Mutter und Sängerin schlägt Alarm Sophie Hunger: «Ich merkte, wie schlecht hier die Strukturen sind»

Von Marjorie Kublun

31.8.2023

«Dem Ständerat würde es gut stehen, wenn dessen Mitglieder der jüngeren Generation ein bisschen mehr Achtung entgegenbringen könnten»: Sophie Hunger.
«Dem Ständerat würde es gut stehen, wenn dessen Mitglieder der jüngeren Generation ein bisschen mehr Achtung entgegenbringen könnten»: Sophie Hunger.
Keystone

Seit sie selbst Mutter ist, hat sich für Sophie Hunger viel verändert. Die strukturellen Probleme, etwa die hohen Betreuungskosten für Kitas, ärgern sie. Die Sängerin fordert eine Entlastung.

Von Marjorie Kublun

31.8.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Sophie Hunger ist vor einem Jahr zum ersten Mal Mutter geworden.
  • Die Schweizerin hat auf Instagram einen Post zum Thema Kinderbetreuung in der Schweiz publiziert.
  • Sie kritisiert unter anderem die hohen Kosten für Krippen und spricht von einem «realen strukturellen Absturz».
  • In ihrem Instagram-Post bittet sie, die Petition von Alliance F für bessere Bedingungen zu unterschreiben.

Sophie Hunger, was hat sich für Sie konkret verändert, seit Sie Mutter sind?

Ich habe 15 Kilo zugenommmen, kann richtig gut pürieren und weiss zum ersten Mal, was ein 16-Stunden-Tag ohne Pause ist. Arbeiten ist nichts dagegen.

Warum haben Sie entschieden, einen Post zum Thema Kinderbetreuung in der Schweiz und den Problemen, die damit einhergehen, auf Instagram zu publizieren?

Weil wir gerade den Penalty verschiessen. In der Schweiz verschlingt die monatliche Rechnung für die Kinderkrippe durchschnittlich 35 Prozent des Einkommens – in keinem anderen Land der Welt müssen Eltern einen so grossen Teil ihres Lohnes für die familienergänzende Kinderbetreuung opfern. Der Nationalrat hat im Frühjahr vorbildlich gehandelt, ein tolles Gesetz erarbeitet, daran wurde drei Jahre getüftelt, parteiübergreifend. Die Eltern sollten bei den Kitakosten vom Bund zu 20 Prozent entlastet werden. Und jetzt kommt das völlig sinnlose Drama: Was macht kurz vor Torschuss der Ständerat? Grätscht rein und beerdigt das Ganze ohne Not. Eifersucht? Wichtigtuerei? Wahlkampf? Einerlei, wir müssen jetzt Druck machen und sie unbedingt umstimmen! Wir müssen ihnen zeigen, dass es uns gibt! Dafür gibt es eine Petition, ich bitte alle, sie zu unterschreiben. 

Von wem und was haben Sie für Rückmeldungen erhalten? 

Die meisten Leute, die mir folgen, sind jünger als die Vertreter des Ständerates. Sie sind genau in der Phase ihres Lebens, wo sie Familien gründen, gegründet haben oder gründen wollen. Es ist dieselbe Generation, die keine bezahlbare Wohnung findet, deren Krankenkassenprämien explodieren und die trotzdem malochen wie die Weltmeister, um die Renten der Älteren zu finanzieren. Und da wären wir schon mitten im Thema: Familiengründungen sind die Grundbedingung für das Funktionieren unseres Staates. Es ist keine Privatsache, wie einfach oder eben leidvoll das über die Bühne geht. 

«Hier beginnt der strukturelle Absturz. Es ist real. Es ist kein Witz.»

Hat Ihr Post schon etwas angestupst?

Ja, ich denke, wir sind jetzt nach zwei Tagen bei 5000 Unterzeichnerinnen. Dies, wohlgemerkt, ohne Budget und auf Initiative einer Handvoll Leute rund um die Alliance F, Dachverband aller Frauenverbände. Die Gegner haben Geld, Macht und Hockeystadien, wir dafür unsere Stimmen, gute Musik und die Babys an Bord.

Sie schreiben, dass Sie wieder arbeiten müssten. Warum ist dies bisher nicht möglich gewesen?

Nun, man kann mit einem Baby im Arm vieles tun, aber nicht arbeiten. Es braucht eine 24-Stunden-Betreuung, weil es sonst stirbt. Ich kann dem Baby nicht sagen: «Leg dich bitte mal drei Stunden da hin und spiel eine Partie Slow-Motion-Schach gegen dich selbst, bitte.» Wenn es leicht wäre, auf Babys aufzupassen, dann würden alle mächtigen Menschen auf der Welt ein Monopol im Babysitten errichten.

Wie haben Sie realisiert, dass es Müttern und Familien generell in der Schweiz bezüglich Betreuung so schwer gemacht wird?

