Roman «Die vorletzte Frau»Frau Oskamp entblösst Herrn Hürlimann – und sich selbst
Bruno Bötschi
3.11.2024
Sie war zwei Jahrzehnte lang die Partnerin von Schriftsteller Thomas Hürlimann (73). Jetzt hat Katja Oskamp (54) ein Buch darüber geschrieben: Ein schonungsloser Bericht über die Beziehung zu einem älteren Mann.
Bruno Bötschi
03.11.2024, 11:31
03.11.2024, 18:36
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Berliner Autorin Katja Oskamp schreibt in ihrem Roman «Die vorletzte Frau» über die Beziehung zu einem deutlich älteren Mann.
Der Mann ist der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann und Sohn des ehemaligen CVP-Bundesrats Hans Hürlimann (1918 bis 1994).
Die Mehrzahl der bisherigen Rezensent*innen des schonungslosen Berichts stürzten sich mehr oder weniger lustvoll auf die Sexszenen darin. Die Kritiker*innen vergassen dabei die wunderbar direkte Sprache von Oskamp und die grossartige Beschreibung ihrer eigenen inneren Zerrissenheit.
Die Vergangenheit tut oft weh. Man kann vor ihr fliehen, oder Schlussfolgerungen ziehen. Katja Oskamp hat es getan und einen wunderbaren Roman darüber geschrieben.
«Er zauberte ein getigertes Ding hervor, das er mir um den Hals legte und im Nacken eng verschloss. Dort hakte er auch den kleinen Karabiner der dazugehörigen Leine fest, legte sie über mein Schlüsselbein, fädelte durch meinen Ausschnitt und unter meinem Kleid durch. Den Blick des Kellners ignorierten wir.»
Erinnerungen und Indiskretionen. Es sind die Ingredienzen, die dieses Buch zu einem Lesevergnügen der besonderen Art machen. Ich gebe zu, hin und wieder errötete sogar ich während des Lesens auf dem Sofa.
Katja Oskamp verarbeitet in ihrem Roman «Die vorletzte Frau» ihre Lebens- und Liebesgeschichte mit dem Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann.
Und dies auf derart schonungslose Weise, dass die NZZ lauthals aufbegehrte: «Oskamp verbindet mit der Selbstentblössung vor allem eine Demütigung des langjährigen Freundes.»
Sex und Gott
Die Empörung der NZZ hat möglicherweise damit zu tun, dass Hürlimann nicht nur Autor, sondern auch der Sohn des CVP-Bundesrats Hans Hürlimann (1918 bis 1994) ist. Genau, die Partei mit dem Wort «Christlich» im Namen, aus der vor drei Jahren «Die Mitte» wurde.
Sex und Gott. Zwei Themen, bei denen viele Menschen, nicht zuletzt gläubige, sofort rot sehen. Und dann auch noch in der Öffentlichkeit darüber reden oder sogar schreiben: Nein, geht gar nicht.
«Ich war eine ältliche und dickliche Prinzessin, die niemand zur Königin krönen wollte. Aber ich blieb eine Prinzessin, und eine Prinzessin wird nicht verlassen, eine Prinzessin verlässt selbst.»
Liebeserklärung oder Abrechnung? Es ist bekannt, dass Thomas Hürlimann den Text von Katja Oskamp vor Veröffentlichung gelesen hat. Nach ihrer Trennung hatten die beiden zwar kaum Kontakt.
«Du hast eine wunderschöne Liebesgeschichte geschrieben», soll der 73-Jährige, laut dem «Spiegel», zu seiner Ex-Partnerin gesagt haben. Er sei stolz, dass er darin mitspiele. Hürlimann hat in seinem vor sechs Jahren erschienen Roman «Heimkehr» auch schon über seine Ex geschrieben.
Kein Wort von Thomas Hürlimann darüber, dass er im Buch von Katja Oskamp oft nicht besonders gut wegkommt. Das Gleiche gilt allerdings auch für seine Ex-Partnerin.
Genau diese ungeschönte Ehrlichkeit macht «Die vorletzte Frau» so lebensnah. Und lesenswert.
Studentin und Schriftsteller
Sie ist Studentin, er ist Schriftsteller, als sie sich das erste Mal treffen. 19 Jahre Altersunterschied liegen zwischen den beiden. Er, der im Buch Tosch heisst, lehrt als Gastdozent am Literaturinstitut Leipzig. Sie muss eine Prüfung bei ihm ablegen.
Wenig später macht er ihr ein Geständnis: «Bevor ich dich traf, war ich tot. Mein Schwanz war tot.» Sie kann nicht glauben, dass er auf sie steht – und vor allem auf ihren Hintern. «Ich war toter als du, Tosch», antwortet sie.
Danach geht es los mit den zwei Toten, die sich gegenseitig zum Leben erwecken.
Er mag Verbal-Erotik und Rollenspiele. Im «Lotterbett» doziert er darüber, dass Sex pervers sein müsse, sonst schlafe er ein. Zugreifen tut aber auch sie: «Als wir die Kneipe verliessen, griff ich Tosch zwischen die Beine.»
Als Tosch seine Wohnung in Berlin einrichtet, will er nur unter der Bedingung in einem schwedischen Möbelhaus einkaufen gehen, dass seine neue Lieblingsfrau «Strapse trägt».
