus)
Die Champs Elysee in Paris ohne Stau, stattdessen lediglich zwei Ordnungshüter der berittenen Polizei auf einer der berühmtesten Strassen der Welt.
Bild: Keystone/AP Photo/Christophe Ena
Strassenmusiker Ron Sinclair spielt auf dem völlig vereinsamten Hollywood Boulevard in Los Angeles.
Bild: Keystone/AP Photo/Chris Pizzello
Lediglich ein Tuk-Tuk ist vor dem Grossen Palast in Thailands Hauptstadt Bangkok zu sehen.
Bild: Keystone/epa/Rungroj Yongrit
Ein Muss für Touristen in San Francisco ist Fisherman's Wharf. Doch auch hier ist derzeit keine Menschenseele zu sehen.
Bild: Keystone/AP Photo/Jeff Chiu
Auch in Moskau sind die Menschen seit Kurzem angehalten, in ihren Wohnungen zu bleiben. Das führt unter anderem zu einem völlig vereinsamten Roten Platz.
Bild: Keystone/AP Photo/Pavel Golovkin
Leere auch in den Strassen von Istanbul mit Blick auf den Galataturm.
Bild: Keystone/epa/Erdem Sahin
Auf die berühmte Karlsbrücke in Prag hat sich nur ein einzelner Passant verirrt.
Bild: Keystone
Ein einsamer Imbissstand in der Nähe des berühmten Times Square in New York zeigt, dass das Coronavirus auch die USA voll und ganz einnimmt. Wo sich sonst Touristen drängeln und Autos in Staus stehen, herrscht gähnende Leere.
Bild: Keystone
Eine Strasse im Schatten der grossen Notre Dame Kathedrale in Paris zeigt, dass in Frankreich die Menschen in ihren Häusern bleiben.
Bild: Keystone
Selbst im berühmten Amüsierviertel auf der Reeperbahn in Hamburg ist es menschenleer.
Bild: Keystone
Normalerweise stehen hier die Menschen Schlange, um sich das Kolosseum anzuschauen. Doch auch in Rom sind die Menschen angehalten, nicht aus dem Haus zu gehen.
Bild: Keystone
Um am Trevibrunnen in Rom eine Münze ins Wasser werfen zu können, muss man sich sonst zwischen Leuten hindurch drängeln. Aktuell findet man keine Menschenseele an der Touristenattraktion.
Bild: Keystone
Auch in Bern sind die Strassen inzwischen leer und verwaist.
Bild: Keystone
In Bayern wurden Ausgangsbeschränkungen verhängt – die Folgen sind leere Strassen und Plätze, so wie hier am Marienplatz zu sehen.
Bild: Keystone
Auf der berühmten Strasse «La Rambla» in Barcelona drängen sich das ganze Jahr über Touristen. Nun haben die Tauben die Einkaufsmeile für sich allein.
Bild: Keystone
Lediglich ein einzelner Velofahrer ist noch auf dieser Strasse in Wien unterwegs. Auch in Österreich gelten massive Einschränkungen im öffentlichen Leben.
Bild: Keystone
Die Ulica Piotrkowska im polnischen Lodz ist eine der längsten Einkaufsstrassen Europas. Doch an einen Shoppingbummel denkt hier aktuell niemand mehr.
Bild: Keystone
Wer sind denn die Leute, die hinter Verschwörungstheorien stehen?
Verschwörungstheoretiker haben ein einfaches Deutungsmuster: Wir sind Opfer, die anderen Täter. Der einzelne hat möglicherweise eine misstrauische Grundstimmung gegen Autoritäten. Das liegt oft in den Biografien begründet, beispielsweise mit einem Elternhaus, das Kinder dazu anhält, sich nur ja nicht unterdrücken zu lassen. Oder das sie derart verwöhnt, dass sie Einschränkungen wie die jetzt geltenden als Verunglimpfung ihrer Person erleben.
Die derzeitige Koalition verbindet Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen. Hat sie eine Zukunft?
Das ist schwer zu sagen. Die gegenwärtige Situation hat verschiedenste Protestbewegungen ins gleiche Boot geholt. Nun gelten in der Schweiz seit Anfang Woche etliche Erleichterungen, damit dürften einige Leute wieder von diesen Gruppen wegbrechen, weil der Druck auf sie abnimmt. Und die treibenden Kräfte, die einzelnen Verschwörungstheoretiker, sind sehr individualistisch gesinnt – es ist nicht anzunehmen, dass es ihnen beispielsweise gelingt, eine gemeinsame Partei zu gründen.
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