Emotionales Essen Warum fehlende Alltagsstruktur auch kilomässig zusetzt

Von Sulamith Ehrensperger

9.4.2020

Eine Menüplanung bei der Arbeit im Homeoffice kann helfen, zusätzliche Kilos zu vermeiden.
Eine Menüplanung bei der Arbeit im Homeoffice kann helfen, zusätzliche Kilos zu vermeiden.
Bild: Getty Images

Zu viel Schoggi, Pizza und Kaffee: Auch unsere Essgewohnheiten sind mit Corona aus den Fugen geraten. Wie nehme ich trotz Homeoffice und Ängsten nicht zu? Antworten von Ernährungsberaterin Diana Studerus. 

Frau Studerus, wie geht es Ihnen als Ernährungsprofi im Homeoffice mit kleinem Kind?

Es ist der ganz normale Wahnsinn. Ich glaube, es ist so, wie es alle erleben. Während meiner Videoberatungen sitzen manchmal die Kinder bei den Eltern auf dem Schoss und plappern mit – im ganzen Chaos gibt es also immer wieder schöne, menschliche  Momente.

Quengelnde Kinder, berufliche Gespräche und nebenbei noch Kochen … –wie gerät die Ernährung zu Corona-Zeiten nicht aus den Fugen?

Ohne Menüplanung geht es zurzeit nicht. Ich weiss, es ist wenig attraktiv, sein Essen vorauszuplanen. Doch erleichtert es die Umsetzung, weil wir uns im Kopf schon mal damit auseinandergesetzt haben. Derzeit drehen sich die meisten Fragen in meinen Beratungen um Menüplanung, Wochenpläne, Einkaufslisten – und wie lange Reste geniessbar sind. Alles Fragen, die sonst stiefmütterlich behandelt werden, auch weil sonst die Zeit fehlt, sich damit auseinanderzusetzen.

Wenig Bewegung, Langeweile, Stress oder sogar Angst: Das alles sind Gründe, die unser Essverhalten derzeit auf die Probe stellen.

Das ist so, vor allem das Dauersnacken ist für viele zurzeit ein schwieriges Thema. Das Problem ist hier die fehlende Struktur. In unserem Alltag ist Pausen machen häufig mit Essen und Trinken verbunden. Schon als Kind lernen wir, dass es Znüni- oder Zvieripausen gibt. Diese Rituale tragen uns auch als Erwachsene durch den Arbeitsalltag. Im Homeoffice müssen wir uns diese Struktur selber geben – und das ist unglaublich anstrengend.

«Ich weiss, es ist wenig attraktiv, sein Essen vorauszuplanen», sagt Ernährungsberaterin Diana Studerus. Mit ihrer Firma «Food on Record» berät sie Menschen zum Thema Ernährung.
«Ich weiss, es ist wenig attraktiv, sein Essen vorauszuplanen», sagt Ernährungsberaterin Diana Studerus. Mit ihrer Firma «Food on Record» berät sie Menschen zum Thema Ernährung.
Bild: zVg

Das heisst: Bestenfalls im Homeoffice nicht nur die Arbeit planen, sondern auch die Pausen?

Viele empfinden es als hilfreich, auch die Snacks gezielt einzuplanen. Die Guetzli also bewusst zur Kaffeepause – und nicht während dem Mail schreiben. Ich höre oft, dass die Leute Grosseinkäufe machen, dann aber nach zwei Tagen schon die ganze Schoggi verputzt haben. Wem Dauersnacken Kopfzerbrechen macht, dem empfehle ich, zurzeit die Verlockungen nicht mehr zu kaufen – oder in kleineren Mengen.

Was beobachten Sie, nehmen die Leute im Homeoffice wirklich zu oder ist es vielleicht mehr die Angst vor dem Zunehmen?

Ich habe Patienten, denen diese Strukturlosigkeit auch kilomässig zusetzt – so zwei, drei Kilos mehr. Manche sagen aber auch, dass sie endlich so essen können, wie sie wollen, weil alle Geschäftsessen und Einladungen wegfallen.

