Ariella Kaeslin Kaeslin: «Ich habe jeden Tag gehört, wie dick und dumm ich sei – es herrschte Psychoterror»

SB10

10.12.2020

Ariella Kaeslin hat in ihrer sportlichen Karriere viele Schattenseiten kennengelernt.
Ariella Kaeslin hat in ihrer sportlichen Karriere viele Schattenseiten kennengelernt.
Bild: Keystone

Die frühere Kunstturnerin Ariella Kaeslin erläutert in einem Interview, was im Kunstturnen schieflief und was nun passieren muss, damit sich die Vorkommnisse nicht wiederholen.

Am Sonntag ab 20:05 Uhr gehen die «Sports Awards 2020» über die Bühne. In der Livesendung auf SRF 1 werden die besten Sportlerinnen und Sportler der vergangenen 70 Jahre gesucht. Unter den Nominierten (je sechs Frauen und Männer) befindet sich auch Ariella Kaeslin.

Zwischen 2008 und 2010 wurde die Kunstturnerin gleich dreimal in Folge zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt. Dieses Kunststück schaffte in der Geschichte der «Sports Awards» keine andere Frau. Mit ihren Erfolgen wurde die Luzernerin zur Wegbereiterin einer «goldenen» Generation des Schweizerischen Turnverbandes.



«Ich habe jeden Tag gehört, wie dick und dumm ich sei»

Doch die junge Sportlerin bezahlte für ihre Titel einen hohen Preis. Zusammen mit anderen ehemaligen Kunstturnerinnen ging sie jüngst an die Öffentlichkeit und deckte auf, was beim Schweizerischen Turnverband (STV) in ihrer Aktivzeit hinter den Kulissen alles ablief. Die massiven Vorwürfe waren schockierend und rüttelten viele auf – auch die Politik.

Mit Urs Leuthard beleuchtet Kaeslin in einem Gespräch auf SRF, wieso junge Menschen im Kunstturnen derartige Zustände erleben mussten. «Ein wichtiger Faktor ist, dass es eine Kindersportart ist. Ein 12-jähriges Mädchen oder ein Junge kann noch nicht differenzieren, ob das ein adäquater, respektvoller Umgang ist, und wenn nicht, was das für Konsequenzen haben kann. Ich habe jeden Tag gehört, wie dick und dumm ich sei. Ich dachte, das ist so in diesem Sport, und ich hatte mich fast schon daran gewöhnt. Ich konnte die Konsequenzen noch nicht abschätzen», meint sie. So habe sie eine Essstörung entwickelt, die sie auch nach ihrem Karriereende verfolgt habe.



2011 trat Kaeslin im Alter von 23 Jahren infolge einer Erschöpfungsdepression überraschend vom Spitzensport zurück. Drei Monate zuvor war sie noch EM-Dritte geworden. 2015 schrieb sie ein Buch, worin sie die erniedrigenden Trainingsmethoden anprangerte und meint über die schwierige Zeit nach dem Rücktritt: «Wenn ich einen Knopf hätte drücken können und dann tot gewesen wäre, hätte ich ihn gedrückt.»

Zwar durfte Ariella Kaeslin auch bei den Olympischen Spielen teilnehmen, doch hinter der Fassade war nicht immer alles goldig.
Zwar durfte Ariella Kaeslin auch bei den Olympischen Spielen teilnehmen, doch hinter der Fassade war nicht immer alles goldig.
Bild: Keystone

Verbesserungsbedarf vorhanden – Widerstände überwunden

Die Erlebnisse in Magglingen hätten sicher zu ihren Suizidgedanken beigetragen: «Diese destruktiven Denk- und Handlungsmuster, die mir damals als Kunstturnerin in der Pubertät eingetrichtert wurden, haben sicher dazu geführt, dass ich so weit kam.» Zudem habe sie mit dem Rücktritt ihre ganze Identität als Kunstturnerin verloren.

Rückblickend hält sie über ihre Zeit als Profi-Turnerin fest: «Es wurde ein permanenter Psychoterror betrieben. Wenn man sich wehren wollte, kam es immer wieder auf mich als Athletin zurück. Als Athletin hast du schnell gemerkt: Ich sage am besten nichts, weil man sonst sanktioniert wird. Du wirst aus dem Kader geworfen oder im Training bestraft.»



Durch die jüngsten Ereignisse sieht sie immerhin ein Silberstreifen am Horizont – es brauche aber noch einen allgemeinen Kulturwandel an den betreffenden Stellen. Die Schaffung einer neuen unabhängigen Meldestelle für Opfer von Missständen im Sport wäre ein wichtiger Schritt für sie auf dem Weg dazu. (Anm. d. Red.: dieses Anliegen wurde diese Woche von einer grossen Mehrheit des Parlaments begrüsst).

Heute hat die 33-Jährige wieder festen Boden unter den Füssen. «Mir geht es sehr gut, ich bin im Physiotherapie-Studium und stehe wieder voll im Leben. Ich suche sicher noch ein wenig meine Identität, aber ich bin glücklich, und der Sport ist immer noch ein sehr grosser Teil meines Lebens.»

Brauchen Sie Hilfe? Hier können Sie reden.

Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da.

Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefon 143, www.143.ch

Beratungstelefon Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefon 147, www.147.ch

Weitere Adressen und Informationen: www.reden-kann-retten.ch

Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben:

Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: www.verein-refugium.ch

Nebelmeer – Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils: www.nebelmeer.net

Zurück zur StartseiteZurück zum Sport