Bötschi fragt Joe Bausch«Aus mir wurde trotz all der Verlockungen kein Verbrecher»
Bruno Bötschi
14.12.2024
TV-Zuschauer kennen Joe Bausch als «Tatort»-Pathologen. Im richtigen Leben war er Gefängnisarzt und behandelte Mörder und Vergewaltiger. Ein Gespräch über seine von Gewalt und Missbrauch geprägte Kindheit.
Bruno Bötschi
14.12.2024, 08:31
14.12.2024, 11:38
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte als Gefängnisarzt, doch Krimifreunde kennen ihn vor allem als Gerichtsmediziner im Kölner «Tatort»: Joe Bausch ist ein Mann mit vielen Talenten.
In seiner Biografie «Verrücktes Blut» beschreibt der 71-Jährige seine von Gewalt und Missbrauch geprägte Jugend auf dem Land.
«Ich mochte mich als Kind nicht, hatte auch kein Selbstwertgefühl. Ich dachte, ich bin nicht liebenswert», sagt Bausch im Gespräch mit blue News.
Mit Blick auf den Missbrauch, den er in der Kindheit erfuhr, sagt Bausch: «Menschen, die nicht verzeihen können und nachtragend sind, tragen ständig eine Last mit sich herum.»
Der zweite Teil des Gesprächs mit Joe Bausch erscheint am morgigen Sonntag auf blue News.
Joe Bausch, ich stelle Ihnen in den nächsten 45 Minuten möglichst viele Fragen. Und Sie antworten bitte möglichst schnell und kurz …
… ich kann alles, ausser kurze Antworten geben (lacht).
Wenn Ihnen eine Frage nicht passt, können Sie auch einmal «weiter» sagen. Berg oder Tal?
Tal. Der Aufstieg auf einen Gipfel ist oft zu anstrengend und die Aussicht im Tal auch nicht schlecht. Die Berge wirken von unten viel mächtiger als von oben.
Schnee oder Strand?
Strand. Ich mag Wasser, Sonne und habe zudem viele Jahre lang gesurft.
Wasser lieber mit oder ohne?
Ohne – das stösst weniger auf.
Sie sind ein Mensch mit vielen Talenten. Sie sind Arzt, Schauspieler und Autor. Welches ist Ihre grösste Begabung, von der bisher noch niemand weiss?
Ich habe ein Talent für die Bildhauerei und das Malen. Ich bin aber noch unsicher, ob andere Menschen dies auch so sehen (lacht).
Zum Autor: Bruno Bötschi
blue News
blue News Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Er stellt ihnen ganz viele Fragen – immer direkt, oft lustig und manchmal auch tiefsinnig. Dabei bleibt bis zur allerletzten Frage immer offen, wo das rasante Pingpong hinführt.
Was können Sie nicht?
Warten … mein zweiter Vorname ist Ungeduld. Ich bin zwar nicht mehr so ungeduldig wie noch in früheren Jahren, aber … ach, nein, Warten ist furchtbar.
Im vergangenen Juni sagten Sie in der «Abendschau» des Bayerischen Rundfunks: «Ich wollte oft mit dem Kopf durch die Wand und habe verrückte Sachen gemacht.» Wann sind Sie das letzte Mal so richtig auf die Schnauze gefallen?
Das ist noch gar nicht so lange her.
Was hat Sie Ihr Scheitern gelernt?
Dass es etwas ganz Normales ist. Niederlagen gehören wie Siege zum Leben dazu.
Als Gefängnisarzt und Schauspieler beschäftigten Sie sich jahrzehntelang mit den Biografien anderer Menschen. In Ihrer Biografie «Verrücktes Blut» steht nun Ihr Leben im Mittelpunkt.
Ich dachte, dass es an der Zeit wäre, auch einmal meine Lebensgeschichte zu erzählen. Ich habe oft genug erlebt, dass Menschen mit Missbrauchs- und Gewalterfahrungen im Gefängnis gelandet sind. Ich jedoch sitze auf der anderen Seite des Schreibtisches. Ich bin zwar auf dem Bauernhof aufgewachsen, aber ich bin des Schreibens mächtiger als des Pflügens eines Ackers. Das Schreiben der Biografie war meine Art, meinen Acker nochmals neu zu pflügen und fruchtbar zu machen.
«Wer sich erinnert, lebt zweimal», sagte die 1996 verstorbene italienische Schriftstellerin Franca Magnani. Sehen Sie das auch so?
Absolut. Deshalb habe ich als letzten Satz in meinem Buch auch ein Zitat von Martin Walser aus einem «Spiegel»-Gespräch aus dem Jahr 1998 gewählt: «Erinnerung ist eine Produktion, an der die Gegenwart genauso beteiligt ist wie die Vergangenheit.» Bei mir hat sich während des Schreibens des Buches zudem die Lebenslust verstärkt. Das hatte ich nicht erwartet.