Ganz banal: Als ich selbst in die Situation kam. Ich lebte vorher in Berlin, dort sind Kitas seit vielen Jahrzehnten normal und kostenlos. Als ich in die Schweiz zurückkam und Mutter wurde, dauerte es nicht lange, bis ich merkte, wie schlecht hier die Strukturen sind. In meiner Gemeinde gibt es zum Beispiel gar keine Kita. Das führt schnurstracks zur Situation, dass ich nicht wieder arbeiten kann und dadurch auch nichts mehr verdiene. Aber da ich in fetten Jahren gespart habe, kann ich ausnahmsweise warten. Aber was ist mit allen anderen? Genau hier beginnt der so oft beschworene strukturelle Absturz. Es ist real. Es ist kein Witz.

Diese Situation bringt weder für die Familien noch für die Gemeinden irgendwelche Vorteile. Aus wirtschaftlicher Sicht handelt es sich um eine klassische «Lose-lose-Situation». In der Schweiz herrscht ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und die Mütter, die wir ausgebildet haben, werden nach der Geburt eines Kindes wieder nach Hause geschickt. Sinnlos?

Mit welchen Schwierigkeiten sehen Sie sich noch konfrontiert?

Hand-Fuss-Mund mit Nägelausfall? (Anm. d. Red.: eine durch Viren ausgelöste Krankheit, die vorwiegend Kinder unter 10 Jahren betrifft.)

Ist es immer noch schwer, eine berufstätige Mutter zu sein?

Wenn es leicht wäre, hätten wir das Problem der Unterrepräsentation von Frauen im Berufsalltag und vor allem in Kaderfunktionen nicht.

Wenn es leicht wäre, würden euch alle Frauen in der Schweiz locker drei Kinder zaubern. Wenn es leicht wäre, gäbe es für die Frauen keine Rentenabstriche, keine Altersarmut. Wenn es leicht wäre, würde uns allen vor lauter Glück nachts die Sonne aus den Ohren strahlen. Wenn es leicht wäre, würden alle Mütter herumkreisen wie olympische Synchronschwimmerinnen mit dem Leuchten einer Taylor Swift.

Wie lange hatten Sie geplant, nach der Geburt Ihres Kindes zu Hause zu bleiben?

Sechs Monate zu Hause, danach 40 Prozent arbeiten, nach einem Jahr 60 Prozent. Meine Ansprüche sind bescheiden.

Wie sieht nun Ihre Planung aus?

Ich warte und versuche Unterschriften für die Petition zu sammeln. Wir müssen es schaffen, dass der Ständerat sich umstimmen lässt. Nur weil das Gesetz vom Nationalrat kommt, kann man es trotzdem durchwinken. Da fällt doch niemandem ein Zacken aus der Krone. Dem Ständerat würde es gut stehen, wenn dessen Mitglieder der jüngeren Generation ein bisschen mehr Achtung entgegenbringen könnten. Meine Herren, reisst euch zusammen.

Es den Eltern leichter machen, auch Ehrensache

Ist die Schweiz nur für kinderlose Arbeitnehmende letzten Endes finanziell reizvoll?

Sagen wir es so: Die sogenannte Mittelschicht, die Kinder kriegt, beisst im Moment in ein Arsenal an sauren Äpfeln.

Denken Sie, dass die teuren Krippenpreise Eltern davon abhalten, weitere Kinder zu bekommen?

Ich glaube nicht, dass sich der Gedankengang so konkret entwickelt, aber wenn man immer müde ist und Ende Monat nichts übrig bleibt, einem im Spiegel eine Wasserleiche entgegenblinzelt, dann hat man sicher keine Lust auf Expansion. Und überhaupt sind wir so ein reiches Land, subventionieren alle möglichen Kuriositäten, es den Eltern leichter zu machen, ihnen Flügel zu verleihen, wäre doch Ehrensache, oder nicht?

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit die Schweiz für Eltern mit Kindern arbeitsfreundlicher wird?

Besserer Kita-Ausbau mit guter Qualität, tiefere Kosten, längere Elternzeit. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist keine Utopie. Es wird bereits in beneidenswert erfolgreichen Staaten praktiziert, siehe Skandinavien. Es ist lächerlich, so zu tun, als wäre das Quantenphysik.

Der Nationalrat wünscht, dass der Bund künftig 20 Prozent der Krippenkosten von berufstätigen Eltern übernimmt. Wäre dies schon eine ausreichende Entlastung oder müsste noch mehr passieren?

Es wäre eine sehr grosse Erleichterung, ein bisschen wie der isotonische Getränkestand am Marathon bei Kilometer 30.

Was sagen Sie Leuten, die behaupten, Kinder seien «Privatsache»?

Ganz falsch. Kinder sind die Grundvoraussetzung für das Funktionieren unseres Systems! Was Privatsache ist, ist eine rein politische Willensfrage.

In meinen Augen ist zum Beispiel die Rettung von Privatbanken auch keine Staatsaufgabe – genauso wenig wie das Schweinehalten. Ich gönne den Bauern ihren von jeder Kostenwahrheit befreiten Spass, finde aber, die Familien haben dann die staatliche Unterstützung genauso verdient. Jedem seine Schweinchen.

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