Mikaela Shiffrin reiht Sieg an Sieg und lässt im Weltcup die Rekorde purzeln. Doch eine Leichtigkeit gibt ihr das an Grossanlässen nicht. Im Gegenteil. Die hohen Erwartungen drücken ihr aufs Gemüt.
Letztlich war es «nur eine Art Missverständnis». So erklärte die Amerikanerin ihren emotionalen Ausbruch, die Tränen während eines Interviews nach dem 2. Platz im WM-Super-G am Mittwoch in Méribel. Aber dass es passierte, sagte viel darüber aus, wie es im Inneren von Mikaela Shiffrin an Titelkämpfen zugehen muss.
Auslöser war eine etwas plump gestellte Frage eines ORF-Reporters, die Shiffrin offensichtlich in Bezug auf die hohen Erwartungen triggerte. «Oben sah es ein bisschen wie Rock'n'Roll aus, unten wie Blues, oder?» fragte der Journalist. Es klang, als wäre der 2. Platz in den Augen des Interviewers zu wenig, weshalb sich Shiffrin verteidigte: «So würde ich das überhaupt nicht nennen. Es war das Beste, was möglich war. Also ich bin verdammt glücklich über dieses Resultat. Aber...», sagte sie, bevor es ihr die Sprache verschlug und sich Tränen in den Augen stauten.
Bis zum Erbrechen
Ich bin glücklich, aber ihr offenbar nicht. Das dürften Shiffrins Gedanken in diesem Moment gewesen sein. Dass sie selber trotz der vielen Erfolge keine ist, die sich nur mit Siegen zufrieden gibt, vermittelt die 85-fache Weltcupsiegerin glaubhaft. Aber die Gedanken verraten, wie sehr sich die Amerikanerin von aussen unter Druck gesetzt fühlt, speziell an den Grossanlässen. An den Olympischen Spielen in Peking blieb sie ohne Medaille, obwohl sie in sechs Disziplinen antrat und in mindestens der Hälfte favorisiert war.
In einem Interview mit der «NZZ» gestand Shiffrin im Herbst 2017, dass sie sich vor dem Start manchmal übergeben musste. «Plötzlich waren die Erwartungen der Öffentlichkeit höher als meine eigenen. Das setzte mich unter Druck. Ich hatte das Gefühl, ich müsse gewinnen, und dadurch verlor ich die Kontrolle», erklärte sie. Als es ihr im Slalom so gut gelaufen sei, hätten die Leute angefangen zu spekulieren, wie oft sie in Serie gewinnen könne.
Nachdem sie der Tod ihres Vaters vor drei Jahren aus der Bahn geworfen hatte, ist Shiffrin in dieser Saison wieder Seriensiegerin. Jedoch fordern ihr die hohen Erwartungen an der WM in Méribel nach den medaillenlosen Olympischen Spielen wiederum viel ab. «In den letzten vier Wochen habe ich Hunderte Fragen über diese WM gestellt bekommen und darüber, ob ich mir Sorgen mache, dass sie genau so wird wie die Olympischen Spiele im letzten Jahr. Wenn man immer und immer wieder die gleichen Fragen gestellt bekommt, ist es sehr schwierig, im Kopf die Balance zu halten und noch immer positiv zu sein.»
Halbierte Erfolgsquote
Dass Weltcup und Olympische Spiele für Shiffrin unterschiedliche Paar Schuhe sind, untermauern die Zahlen: Bei 241 Starts im Weltcup landete die 27-Jährige 134 Mal auf dem Podest und gewann 85 Mal, was einer Podest-Quote von 55 Prozent und einer Sieg-Quote von mehr als einem Drittel entspricht. An Olympischen Spielen halbieren sich die Quoten auf 27 und 18 Prozent (3 Podests, 2 Siege in 11 Rennen).
An Weltmeisterschaften war Shiffrin mit 80 Prozent Podestplätzen und 40 Prozent Siegen bislang sogar noch effizienter als im Weltcup. Doch die missratene Kombination zum Auftakt der aktuellen Titelkämpfe, in der Shiffrin auf Goldkurs liegend kurz vor dem Ziel ausschied, riss eine Wunde auf. «Ich dachte mir: Das muss ein Scherz sein. Über 50 Prozent meiner Ausfälle sind an Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften passiert. Das ist nur lustig, weil ich in der Lage war, heute eine Medaille zu gewinnen», sagte Shiffrin nach dem Super-G.
Wertvolle Tipps von Roger Federer
Rat holte sich Shiffrin mitunter bei Roger Federer, der sie nach den Olympischen Spielen zum Mittagessen eingeladen hatte. «Er meinte, ich solle meine künftigen Erfolge intensiver geniessen. Und nicht gleich wieder an das nächste Rennen oder Training denken. Er legte mir nahe, auch mal einen Stopp einzulegen und durchzuatmen», so die vielbeschäftigte Allrounderin.
Den Tipp nahm Shiffrin mit in diesen Winter. «Ich denke oft an unser Gespräch. Ich bin in dieser Saison glücklicher und lasse Rückschläge nicht mehr so stark an mich heran.» Elf Saisonsiege und WM-Silber im Super-G sprangen seither heraus.