Wieso nochmals lautet der Titel Ihres Buches «Verrücktes Blut»?
Ich war ein lebhaftes Kind. Ständig fiel ich hin oder irgendwo runter, schlug mir das Knie auf oder hatte eine Platzwunde am Kopf. Nach solchen Missgeschicken nahm mich meine Tante Res auf den Schoss und drückte mir ein Taschentuch auf die Wunde. «Das ist gut, so ein kleines Loch im Kopf», sagte sie jeweils, «dann kann das verrückte Blut abfliessen.»
Mich beruhigte dieser Satz als Kind. Ich hatte nie Angst, wenn ich blutete. Ich fand es deshalb eine schöne Metapher für mein Buch. Die Unaufgeregtheit meiner Tante im Angesicht einer blutenden Wunde begleitete mich später auch während der Tätigkeit als Arzt.
Sie beschreiben im Buch Ihre Kindheit als traumatisch, weil sie von Prügel, Gewalt und Missbrauch geprägt war. Was wollen Sie mit Ihrer Offenheit erreichen?
Ich möchte Menschen ermuntern, ins Gespräch zu kommen, weil sie nach der Lektüre meiner Biografie sehen, dass man trotz einer komplizierten und von Gewalt geprägten Kindheit ein optimistischer, freundlicher und glücklicher Mensch werden kann. Als Gefängnisarzt schaffte ich es zudem, dass ich, obwohl ich ein Missbrauchsopfer bin, mit Sexualstraftätern arbeiten konnte, ohne dass es mir an der nötigen Empathie gefehlt hätte.
Ich möchte mit meinem Buch aber auch jenen Menschen Hoffnung machen, denen es in ihrer Kindheit ähnlich ergangen ist wie mir. Und ich glaube, das habe ich geschafft damit. Seit der Veröffentlichung meiner Biografie bekam ich über 270 Briefe und Mails von Menschen, die mir ihre Geschichte erzählt und sich für meine Offenheit bedankt haben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Thema «Missbrauch», gerade in der eigenen Familie, nach wie vor ein Tabu ist. Umso wichtiger ist es, dass Menschen wie ich darüber in der Öffentlichkeit reden.
Ihr Vater hat Sie geschlagen, wann immer Sie einen vermeintlichen Fehler begangen haben. Was machten diese ständigen Bestrafungen mit Ihnen?
Mein Vater duldete keine Angst und keine Schwäche. Natürlich war es schmerzhaft und ging tief unter die Haut, wenn ich von ihm geschlagen wurde. Ich mochte mich als Kind nicht, hatte auch kein Selbstwertgefühl. Ich dachte, ich bin nicht liebenswert.
Haben Sie nie daran gedacht, zurückzuschlagen?
Gewalt führt oft zu Gegengewalt. Auch ich dachte, als ich grösser geworden bin, hin und wieder daran, zurückzuschlagen. Getan habe ich es aber nie.
Was tat Ihre Mutter, wenn der Vater Sie schlug?
Mein Vater war impulsiv bis jähzornig und oft einfach überfordert. Meine Mutter war eine berechnende Person. Sie wusste immer, wann es wieder Zeit für eine Abrechnung war. Das hat mich als Kind viel mehr irritiert als die Schläge meines Vaters. Der häufigste Satz meiner Mutter war: «Schlag sie nicht gegen den Kopf, das macht sie blöd.»
Oh, mein Gott …
… ein böser Satz.
Ein schrecklich böser Satz. Ihre Eltern hatten kurz vor Ihrer Geburt den Pflegesohn Uwe aufgenommen, weil sie glaubten, keine Kinder bekommen zu können. Uwe, er war zehn Jahre älter als Sie, hat Sie später sexuell missbraucht.
Ich konnte früh mit anderen Menschen über den erlebten Missbrauch reden. Verzeihen konnte ich Uwe jedoch erst viele Jahre später. Während der Kindheit teilten wir uns ein Zimmer. Als ich sechs war, fing er an, widerliche Dinge von mir zu verlangen, gegen die ich mich, bis ich zehn Jahre alt war, aus Scham nicht wehren konnte. Uwe wusste, dass es niemanden gab, dem ich mich hätte anvertrauen können.
Heute weiss ich: Verzeihen ist oft schwierig. Für die eigene Gesundheit ist es jedoch enorm wichtig. Menschen, die nicht verzeihen können und nachtragend sind, tragen ständig eine Last mit sich herum. Obwohl ich meinem Pflegebruder verzeiht habe, wurde ich deswegen aber nicht nachsichtiger. Ich verstehe auch heute vieles noch nicht. Aber mit den Jahren habe ich realisieren können, dass Uwe eine gescheiterte Persönlichkeit ist. Und er hat sich von diesem Scheitern auch nie wieder erholt.
