Zwei Betroffene berichten aus Wien «Da greift man sich an den Kopf»

Von Stefan Michel und Philipp Dahm

15.11.2021

Lockdown für Ungeimpfte: Protest vor Kanzleramt in Wien

Lockdown für Ungeimpfte: Protest vor Kanzleramt in Wien

Dutzende Menschen protestieren vor dem Kanzleramt in Wien gegen den Lockdown für Ungeimpfte, der seit heute in Österreich gilt. Ungeimpfte dürfen ihre Wohnung jetzt nur noch aus triftigen Gründen verlassen. Viele Demonstranten fühlen sich diskrimi

15.11.2021

Wie geht sich das aus mit der neuen Corona-Welle, die Österreich erfasst hat? Die beiden Betroffenen, die wir befragt haben, reagieren erstaunlich umsichtig.

Von Stefan Michel und Philipp Dahm

Österreich wird quasi überschwemmt von neuen Corona-Fällen: Heute hat unser Nachbarland 22'411 Neuansteckungen vermeldet.

Diese Zahl ist einfacher zu verstehen, wenn man sie ins Verhältnis setzt – wie es etwa die österreichische Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl tut: Wäre die Lage in Deutschland ähnlich, gäbe es dort über 207'000 Fälle. Und wenn man dasselbe Zahlenspiel für die Schweiz macht? Dann hätten wir heute gut 21'600 Neuansteckungen vermelden müssen.

Wie fühlt sich das Leben in Österreich dieser Tage an? blue News hat mit zwei Betroffenen in Wien gesprochen: Den einen nennen wir «Student», den anderen «Gastronom». 

Wie ist die Lage in Wien?

Student: Es ist nicht leerer als sonst. Es war auch während der letzten Ausgangssperre für alle nicht viel leerer. Krass war es, als es noch frisch war – im Frühling 2020 haben die Leute die Massnahmen noch ernst genommen. Auch ich selber: Meine grösste Sorge war «Nicht noch ein Winter mit solchen Massnahmen».

Gastronom: Als am letzten Montag, am 8. November, 2G eingeführt wurde, hatten wir an dem Abend einen Umsatzeinbruch zwischen 50 und 60 Prozent. An den zwei darauffolgenden Tagen lagen wir 20 bis 30 Prozent darunter. Wir als Inhaber müssen mit der schlechtesten Variante rechnen und vielleicht wieder auf Kurzarbeit umstellen. Das Schwierige sind die kurzen Fristen: Ein Tag vorher kriegen wir Bescheid und dann müssen wir uns darauf einstellen.

Student: In meinem Umfeld sind alle geimpft. Die 2G-Regelung betrifft niemanden von ihnen – da ist das kein wahnsinniges Diskussionsthema. Die weiteren Verschärfungen kamen quasi über Nacht: 2G wird gestern verordnet und gilt ab heute. Das funktioniert hier einfach so. Die Regierung ist immer für Überraschungen zu haben. Die Diskussion, ob das sinnvoll ist oder nicht, wird ja jetzt innerhalb der Regierung über die Medien ausgetragen. Da greift man sich an den Kopf, auch wenn man sich daran gewöhnen müsste.

Wie hat die Pandemie Ihr Leben beeinflusst?

Student: Ich bin vor gut zwei Jahren hierhergekommen, um an der TU Wien meinen Master in Raumplanung zu machen, und habe nur ein knappes halbes Jahr Normalbetrieb erlebt. Die letzten drei Semester waren alle mehr oder weniger ganz im Distanzmodus. Im Oktober 2020 war ich etwa dreimal an der Uni – das war's dann. In diesem Semester arbeiten wir im Hybridmodus: Gewisse Dinge finden vor Ort statt, aber der Grossteil ist online. Ich habe auch nicht mehr so viele Lehrveranstaltungen.

