Teenager als Influencer «Es mag glamourös und nach schnellem Geld aussehen, aber ...»

Von Marlène von Arx

2.11.2022

Social-Media-Druck, Depressionen, Isolation? Wie schlecht geht es unseren Teenagern wirklich? Die beiden Dokumentarfilme «Girl Gang» und «Anxious Nation» haben sich unter Jugendlichen umgehört.

Von Marlène von Arx

Leonie hat geschafft, wovon viele Teenager träumen: Die Berlinerin ist Influencerin mit 1,6 Millionen Followern auf Instagram. Firmen überhäufen sie mit Klamotten, Schminke und Turnschuhen. Von ihren treuen Fans wird sie vergöttert wie ein Popstar.

Näher betrachtet, ist ihr Leben aber alles andere als ein Ponyhof. Das geht aus dem Dokumentarfilm «Girl Gang» von Susanne Regina Meures («Raving Iran», «Saudi Runaway») deutlich hervor.

Vier Jahre hat die Filmemacherin aus Zürich den Teenstar mit der Kamera begleitet. «Es mag von aussen glamourös und nach schnellem Geld aussehen, aber ich kann besorgte Eltern beruhigen: So einfach wird man nicht Influencerin», bestätigt Meures.

«Es ist kein Job, den man einfach mal annimmt, sondern man muss ihn sich sehr hart erarbeiten.» Bei Leonie sollen daneben auch noch die Schule, die Freundinnen und dreimal die Woche Fussball Platz haben.

Vor- und Nachteile des Influencens

Ihr Leben authentisch mit Fotos und Video-Clips an die Massen zu bringen, ist herausfordernd – und hat sowohl Vor- wie Nachteile. «Einerseits gibt es all die Events und Reisen, die Leonie eine aussergewöhnliche Jugend bescherten, andererseits muss sie sich auch mit viel Kritik und zum Teil Hass im Netz auseinandersetzen», weiss die Regisseurin.

Es wird schnell klar: Leonie braucht Unterstützung. Die Eltern suchen Manager und Agenturen, aber schliesslich war da niemand, dem sie die 14-jährige Tochter auf Dauer anvertrauen wollten.

So übernehmen sie selber das Management. Ein Rezept für Reibereien. In diesem Fall ein guter Entscheid trotz des Konfliktpotenzials, findet Susanne Regina Meures: «Wenn Leonie von den Eltern erinnert werden muss, dass ein Post zum Hochladen ansteht, ist das in Ansätzen so, als wenn man sich für Klavierspielen entschieden hat und zum Üben ermuntert werden muss. Man setzt sich ja nicht jedes Mal mit der gleichen Euphorie an die Tasten.»

Mit über 160 Mädchen aus der Region Berlin hat die Dok-Filmerin 2017 gesprochen. Sie wollte wissen, was Mädchen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren beschäftigt und wie sie ticken.

Kein erhobener Zeigefinger

Meures' Wahl fiel schliesslich auf Leonie für den Film, die damals vierzehn war, 500'000 Followers und grosse Ambitionen hatte: «Ich wusste, da wird etwas passieren. Entweder hört sie auf oder wird ein Star. Dabei war mir wichtig, dass der Film nicht mit dem erhobenen Zeigefinger unterwegs ist. Ich überlasse die Reflexion des Zeitgeists dem Publikum.»

Während Leonie zum Star wird, sitzt auf der anderen Seite des Handy-Screens ihr Super-Fan Melanie, die sich in der wirklichen Welt unverstanden fühlt und stundenlang durch ihren Feed scrollt. Melanie geht in Leonies Scheinwelt auf – und macht die ganze emotionale Bandbreite von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt mit.

«Teen-Melancholie», nennt Susanne Meures das: «Sie hatte Probleme, Freunde mit gleichen Interessen. Diese fand sie über ein, zwei Jahre in der Online-Community, was positiv für sie war.» Inzwischen habe sie neue Interessen und weniger Zeit für Leonie. Social Media nutze Melanie heute kaum mehr. «Dieser Kulturpessimismus, dass uns Social Media nur in den Abgrund treibt, stimmt so also nicht.»

