Top-Terrorist ist tot Wer war Hamas-Chef Sinwar – und übernimmt jetzt sein Bruder?

AP/dpa/toko

17.10.2024 - 21:40

Israelische Medien: Hamas-Führer Sinwar im Gazastreifen getötet

Israelische Medien: Hamas-Führer Sinwar im Gazastreifen getötet

Sinwar galt als Drahtzieher des Massakers der radikal-islamischen Organisation am 07. Oktober 2023 in Israel, bei dem etwa 1200 Menschen getötet und weitere rund 250 als Geiseln verschleppt worden waren.

17.10.2024

Israel hat seit Oktober vergangenen Jahres schon zahlreiche Top-Terroristen ausgeschaltet – und nun wohl den Drahtzieher des Massakers vom Oktober 2023 getötet. Wer war Top-Terrorist Jihia al-Sinwar?

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Nach eigenen Angaben hat Israel den Hamas-Chef und Drahtzieher des Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 getötet.
  • Israel verhaftete Sinwar Ende der 1980er Jahre. Sinwar wurde zu vier Mal lebenslänglicher Haft verurteilt, unter anderem wegen der Tötung zweier israelischer Soldaten.
  • Nach seiner Rückkehr wurde Sinwar Anführer der Hamas im Gazastreifen und übernahm damit die Kontrolle über das Gebiet.
  • Sinwar gehörte schliesslich zu den mehr als 1000 palästinensischen Gefangenen, die 2011 von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Rahmen eines Austauschs für einen israelischen Soldaten freigelassen wurden.
  • Sinwar gilt gemeinsam mit Mohammed Deif, dem Chef des militärischen Flügels der Hamas, als Drahtzieher des Überraschungsangriffs auf Israel am 7. Oktober.

Israel hat nach eigenen Angaben bei einem Militäreinsatz im Gazastreifen Hamas-Anführer Jihia al-Sinwar getötet. Von der Hamas gab es am Donnerstagabend zunächst keine Bestätigung. Sollte sich Sinwars Tod bewahrheiten, wäre dies ein wichtiger Moment in Israels Krieg gegen die Hamas – und ein herber Rückschlag für die militant-islamistische Palästinenserorganisation. Zugleich könnte sein mutmasslicher Tod die Bemühungen um eine Freilassung Dutzender im Gazastreifen verbliebener Geiseln der Hamas erschweren. Der israelische Aussenminister Israel Katz sah hingegen gerade durch die Tötung von Sinwar eine neue Möglichkeit für deren Freilassung.

Sinwar galt als einer der Drahtzieher hinter dem Terrorangriff der Hamas und anderer Extremisten auf Israel am 7. Oktober 2023, der den Gaza-Krieg ausgelöst hat. Nach dem Attentat auf den bisherigen politischen Anführer der militant-islamistischen Gruppe, Ismail Hanija, im Juli in Teheran rückte Sinwar an deren Spitze. Wer also war der Mann, den ganz Israel tot sehen wollte? 

Vom Flüchtlingslager zur Hamas

Sinwar wurde 1962 in einem Flüchtlingslager in der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens geboren. Er gilt als ein Mitglied der ersten Generation der Hamas, die 1987 gegründet wurde. Er stieg zum Anführer des Sicherheitsapparats der Gruppe auf, der gegen Informanten für Israel vorging.

Israel verhaftete Sinwar Ende der 1980er Jahre. Er räumte ein, zwölf mutmassliche Kollaborateure getötet zu haben. Das brachte ihm den Spitznamen «Der Schlächter von Chan Junis» ein.

Sinwar wurde zu vier Mal lebenslänglicher Haft verurteilt, unter anderem wegen der Tötung zweier israelischer Soldaten.

Ein Anführer im Gefängnis

Sinwar organisierte Streiks im Gefängnis, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Er studierte auch Hebräisch und erlangte Kenntnisse über die israelische Gesellschaft. Im Jahr 2008 überlebte er einen Hirntumor, nachdem er von israelischen Ärzten behandelt worden war.

Jihia al-Sinwar in seinem Büro in Gaza-Stadt im April 2022. 
Jihia al-Sinwar in seinem Büro in Gaza-Stadt im April 2022. 
Adel Hana/AP/dpa

Sinwar gehörte zu den mehr als 1000 palästinensischen Gefangenen, die 2011 von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Rahmen eines Austauschs für einen israelischen Soldaten freigelassen wurden, den die Hamas bei einem grenzüberschreitenden Überfall gefangen genommen hatte.