Klartext und Zahnentzündung
«Was die Autorin da beschreibt, klingt so echt, so unmittelbar, als habe es sich tatsächlich so zugetragen», kommentiert der «Spiegel». Und hat recht damit.
Katja Oskamp hat sich für Klartext entschieden.
Die Studentin und der Schriftsteller sind zwei erwachsene Menschen. Sie lassen sich aufeinander ein, im vollen Bewusstsein ihrer Defizite. Eine verhängnisvolle Affäre? Nein. Eine verhängnisvolle Beziehung? Wahrscheinlich ja.
«Die Erinnerung ist eine zärtliche Schlampe. Sie trickst herum und entzieht sich, überfällt hinterrücks und liebkost so plötzlich, dass ich ihr kein Wort mehr glaube. Ich habe Angst, ungerecht zu sein, selbstgerecht. Ich habe Angst, dass Tosch rufen könnte: Halt die Klappe! Es ist vorbei, aber wie es war, war es gut!»
Die Mehrzahl der bisherigen Rezensent*innen des schonungslosen Berichts stürzte sich mehr oder weniger lustvoll auf die Sexszenen darin. Die Kritiker*innen vergassen dabei die wunderbar direkte Sprache von Oskamp und die grossartige Beschreibung ihrer eigenen inneren Zerrissenheit.
«Ich kann nur das Kleine beobachten», sagt Katja Oskamp über ihren Roman im «Spiegel», «die grossen politischen Zusammenhänge kann ich nicht. Will ich auch nicht.» Umso schöner seziert sie den Alltag, der hin und wieder so verdammt schrecklich sein kann.
Als sie an einer Zahnentzündung leidet und Tosch weinend um Hilfe bittet, sagt der am Telefon: «Du wirst mich auf diese Tour nicht vom Arbeiten abhalten.»
Fusspflegerin und Menschlichkeit
Nichts scheint Katja Oskamp in ihrem Roman «Die vorletzte Frau» zu peinlich oder zu privat.
Tosch hat die Autorin viele Jahre gecoacht, viele ihrer Texte kommentiert, bevor sie diese an die Zeitungsredaktion oder den Verlag schickte. Und sie tat dasselbe mit seinen Texten.
Ach ja, und um seine dreckige Wäsche kümmerte sich die Mutter einer Tochter an den Wochenenden auch noch, wenn er sie für ein, zwei Nächte besuchte.
«Hinsichtlich der Rollenauswahl waren die Jahre zwischen dreissig und vierzig gute Jahre. Mutter, Geliebte, Schriftstellerin – drei Hauptrollen, zwischen denen ich hingebungsvoll pendelte, damit sie jenen kräftigen Dreiklang ergaben, der mich hielt. Ich wünschte mir, dass es so blieb, womöglich träumte ich insgeheim sogar von einer Steigerung.»
Nun aber ist Oskamp aus Hürlimanns Schatten getreten. Bereits 2007 galt sie nach der Publikation des Romans «Die Staubfängerin» als hoffnungsvolle Debütantin.
Danach blieb der Erfolg, zumindest als Autorin, immer öfter aus. In der Folge liess sich Katja Oskamp zur Fusspflegerin ausbilden. Sie arbeitete im Berliner Plattenbauviertel Marzahn in einem Nagelstudio.
Die Autorin tat etwas, was für andere Menschen gleichbedeutend mit Scheitern wäre: Am Tag pflegt sie Füsse, am Abend sie schreibt auf, was sie am Tag gehört hat. Es sind witzige Geschichten voller Menschlichkeit – von der Fusssohle her betrachtet.
Sie schrieb in «Marzahn, mon amour – Geschichten einer Fusspflegerin» von Frau Guse, die sich im Rückwärtsgang von der Welt entfernt. Sie schrieb von Herrn Pietsch, dem Ex-Funktionär. Und von Herrn Paulke, der vor 40 Jahren einer der ersten Bewohner des Viertels war.
Zukunft und Hoffnung
Möglicherweise hat Katja Oskamp die ersten zwei Drittel ihres Lebens bereits hinter sich. In dieser Zeit hat sie oft schlecht über sich selbst gedacht. Oder sich neben ihrem Ex-Partner Tosch zum «Zweite-Reihe-Gesicht» gemacht.
Am Ende ihres neusten Romans fragt sie sich jetzt, welche Rolle sie im dritten Drittel ihres Lebens verkörpern wird?
Nun denn, begonnen hat es durchaus selbstbewusst. Und man darf guten Mutes sein, dass der neue Partner der Autorin guttut – besser als Tosch, auf jeden Fall.
«Der neue Mann sagt immer ‹Komm her› und nie ‹Geh weg›. Ich schenkte ihm keine Eierbecher und keine Handschellen, kein Leporello und kein Stehpult, dafür meinen Pionierausweis von 1976.»
Die Vergangenheit tut oft weh. Man kann vor ihr fliehen, oder Schlussfolgerungen ziehen. Katja Oskamp hat es getan und einen wunderbaren Roman darüber geschrieben.
Und jetzt sitzt sie dort, wo sie als Autorin schon einmal sass: in der ersten Reihe.
Die kursiven Textstellen sind Original-Zitate aus dem Roman «Die vorletzte Frau» von Katja Oskamp. Das Buch ist im Verlag Park x Ullstein erschienen.
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