Von Hausmodell bis HellfireSo präzise planten US-Geheimdienste den Angriff auf Terrorfürst al-Sawahiri
AP / tchs
2.8.2022
Al-Kaida-Chef al-Sawahiri bei US-Drohnenangriff getötet
Er war einer der Drahtzieher von 9/11 und einer der meistgesuchten Terroristen der Welt: Die USA haben bei einem Drohnenangriff in der afghanischen Hauptstadt Kabul Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri getötet.
02.08.2022
Seine Vorliebe für einen Balkon in seinem Unterschlupf wurde dem Al-Kaida-Anführer zum Verhängnis. Für die Vorbereitung des Angriffs brauchten die Geheimdienste Monate.
AP / tchs
02.08.2022, 23:55
03.08.2022, 04:07
AP / tchs
Bei Tagesanbruch in Kabul setzten zwei von einer US-Drohne abgefeuerte Hellfire-Raketen dem Leben von Al-Kaida-Anführer Aiman al-Sawahiri ein Ende, nach einem Jahrzehnt an der Spitze des Terrornetzwerks. Die waghalsige Antiterroroperation war über viele Monate vorbereitet worden.
Geheimdienstmitarbeiter hatten eigens ein Modell des geheimen Unterschlupfs gebaut, in dem Al-Sawahiri geortet worden war, und es US-Präsident Joe Biden im Lageraum des Weissen Hauses präsentiert. Sie wussten, dass Al-Sawahiri gern auf dem Balkon seines Zufluchtsorts sass. Sie hatten penibel seine täglichen Routinen nachvollzogen. Und sie waren sicher, dass er sich auf dem Balkon aufhielt, als die Raketen unterwegs waren, wie aus Geheimdienstkreisen verlautete.
Biden lobt seine Vorgänger
Jahrelange Bemühungen von US-Geheimdiensten unter vier Präsidenten, Al-Sawahiri und seine Gefährten aufzuspüren, hätten sich in diesem Jahr ausgezahlt, sagte Biden: Die langjährige Nummer zwei von Osama bin Laden und dessen späterer Nachfolger wurde in einem Haus in Kabul ausfindig gemacht. Bin Laden wurde im Mai 2011 von einem US-Sondereinsatzkommando vor Ort im pakistanischen Abbottabad getötet, Al-Sawahiri wurde aus der Ferne ins Visier genommen. Um 6.18 Uhr Ortszeit am Sonntag trafen die Raketen in Kabul ihr Ziel.
Nach der erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und dem Abzug der US-Truppen im August vergangenen Jahres hatte Al-Sawahiris Familie mit Unterstützung des Hakkani-Netzwerks der Taliban das Wohnhaus bezogen. Dabei hatte die fast 20-jährige US-Präsenz in Afghanistan gerade unter anderem zum Ziel gehabt zu verhindern, dass Al-Kaida in dem Land wieder Fuss fasst.
Sorgfältig geplanter Schritt
Hinweise auf Al-Sawahiris Aufenthaltsort waren für die USA allerdings nur ein erster Schritt. Seine Identität zu bestätigen und die Ausarbeitung eines Angriffs in einer dicht besiedelten Stadt wie Kabul, bei dem keine Zivilisten gefährdet würden, nahmen Monate in Anspruch. Zudem musste sichergestellt werden, dass die Operation keine anderen wichtigen Ziele der USA gefährden würde. Dazu waren viel Feinarbeit und Absprachen unter unterschiedlichen Expertenteams nötig.
«Klar und überzeugend», nannte Biden schliesslich die Beweise. «Ich habe den Präzisionsangriff genehmigt, der ihn ein für alle Mal vom Schlachtfeld beseitigen würde.» Der Schritt sei sorgfältig geplant gewesen, um das Risiko für «andere Zivilisten» zu minimieren. Vor einem Jahr hatte eine Fehleinschätzung verheerende Folgen gehabt: Während des chaotischen Abzugs der Nato-Truppen kamen bei einem US-Drohnenangriff zehn Mitglieder einer unbeteiligten Familie ums Leben, sieben von ihnen Kinder.
Biden habe einen «massgeschneiderten Luftangriff» befohlen, hiess es, damit die beiden Raketen nur den Balkon des Unterschlupfs zerstörten, in dem sich der Terroristenführer seit Monaten aufhielt. Andere Bewohner des Gebäudes sollten nicht getroffen werden.
