Nach der Tour de France ist vor der WM. Die Schweiz weiss mit Marc Hirschi, Stefan Küng und Marlen Reusser bei den Titelkämpfen in Imola gleich drei Medaillenkandidaten in ihren Reihen.
Besonders gespannt darf man aus Schweizer Sicht auf den WM-Auftritt von Marc Hirschi im Strassenrennen am Sonntag sein. Der U23-Welt- und Europameister von 2018 hat an der Tour de France eindrücklich bewiesen, dass er mit der Weltspitze mithalten kann. Mit je einem Etappensieg, 2. und 3. Rang hat der Berner in den letzten drei Wochen in Frankreich reichlich Selbstvertrauen getankt. Als Lohn für seine starken Vorstellungen durfte er am vergangenen Sonntag bei der Ankunft in Paris die Auszeichnung als «Super Combatif», als kämpferischster Fahrer der Rundfahrt, entgegennehmen.
Mit 22 Jahren ist Hirschi zwar mit Abstand der Jüngste in der sechsköpfigen Schweizer WM-Equipe. Dennoch wird er das Strassenrennen vom Sonntag als Leader in Angriff nehmen. Ihm zur Seite steht mit Michael Albasini (39), Enrico Gasparotto (38), Michael Schär (33), Silvan Dillier (30) und Simon Pellaud (27) eine Handvoll Routiniers. Sie alle haben Nationaltrainer Marcello Albasini ohne zu zögern versichert, sich voll in die Dienste von Hirschi zu stellen. «Das Ziel ist es, unseren Favoriten möglichst gut über die Distanz zu bringen, damit er im Finale seine Karten ausspielen kann», soweit der Plan von Nationaltrainer Albasini.
Tour-Strapazen verdaut?
Vom Profil her ist das WM-Rennen auf Hirschis Qualitäten zugeschnitten. Die 258,2 km mit fast 5'000 Höhenmetern ist etwas für Classique-Jäger. Auf den neun Runden müssen die Fahrer jeweils zwei kurze, aber heftige Anstiegen bewältigen – ganz nach dem Geschmack von Hirschi.
Der Sunweb-Profi wird in Imola allerdings nicht mehr unter dem Radar fliegen. Diesen Vorteil ist er los. Die Konkurrenz weiss mittlerweile um seine Stärken und wird ihn genau beobachten. Die Frage ist auch, wie der Tour-Debütant die Strapazen seiner ersten dreiwöchigen Rundfahrt verdaut hat und ob ihn die am letzten Donnerstag erlittenen Sturzverletzungen beeinträchtigen.
Jedenfalls ist ein Jahr nach dem Gewinn der Bronzemedaille von Stefan Küng im WM-Strassenrennen in Yorkshire ein neuerlicher Podestplatz für das Schweizer Team ein realistisches Ziel. Der letzte Schweizer, der das begehrte Regenbogentrikot des Strassen-Weltmeisters ergattern konnte, war im Jahr 1998 Oscar Camenzind.
Küng und Reusser mit Chancen im Zeitfahren
Im Gegensatz zu Hirschi ist Küng frühzeitig aus der Tour de France ausgestiegen, um vor dem WM-Zeitfahren am Freitag mehr Erholungszeit zu haben. Der Thurgauer konzentriert sich in diesem Jahr bei den Titelkämpfen in Italien vollends auf seine eigentliche Paradedisziplin. Als Europameister gehört Küng auf dem flachen Parcours mit bloss 200 Höhenmetern verteilt auf 31,7 km zum Kreis der Favoriten.
Dies gilt auch für Marlen Reusser bei den Frauen. Die Bernerin, die an der EM vor einem Monat im Zeitfahren Bronze gewann, will zum WM-Auftakt am Donnerstag ihren 6. Rang aus dem Vorjahr toppen. Die grösste Konkurrenz in der Prüfung im Kampf gegen die Uhr kommt aus dem Lager der starken Niederländerinnen. Albasini rechnet sich sowohl für Reusser wie auch für Küng «reelle Chancen» auf eine Medaille aus.
Imola statt Heim-WM
Dass in diesem Jahr überhaupt noch WM-Medaillen vergeben werden, ist alles andere als selbstverständlich. Die Titelkämpfe 2020 standen von Anfang an unter einem schlechten Stern. Nach dem finanziell bedingten Rückzug der norditalienischen Stadt Vicenza musste sich der Weltverband UCI 2018 auf die Suche nach einem Ersatzort machen. Aigle/Martigny sprang ein, doch die Coronapandemie verunmöglichte eine WM auf Schweizer Strassen. Vor sechs Wochen warfen die Westschweizer Organisatoren das Handtuch. Der Entscheid des Bundesrates, das Verbot von Veranstaltung mit mehr als 1'000 Personen bis Ende September zu verlängern, liess keinen anderen Schluss zu.
Vor drei Wochen bestimmte die UCI schliesslich Imola als neuen WM-Ausrichter. Die Stadt in der norditalienischen Region Emilia-Romagna, nun quasi Ersatz vom Ersatzaustragungsort, beheimatete schon 1968 eine Rad-WM und war in jüngster Vergangenheit mehrere Male Etappenort des Giro d'Italia. Das Autodromo Enzo e Dino Ferrari, eine Motorsport-Strecke, die Ende Oktober zum ersten Mal seit 2006 auch wieder Schauplatz eines Formel-1-Rennens sein wird, bietet die optimale Infrastruktur, um den Hygiene- und Schutzmassnahmen in Zeiten von Corona gerecht zu werden.
Statt an acht findet die WM in diesem Jahr mit gekürztem Programm jedoch nur an vier Tagen statt. Die Wettkämpfe der Junioren- und U23-Kategorie fallen ebenso ins Wasser, wie das Mixed-Team-Zeitfahren. Nationaltrainer Albasini bedauert diesen Entscheid, «weil wir uns gerade in diesen Disziplinen gute Medaillenchancen ausgerechnet haben».