Dass ich heute verzeihen kann, hat mit meiner Tätigkeit als Schauspieler zu tun. Es gibt im Leben immer wieder Situationen, die man nur schwer aushält. Wenn ich mir das als Schauspieler vor Augen führe, kann ich eine andere Perspektive einnehmen, abstrahieren und mich davon distanzieren. Während meiner Arbeit als Schauspieler konnte ich mich so auch immer wieder meinen eigenen Abgründen und Defiziten nähern. Das hat mir geholfen.
Ich weiss heute aber auch, wie gut es mir jeweils tut, eine Rolle wieder loszuwerden, nachdem ich zum Beispiel über längere Zeit einen Psychopathen auf der Bühne spielen musste. Ich glaube, diese Art der Beschäftigung mit dem Bösen als Schauspieler und den eigenen dunklen Ecken im Kopf führte dazu, dass ich ein anderes Verständnis entwickelt habe und weniger Skrupel habe gegenüber Gefangenen. Kurzum: Vielleicht musste ich ab und an einen Verbrecher spielen, um zu wissen, dass ich zu den Guten gehöre.
Haben Sie heute noch Kontakt zu Ihrem Pflegebruder?
Nein. Der Kontakt brach ab, kurz nachdem ihn mein Vater rausgeschmissen hat. Ich war damals zehn oder elf Jahre alt. Danach ist er, so wie ich es auch in meiner Biografie schreibe, noch einmal bei uns zu Hause aufgetaucht. Irgendwann habe ich erfahren, dass er einige Jahre ganz in der Nähe von uns gewohnt hat. Ich habe ihn nie mehr gesehen, hatte aber auch nie das Bedürfnis danach. Später erfuhr ich aus einer verlässlichen Quelle, dass er sehr früh gestorben ist.
Als Sie mit Ihrer Mutter Jahre später über den Missbrauch sprechen wollten, sagte sie: «Hör auf, ich will das nicht wissen. Erzähl mir etwas anderes.»
Das war ein schrecklicher Moment. Jetzt gerade, wo Sie mir die Frage gestellt haben, spüre ich die Ohnmacht wieder, die mich damals nach der Antwort meiner Mutter befallen hat.
In Ihrer Biografie schreiben Sie, dass damals in Ihnen noch einmal etwas kaputtgegangen sei: «Es war mir nicht möglich, diesen Verrat zu verzeihen.»
Es ist furchtbar, geschlagen zu werden. Meinem Vater habe ich jahrelang nicht verzeihen können. Er hat mich geschlagen, bis ich 18 war. Meiner Mutter konnte ich erst durch das Schreiben der Biografie richtig verzeihen. Das Beschäftigen mit meiner Lebensgeschichte machte mich nachsichtiger.
Trotzdem widmen Sie das Buch Ihren Eltern. Warum?
Dass ich meine Biografie meinen Eltern widme, habe ich erst ganz am Ende entschieden, also nachdem ich das Buch fertiggeschrieben hatte. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass sie auch fürsorgliche Eltern waren. Mein Vater hat hart gearbeitet, meine Mutter auch. Und sie haben das alles für unsere Familie gemacht.
Trotz aller traumatischen Erlebnisse während Ihrer Kindheit schafften Sie es, ein positiver und emphatischer Mensch zu werden. Sind Sie resilienter als andere?
Ich mag das Wort «Resilienz» nicht, denn es individualisiert die Fähigkeit von Opfern – also im Sinne von: Es ist Zufall, dass es der eine schafft und der andere nicht. Ich glaube vielmehr, dass fast jeder Mensch es schaffen kann, egal, wie er gestrickt ist, Traumata zu verarbeiten. Sei dies durch eine professionelle Therapie oder durch intensive Gespräche mit Freunden, denen man vertraut.
Studien besagen, dass über 40 Prozent aller Straftäter in jungen Jahren Gewalt erfahren haben. Hat Sie das Böse früher auch angezogen?
Die 60er mit den Protestbewegungen und Aufkommen von Drogen wie LSD und Haschisch waren ein spezielles Jahrzehnt. Das Böse an sich hat mich nie angezogen. Aber unter uns gesagt: Ich hätte wahrscheinlich auch Drogenhändler oder Zuhälter werden können. Und ich könnte jetzt antworten, mir fehlte der Mut für diese Berufe. Aber letztendlich wusste ich immer: Ich will das nicht.
Was hat Sie noch davor bewahrt, ein böser Mensch zu werden?
Ich war immer schon ein neugieriger Mensch, der viel wissen wollte. Das menschliche Gewissen wächst durch das Lernen und das Wissen und über die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Moralvorstellungen. Ich habe zudem auch immer gerne Verantwortung übernommen. Diese drei Säulen sorgten dafür, dass trotz aller Verlockungen aus mir kein Verbrecher geworden ist.
Der zweite Teil des Gesprächs mit Joe Bausch erscheint morgen Sonntag, 15. Dezember, auf blue News.
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