Der Balkon wurde al-Sawahiri zum Verhängnis
Al-Sawahiri sei bei zahlreichen Gelegenheiten über längere Zeiträume hinweg auf dem Balkon ausgemacht worden, sagte ein ranghoher Regierungsmitarbeiter, der nicht genannt werden wollte. Den Erkenntnissen hätten zahlreiche Geheimdienstinformationen zugrunde gelegen. Alle Zweifel an seiner Präsenz seien letztlich ausgeräumt worden.
Im April wurden Biden und der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan erstmals über die Erkenntnisse informiert. Im Mai und Juni arbeitete ein kleiner Kreis von Regierungsmitarbeitern daran, die Erkenntnisse zu überprüfen und Optionen für Biden zu entwickeln.
Am 1. Juli, nach seiner Rückkehr von einer fünftägigen Europareise, wurde Biden im Lageraum von seinen Sicherheitsberatern von der Möglichkeit eines Angriffs in Kenntnis gesetzt. Bei diesem Treffen habe Biden das Modell des Unterschlupfs in Augenschein genommen und seine Berater, darunter CIA-Direktor William Burns und andere ranghohe Geheimdienstbeamte, mit Fragen gelöchert, sagte der Regierungsmitarbeiter weiter. Biden habe auch auf das Risiko für den US-Bürger Mark Frerichs hingewiesen, der seit mehr als zwei Jahren von den Taliban gefangen gehalten wird, und für Afghanen, die die US-Truppen unterstützten und sich noch im Land befinden.
US-Anwälte: Al-Kaida-Chef ist legitimes Ziel
US-Anwälte hätten auch die Rechtmässigkeit des Angriffs überprüft. Sie seien zu dem Schluss gekommen, dass er als Anführer der Terrorgruppe und Unterstützer von Al-Kaida-Angriffen ein legitimes Ziel sei. Al-Sawahiri habe Al-Kaida so geführt, dass ihm das auch aus relativer Abgeschiedenheit möglich gewesen sei. Unter anderem seien in dem Haus auch Videos gedreht worden - manche könnten wohl auch noch nach seinem Tod veröffentlich werden.
Am 25. Juli, als sich Biden wegen einer Corona-Infektion im Weissen Haus isoliert hatte, gab es eine letzte Lagebesprechung zu dem Thema mit seinem Team. Jeder der Teilnehmenden habe sich nachdrücklich für eine Genehmigung des Einsatzes ausgesprochen, sagte der Regierungsbeamte. Vor elf Jahren hatte Biden nach den Memoiren des damaligen Präsidenten Barack Obama als dessen Vize noch von der dann dennoch ausgeführten Kommandoaktion gegen Bin Laden abgeraten. Nun aber habe Biden grünes Licht für den Einsatz gegeben, sobald sich eine Gelegenheit ergebe.
Die Gelegenheit kam am frühen Sonntag, kurz nachdem sich Biden wegen eines frischen positiven Coronatests erneut in Isolation begeben hatte. Er sei informiert worden, als die Operation begann und als sie beendet war, sagte der Regierungsmitarbeiter.
Was verbergen die Taliban?
Weitere 36 Stunden werteten die Geheimdienste das Geschehen aus, bevor von der Regierung erste Informationen über die Tötung Al-Sawahiris weitergegeben wurden. Das Hakkani-Netzwerk beschränkte den Zugang zu dem Unterschlupf und brachte die Familie des Getöteten an einen anderen Ort. US-Vertreter interpretierten das dahingehend, dass die Taliban zu verbergen versuchten, dass sie Al-Sawahiri Unterschlupf gewährt hatten.
Wo die Drohne mit den Raketen startete und ob Länder, die dabei überflogen wurden, davon wussten, war nicht bekannt. Vor elf Monaten hatte Biden gesagt, die USA würden den Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan und anderen Ländern fortsetzen, trotz des Truppenabzugs. «Wir müssen einfach keinen Krieg auf dem Boden führen, um das zu tun», sagte er. «Wir haben sogenannte überhorizontale Fähigkeiten.» Am Sonntag kamen die Raketen über den Horizont.
Taliban verurteilt Drohnen-Angriff
In einer Erklärung verurteilte die Taliban-Führung in Afghanistan den Drohnenangriff, bei dem laut US-Angaben Al-Sawahiri am Sonntag umkam. Die Attacke sei ein klarer Verstoß gegen internationale Prinzipien und das Doha-Abkommen, hieß es mit Blick auf den Pakt zwischen den USA und den Taliban, der zum Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan führte.
«Solche Aktionen stellen eine Wiederholung fehlgeschlagener Erfahrungen in den vergangenen 20 Jahren dar und laufen den Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika, Afghanistans und der Region zuwider», erklärten die Taliban.