Gastronom: Wir sind bis jetzt relativ glimpflich durch die Krise gekommen, auch dank staatlicher Hilfe. Manche Massnahmen haben sehr gut gewirkt, manche eher weniger. Es ist schwer abzuschätzen, wie sich jetzt 2G auswirkt. Wien hat schon im Sommer mit strengeren Regeln angefangen, um die Zahlen zu drücken. Die Begrenzung von vier Gästen pro Tisch hatten wir schon mehrmals. Sie ist ein Umsatz-Killer: Wir sind auf grössere Gästegruppen angewiesen.

Wie viel wird kontrolliert?

Gastronom: Wir kontrollieren seit dem Sommer sehr streng – neben betrieblichen auch aus persönlichen Gründen. Wir haben das Glück, dass unsere Gäste das sehr gut aufnehmen. Es gab bisher wenig Schwierigkeiten mit den strengeren Auflagen. Das wissen die Gäste bereits. Anfangs hatten wir unsere Scheu davor, nach Ausweisen zu fragen: Wir sind ja keine Behörde. Nach einigen Tagen ist es immer noch unangenehm, aber wir sehen es als Notwendigkeit an: Es sind gefälschte Zertifikate im Umlauf. Wir wollen die Ausweise sehen, wir scannen die QR-Codes. Der Grossteil unserer Gäste ist froh, viele kommen deswegen – vor allem ältere Gäste, weil sie wissen, dass wir streng kontrollieren.

Student: Ich bin einkaufen gegangen, aber es hat sich nicht viel geändert. Die vom Gesundheitsminister angestossene Diskussion über die nächtliche Ausgangssperre sorgt schon eher für Gesprächsstoff. Die Gastro war ja bis Mitte Mai zu: Das erste Bier im Restaurant nach einem halben Jahr, das ist mir geblieben. Aber immer mit Zertifikatspflicht: Dies wird unterschiedlich gut kontrolliert. Es ist österreichischer Lebensstil, dass man das nicht so eng sieht: Ich bin einmal in einer Bar von der Polizei kontrolliert worden.

Das tönt nach wenig.

Student: Am gleichen Tag hatte der Innenminister gesagt, man wolle jetzt öfter kontrollieren. Unsere Zertifikate wurden eingescannt. Aber einen Ausweis haben sie nicht verlangt. Typisch österreichisch!

Was sagen Sie zur möglichen nächtlichen Ausgangssperre?

Student: Es ist schon die Frage, wie die Ausgangssperre für Ungeimpfte durchgezogen werden soll. Wie die kontrolliert werden soll. In der Gastro hat man es mehr oder weniger unter Kontrolle. Aber ob die Leute rausgehen oder nicht: Es scheint mir unmöglich, in dieser Situation jemanden zu kontrollieren und zu büssen. Es gibt ja auch so viele Ausnahmen.

Gastronom: Wenn die wieder kommt, wird sich das deutlich auf unsere Kasse auswirken: Wir sind auf Getränkeumsätze angewiesen. Wenn sie kommt – ab 22 Uhr steht im Raum –, wäre das sehr einschneidend. Dann müssten wir den Küchenbetrieb um 21 Uhr schliessen, damit wir die Leute rechtzeitig draussen haben. Heimlich wünsche ich mir schon einen Lockdown, um das ganze Chaos zu beenden. Wir sitzen alle im selben Boot. Allerdings gibt es auch Bedenken, ob das kurzfristig etwas bringt – ich bin kein Experte.

Wie weiter, Österreich?

Student: Das Verständnis für die Nichtgeimpften nimmt je länger, je stärker ab. Massnahmen, die einen selber nicht betreffen, sind einem wurst, aber eine nächtliche Ausgangssperre wäre schon nicht so prickelnd – auch wenn das wegen der hohen Zahlen die ehrlichere Variante ist, um die Kontakthäufigkeit einzuschränken. Eigentlich hoffe ich einfach, dass die 2G-Regelung den Druck erhöht, dass sich mehr Leute impfen lassen. 

Gastronom: Ich kritisiere, dass man die Zahlen in die Höhe hat schiessen lassen. Die Experten haben ja schon geschrieben, dass im Herbst die Zahlen hochgehen können, da wurde zu wenig getan. Ich habe es aufgegeben, mich auf Massnahmen und die Regierung zu verlassen.