«Tatort»-Check Wohlstandsverwahrlosung, eine Schweizer «Entdeckung»

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16.5.2021

Der Vater – ein erfolgreicher Arzt. Man lebt in einer Villa, die mit tollsten Spielgeräten vollgestopft ist. Trotzdem wurde der fünfjährige Mike im Franken-«Tatort» so vernachlässigt, dass er alleine in den Wald oder zu Fremden flüchtete. Wie erkennt man solche tragischen Fälle rechtzeitig?

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Die Vernachlässigung von Kindern, die in prekären Verhältnissen aufwachsen, scheint man leicht erkennen zu können. Doch wie ist es mit der sogenannten «Vernachlässigung auf hohem Niveau» – also in Familien, wo eigentlich ausreichend Geld, Zeit und Bildung vorhanden wäre?

Der «Tatort: Wo ist Mike» mit den fränkischen Ermittlern Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) und Felix Voss (Fabian Hinrichs) erzählte von einem getrennt lebenden Ehepaar (Linda Pöppel, Andreas Pietschmann), das gar nicht bemerkte, wie ihr fünfjähriger Sohn vor einigen Tagen verschwand. Jeder dachte, der Junge sei beim jeweils anderen. Auch wenn die Story pointiert war, Vernachlässigung von Kindern unter wohlhabenden Eltern ist nicht selten.

Gibt es Signale, die deren emotionale Notlage erkennen lässt? Wer spielte den unsympathischen Wüterich-Vater? Und warum sah man eigentlich so wenig vom wunderschönen Bamberg?

Worum ging es?

«Wo ist Mike?» beginnt mit drei Handlungssträngen, die später zusammengeführt werden. Da ist der jugendliche Träumer und Ausreisser Titus (Simon Frühwirth), der offensichtlich Angst hat – und dessen Flucht nackt auf einem mittelalterlichen Platz in Bamberg endet. Parallel wird der fünfjährige Mike vermisst, ebenfalls in Bamberg. Seine getrennt lebenden Eltern (Linda Pöppel, Andreas Pietschmann) bemerken erst nach drei Tagen, dass ihr Sohn weg ist. Man dachte, das Kind sei beim jeweils anderen.



Indes wacht Kommissarin Paula Ringelhahn im Bett des liebevollen Lehrers Rolf Glawogger (Sylvester Groth) auf, der nicht weit entfernt vom Designerhaus von Mikes Vater wohnt. Als die Ermittler herausfinden, dass er von zwei Schülern der sexuellen Belästigung beschuldigt wird, beginnt für Paula ein persönlicher Albtraum: Kann es sein, dass Rolf etwas mit Mikes Verschwinden zu tun hat?

Worum ging es wirklich?

Wie fast schon üblich war auch dieser Franken-«Tatort» wieder mal überaus klug und philosophisch ambitioniert gebaut. Die drei Geschichten rund um ein vernachlässigtes Kind, einen Jugendlichen mit Psychose sowie eine Kommissarin, die sich die Frage stellte, ob sie sich in einen Kinderschänder und Mörder verliebt hatte, wurde von einer grossen Frage zusammengehalten: Welchen Täuschungen unterliegt unsere Wahrnehmung? Gerade dann, wenn wir lieben oder – das andere Extrem – jegliche Liebe in unserem Leben fehlt?

Der kleine Junge musste sich das Gefühl der Geborgenheit bei Fremden holen, der psychisch Kranke Jugendliche bei einer ausgedachten Freundin. Und die Kommissarin? Bei ihr wäre echte Liebe möglich gewesen, wenn ihr die professionelle Skepsis nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Irgendwie tragisch, das Ganze ...

Wie «funktioniert» Wohlstandsverwahrlosung?

Die Schweizer Psychologin Ulrike Zöllner machte das Thema Wohlstandsverwahrlosung 1997 mit ihrem Buch «Die armen Kinder der Reichen» populär. Der Begriff benennt Kinder und Jugendliche, die materiell überversorgt, emotional jedoch unterversorgt sind. Eltern lassen solchen Kindern zu wenig Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung zukommen. Auch die sogenannte «Erziehung ohne Grenzen» spielt dabei eine Rolle. Erziehung erfordert Engagement, das diese Eltern nicht aufbringen (können). Ihr schlechtes Gewissen kaschieren sie dabei mit grossen Geschenken sowie vielfältigen Betreuungs- und Förderangeboten.

Oft sehen solche Familien nach aussen intakt aus. Kennzeichen wohlstandsverwahrloster Kinder gibt es viele: Essstörungen, Drogenkonsum, Kauf- oder Online-Sucht. Psychische Störungen wie Depressionen, Ängste und ADHS sind ebenfalls keine Seltenheit. Bei kleineren Kindern zeigt sich das emotionale Defizit in erster Linie über eine verzögerte Sprachentwicklung – für die es allerdings auch andere Ursachen geben kann.

Wer spielte den schlimmen Vater?

Dank seines jugendlichen Sunny-Beau-Looks verkörperte Schauspieler Andreas Pietschmann lange Zeit Actionhelden oder Liebhaber. Der Mann von Schauspielerin und Sängerin Jasmin Tabatabai, mit der er zwei gemeinsame und ein drittes Kind aus einer früheren Beziehung seiner Partnerin hat, ist im übrigen echter Franke. Was dem in Berlin lebenden Schauspieler die Möglichkeit gibt, im «Tatort» mal wieder heimischen Dialekt zu sprechen. Pietschmann, der in Bochum Schauspiel studierte und lange an renommierten Theatern arbeitete, wurde durch die SAT.1-Actionserie «GSG9» bekannt.



Von 2017 bis 2020 war er in der Netflix-Serie «Dark» in der Rolle des «Strangers» zu sehen. Eigentlich wollte Pietschmann mal Profifussballer werden. Der 1969 in Würzburg geborene Schauspieler gehörte zu den hoffnungsvollsten Talenten seines Heimatvereins Würzburger Kickers. Mit seinem Freund Bernd Hollerbach spielte er in jungen Jahren immerhin Dritte Liga. Hollerbach wurde später Mannschaftskapitän des Hamburger Sportvereins.

Warum sieht man so wenig vom schönen Bamberg?

Das bayerische Bamberg gilt als eine der schönsten mittelalterlichen Städte Deutschlands, doch der «Tatort» bildet das kaum ab. In erster Linie ist die Bildauswahl natürlich Sache des Regisseurs Andreas Kleinert, der erzählerisch andere Schwerpunkte als die Schönheit der Stadt setzen wollte – es gab ja auch viel zu erzählen in knapp 90 Minuten. Allerdings sass auch die Corona-Pandemie mit auf dem Regiestuhl. Die Dreharbeiten, die vom 3. bis 19. März angefangen hatten und vom 17. bis 28. November 2020 zu Ende gebracht wurden, mussten den Sommer auslassen, damit die jahreszeitlichen Bildanschlüsse funktionierten. Auch das Drehbuch musste verändert und «entvölkert» werden. So fiel zum Beispiel eine Pausenszene auf dem Schulhof mit mehr als 100 Schülern den Corona-Bestimmungen zum Opfer.

Wer den ersten «Tatort» sehen will, bei dem Ermittler, Verdächtige und Co. Masken tragen und tatsächlich die Pandemie-Realität filmisch anerkannt wird, darf sich auf den Berliner Fall «Die dritte Haut» freuen. Der letzte «Tatort» vor der Sommerpause wird am Sonntag, 6. Juni, ausgestrahlt.