Inwiefern spiegelt unser Essverhalten unsere Emotionen wieder – und reguliert diese?

Das Essverhalten ist unglaublich komplex. Auf der seelischen Ebene spielen Lernprozesse eine wesentliche Rolle. Ein Baby, das weint, wird in den Arm genommen – und meistens bekommt es dann Milch. Wir lernen also ganz früh, dass wir bei Unwohlsein – Babys können anfänglich nicht zwischen Hunger und Schmerz unterscheiden –, etwas Süsses, Warmes bekommen. Auf Emotionen mit Essen zu reagieren, ist also ein gelernter seelischer Prozess! Dem muss man aber nicht blind folgen – es soll keine Entschuldigung sein, um bei jedem unguten Gefühl gleich eine Tafel Schokolade zu naschen. Ich glaube aber, es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken, wenn man die Tendenz zu solchen Verhaltensmustern hat. Vielleicht können wir diesen Gefühlen auch anders begegnen als mit Essen ...

Was kann uns noch zu ungesundem Essverhalten verleiten?

Auch unsere Gedanken und Überzeugungen spielen eine Rolle, also das, was unsere Person ausmacht, widerspiegelt sich im Essverhalten. Die Überzeugung etwa, dass ein gutes Essen Fleisch enthalten muss oder dass Gluten für alle pures Gift sei. Aber auch körperliche Aspekte sind wichtig: Wenn man den ganzen Tag nichts isst, ist es nur logisch – und zwar bio-logisch – dass irgendwann der Heisshunger kommt. Unser Appetitzentrum dreht – vereinfacht gesagt – dann ein bisschen durch, weil der Körper Energie braucht.



Das HIIT-Training fehlt, die Velofahrt zum Arbeitsort fällt weg. Was ändert sich in der Ernährungsweise, wenn wir im Homeoffice leben?

Grob geschätzt sind es wahrscheinlich zwischen 200 bis 600 Kalorien pro Tag weniger, je nachdem wie viel man sich sonst bewegt. Also etwa eine halbe bis ganze Tafel Schokolade. Die fehlende Bewegung könnte man vielleicht mit einem längeren Spaziergang am Wochenende, mit mehr Hausarbeit, einem Home-Workout oder längeren Esspausen abfedern. Extreme Ansätze, wie nur noch Gemüse essen, keine Kohlenhydrate oder Saftkuren sind nicht sinnvoll. Wir sind doch schon genug beschäftigt mit anderem.

Wer nicht kochen kann oder oft unterwegs ist, isst wohl vorwiegend im Restaurant, Fertigprodukte oder Take-Away-Gerichte. Was also, wenn es mit den eigenen Kochkünsten nicht so weit her ist?

Dort braucht es umso mehr einen Plan, der Mahlzeiten berücksichtigt, die möglichst wenig Aufwand machen. Ein vorgerüsteter Salat, Tiefkühlgemüse oder auch mal einen vorgekochten Reis im Beutel sind im Handumdrehen zubereitet. Die Eiweissbeilagen braucht man meist nur kurz anzubraten – beispielsweise ein Plätzli, Tofu oder Eier. Zur Not können auch Fertigrösti oder Hülsenfrüchte aus der Dose die Basis einer Mahlzeit bilden. Kreativität ist hier gefragt.

Was tun, wenn der Heisshunger trotzdem kommt?

Dann nimm dir das, wozu du Lust hast, lege es vor dich auf den Tisch und überlege dies: Wie viel von dem brauche ich jetzt, damit der Heisshunger verschwindet? Muss es das ganze Päckli sein, brauche ich nur einen Biss? Bevor diese Frage beantwortet ist, nicht mit Essen beginnen. Wenn ich dies mit mir verhandelt habe, dann den Snack so geniessen wie ein gutes Glas Wein. Ganz bewusst – und nicht nebenbei noch Mails lesen. Das Wesentliche ist doch, eine Mahlzeit zu beenden – egal was gegessen wurde – mit dem Gefühl «jetzt ist es gut». 

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