Aufstieg zur Macht in Gaza

Nach seiner Rückkehr in den Gazastreifen stieg Sinwar schnell in der Hamas-Führungsriege auf und war bald für seine Skrupellosigkeit berüchtigt. Gemeinhin wird angenommen, dass er hinter der Ermordung eines anderen hochrangigen Hamas-Befehlshabers, Mahmud Ischtewi, im Jahr 2016 in einem internen Machtkampf steckte.

Sinwar wurde Anführer der Hamas im Gazastreifen und übernahm damit die Kontrolle über das Gebiet. Er trug gemeinsam mit Politchef Hanija dazu bei, die Gruppe mit dem Iran und den von Teheran gestützten Milizen in der Region zu verbünden und zugleich die militärischen Fähigkeiten der Hamas auszubauen.

Der Angriff auf Israel am 7. Oktober

Es wird angenommen, dass Sinwar gemeinsam mit Mohammed Deif, dem Chef des militärischen Flügels der Hamas, den Überraschungsangriff auf Israel am 7. Oktober plante. Die Terrorattacke kostete etwa 1200 Menschen, grösstenteils Zivilisten, das Leben. Bei der darauffolgenden israelischen Militäroffensive im Gazastreifen sind nach Angaben der dortigen von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden bislang mehr als 42'000 Palästinenser getötet hat.

Die Hamas erklärte, sie habe den Terrorangriff vom 7. Oktober als Vergeltung für die Behandlung der Palästinenser durch Israel verübt. Zudem sei es darum gegangen, die palästinensische Sache wieder auf die Tagesordnung der Weltöffentlichkeit zu bringen.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, beantragte im Mai Haftbefehle gegen Sinwar, Deif und Hanija wegen ihrer Rolle bei dem Terroranschlag. Israels Militär tötete Deif nach eigenen Angaben bei einem Angriff im Juli. Die Hamas aber behauptet, er sei noch am Leben.

Was kommt nach Sinwar?

Sinwar hielt sich seit dem 7. Oktober versteckt. Unterhändler, die um eine Waffenruhe in Gaza ringen, hatten erklärt, dass es mehrere Tage dauern könne, bis Nachrichten vom Hamas-Chef abgeschickt oder empfangen würden.

Nach dem Tod des Hamas-Führers stellt sich die Frage, ob damit die Hamas besiegt ist. Beobachter halten das nicht für wahrscheinlich. Sinwars Bruder Mohammed spielt eine wichtige Rolle in der Militärstruktur der Hamas. Ob er die Nachfolge Deifs übernommen hat, ist unklar. Er könnte in die Fussstapfen seines Bruders treten. Hinzu kommt, dass die Hamas unter dem Druck der mächtigen israelischen Invasion nicht mehr in klassische militärischen Formationen kämpft, sondern als Guerilla-Streitkraft, die in kleinen Zellen und dezentral operiert.

Schicksal der Geiseln bleibt unklar

Weiterhin völlig ungewiss ist das Schicksal von rund 100 Geiseln, die sich immer noch in der Gewalt der Hamas befinden. Die Bemühungen um ihre Freilassung dürften sich noch schwieriger gestalten, solange nicht klar ist, wer die Entscheidungen an der Spitze der Hamas trifft. Ausserdem könnten ihre Entführer wegen der Tötung von Sinwar Rache an ihnen üben, wie etliche der Geiselangehörigen befürchten.

Schon vor seinem Aufstieg zum Anführer der Gruppe galt Sinwar als derjenige, der das letzte Wort über die Freilassung der von der militanten Gruppe festgehaltenen Geiseln gehabt haben soll. Im Gazastreifen befinden sich noch rund 100 Geiseln, von denen etwa ein Drittel tot sein soll.

Aber selbst ein Kollaps der Hamas, die bis zum Kriegsausbruch den Gazastreifen mit eiserner Hand regiert hatte, würde nicht unbedingt klare Verhältnisse schaffen. Da Israel keine militärische Verwaltung des Küstengebiets anstrebt und auch sonst keine konkreten Vorstellungen für ein Gaza ohne Hamas zu haben scheint, droht ein gefährliches Machtvakuum. In diesem könnten sich Chaos und Anarchie ausbreiten.

AP/dpa/toko