Gleiches Thema in den USA

Leidet die Generation Z also nur an pubertärem Weltschmerz oder steckt da doch mehr dahinter? Jenseits des Atlantiks richten Laura Morton und Vanessa Roth, die Co-Regisseurinnen des Dokumentarfilms «Anxious Nation», ihre Kamera auf die Befindlichkeit der Jugend und schlagen Alarm.

«Social Media ist ein Aspekt einer schwierigen Welt, in der unsere Kinder leben und die für uns Eltern neu ist. Es fehlt uns diesbezüglich das Werkzeug, unseren Kindern zu helfen», so Vanessa Roth.

Laura Morton, deren Tochter Sevey die Inspiration für den Film ist, fordert deshalb, dass man die psychische Gesundheit gleich wie die physische behandelt: «In den USA werden nur 5 Prozent der Gesundheitskosten für die Psyche ausgegeben, da besteht grosser Aufholbedarf. Zudem werden psychische Probleme kriminalisiert: Wenn man auf der Strasse eine Herzattacke erleidet, kommt der Krankenwagen. Wenn man einen psychischen Anfall hat, kommt die Polizei.» Die grösste psychiatrische Anstalt in den USA gleiche einem Gefängnis.

Die Filmemacherinnen konnten Kathy Ireland als Supporterin gewinnen: «Ich bin seit 25 Jahren im Schulrat, habe selber eine Schule mitgegründet und mache seit 30 Jahren bei Mentor-Programmen auf der ganzen Welt mit», so das ehemalige Model.

«Aber dieses Ausmass an Depression, Angst und Panik unter jungen Leuten wie heute habe ich noch nie erlebt. Ich kenne keine Familie, die nicht davon betroffen ist.» Mit dem Film will das Trio in erster Linie andere Familien darauf hinweisen, dass sie nicht allein sind.

Und es will Social-Media-Firmen mehr in die Verantwortung ziehen: «Wenn man auf TikTok etwas über Depressionen anschaut, füttert einen der Algorithmus mit immer mehr Material zu diesem Thema, was einen negativen Effekt hat», erklärt Morton. «Das müssen die Social-Media-Firmen korrigieren. Als Mutter kann ich bestätigen, dass meine Tochter sich verändert, wenn sie mal eine längere Zeit nicht aufs Handy geschaut hat. Sie ist bedeutend weniger aufgedreht und ruhiger. Langsam wird sie sich dessen selber bewusst und ist vorsichtiger, was sie anschaut.»

Die Pandemie hat den Handlungsbedarf noch weiter beschleunigt: 2021 stieg die Selbstmordrate bei den 15- bis 24-Jährigen in den USA um 8 Prozent. Anfang 2022 warnte Vivek Murthy, Leiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes, vor einer mentalen Gesundheitskrise unter Jugendlichen.

Regelmässige Check-ups nötig?

Im Kongress werden nun zusätzliche psychologische Hilfsdienste – vor allem für Jugendliche – diskutiert. Roth und Morton befürworten mentale Check-ups durch einen Experten beim Kinderarzt oder in der Schule. Laura Morton: «So wie wir das Wachstum, Gewicht und andere Entwicklungsstadien überprüfen lassen, sollten wir auch das emotionale Befinden regelmässig abklären.»

Und wie sieht es in Europa aus? Susanne Meures stellte bei ihren Casting-Gesprächen fest, dass einige der Mädchen in Therapie sind, Psychopharmaka bekommen oder bereits in einer Klinik behandelt wurden.

Ob immer zum Vorteil, wagt sie zu bezweifeln: «Wir tendieren zu einer überpsychologisierten Gesellschaft, aber ich kann mir vorstellen, dass es immer schwieriger wird, zwischen pubertären Hormonschwankungen und einer tatsächlichen Panikattacke zu unterscheiden.»

«Girl Gang» läuft zurzeit im Kino. 


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